Predigt in der Deutschen Evangelischen Kirche in Kairo anlässlich des 150. Jubiläums der Gemeinde

Petra Bosse-Huber

„Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wir ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: "Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne." (Jesaja 58,7-12)
 
 
Liebe Festgemeinde,
 
mit dem Propheten Jesaja haben Sie heute einen prominenten Festprediger zu Gast in Ihrem Jubiläumsgottesdienst. Einen kraftvolleren Redner hätten Sie sich zu Ihrem 150. Geburtstag kaum einladen können!
 
Dieser großartige Gemeinschaftsprophet blickt nicht zu allererst zurück auf die Vergangenheit, wie wir es so gerne und liebevoll anlässlich besonderer Jahrestage und Jubiläen tun, sondern malt Ihnen, liebe Festgemeinde, stattdessen ein schillerndes Zukunftsbild vor Augen.
 
Lassen Sie mich einige der poetischen Worte des dritten Jesaja noch einmal zitieren, mit denen er die Zukunft ausmalt:

„Dein Licht wird hervorbrechen wie die Morgenröte… Dein Licht wird aufgehen in der Finsternis und dein Dunkel wie der Mittag sein.“ Man merkt, dass Jesaja vor zweieinhalbtausend Jahren in etwa der gleichen Weltgegend irgendwo zwischen Bagdad und Jerusalem zu Hause war, wo Sie, liebe Gemeinde, heute leben. Ja, angesichts des gleißenden Mittagslichtes in diesen Breitengraden hat die Dunkelheit tatsächlich keine Chance mehr. Geradezu allmächtig bannt dieses mächtige Sonnenlicht die Finsternis.

Auch sein wunderbares nächstes Bild versteht man hier in Kairo vermutlich viel elementarer als im regnerischen Westeuropa: „Und du wirst sein wir ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“ Schönheit, Üppigkeit und Lebensqualität atmet dieses Bild vom Garten. Die Erinnerung an den Garten Eden und die Begeisterung des Schöpfers für alles Lebendige, nicht zuletzt für seine bunte Menschheit, werden hier wach.
 
Allerdings verbindet dieser unvergessene Gerechtigkeitsprophet seine Zukunftsvision auch auf eine sehr nüchterne und nachdrückliche Weise mit der Gegenwart. Jesaja ist kein religiöser Spinner, der sich an den eigenen Worten berauscht und möglichst viel abstrakten Sicherheitsabstand zur gesellschaftlichen Wirklichkeit hält. Dieser Mann steht mit beiden Beinen auf dieser manchmal wenig idyllischen Erde.
 
Jesaja gehört zu den seltenen, aber umso beeindruckenderen Rednern, die einen unerbittlichen Realismus mit einer großen visionären Gabe verbinden. Vielleicht so, wie das Martin Luther King oder Nelson Mandela gegeben war: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn.“

Für Jesaja ist es glasklar, dass es ohne Gerechtigkeit keinen sozialen Frieden geben kann und wird. Weder im Kleinen noch im Großen. Weder in meiner Familie noch in der Weltgemeinschaft. Weder hier in Ägypten noch in der Bundesrepublik Deutschland. Auch vor 2500 Jahren war es für jeden aufmerksamen Zeitgenossen erfahrbar, dass keine Gemeinschaft zukunftsfähig ist, die nicht bereit ist, immer wieder aufs Neue das Teilen und den sozialen Ausgleich zu lernen.
 
Es ist eine sehr persönliche Frage, die Jesaja formuliert. Eine Frage nach der eigenen Spiritualität und dem eigenen Lebensstil: Wie halte ich persönlich es mit den Bedürftigen? Mit denen, die weder ausreichend Brot noch Schutz noch Lebensmöglichkeiten haben? Denen die elementarsten Lebensrechte vorenthalten werden? Können Sie auf meine Hilfe und Solidarität rechnen?
 
Ich war in den vergangenen Tagen beim Weltkirchenrat in Genf zu einer Konferenz. Spät abends im Bett habe ich dann in Ihrer beeindruckenden und umfassenden Kairener Gemeindegeschichte aus dem Jahr 2012 gelesen. Das hatte dann zur Folge, dass ich mich erst viel zu spät von dieser spannenden Lektüre losreißen konnte und die sowieso schon kurzen Nächte noch etwas kürzer wurden. Mich haben besonders die Geschichten der Kaiserswerther Diakonissen fasziniert, weil ich einige Jahre in Kaiserswerth in der Kirchengemeinde tätig war.

Die vielen persönlichen, historischen und geistlichen Beiträge in diesem dicken Buch erzählen vom Engagement vieler Menschen hier in Kairo. Menschen, die mit oder in der Deutschen Evangelischen Gemeinde ihren Glauben während der letzten 150 Jahre gelebt haben. Es sind Geschichten von großartigen und ermutigenden Menschen, manchmal aber auch von bitteren Irrtümern und Schuld. Unzählige Kirchenmitglieder und Pfarrer, Kirchenvorstände und Lehrer, Ehrenamtliche und Diakonissen, Kirchenmusiker und politisch Verantwortliche  haben mit ihren begrenzten Kräften dem Hunger und der Obdachlosigkeit, der Krankheit und der Armut, der mangelnden Bildung und der Ausbeutung etwas entgegen gesetzt. Sie haben, in Bewegung gesetzt von den biblischen Verheißungen, einzelnen Menschen hier in Kairo und in Ägypten, hier in der Gemeinde und darüber hinaus diese Erfahrung vom Licht mitten in der Dunkelheit, von Schutz und Obdach in aller Unbehaustheit, von Bildung, Fürsorge und medizinischer Betreuung ermöglicht.
 
Von großen Bemühungen, manchmal auch von schmerzlichem Scheitern, wüssten auch viele von Ihnen hier, liebe Gemeinde, heute zu erzählen. Es wäre schön, wenn wir heute Morgen diese vermutlich sehr persönlichen Lebens- und Glaubensgeschichten miteinander teilen könnten. Denn sie machen diese vergangenen 150 Jahre für uns lebendig und zu einem Anlass großer Dankbarkeit. Sie lassen uns die Spur von Liebe und Engagement durch die Zeiten verfolgen.

Wie gut, dass es Sie alle gibt, die Sie der Spur von Liebe und Gerechtigkeit, der Spur der Propheten und der Spur Jesu Christi hier in Kairo, hier in der Deutschen Evangelischen Kirche folgen. Sei es in einem mehr persönlichen oder privaten Engagement, sei es in der gemeinsamen kirchlichen Arbeit, die etwa in der Zusammenarbeit mit den St. Andrew´s Services, der Äthiopischen Gemeinde oder der Äthiopisch-Eritäischen Gemeinde ihren sichtbaren Ausdruck findet.
 
Gerade diese internationale Verbundenheit Ihrer Gemeinde und Ihr persönliches Leben in einer so lebendigen, aber auch aufreibenden Stadt wie Kairo, lässt mich noch einmal bei den Jesajaworten innehalten. Es sind nicht nur die drei Gruppen der Hungrigen, Elenden und Nackten, auf die der Prophet unser Augenmerk richtet, sondern Jesaja ergänzt dann noch: “…entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut.“ Was meint er damit? Ich möchte seine hebräischen Worte so übersetzen: „Entzieh dich nicht deinem Nächsten, deiner Nachbarin oder deinem Kollegen, denn er besteht aus Fleisch und Blut wie du.“

Israel lebte zu Jesajas Zeiten im Exil, so dass mit Nachbarinnen und Zeitgenossen nicht nur das Ghetto der kleinen hebräischen Gemeinde gemeint gewesen sein kann,  sondern alle die vielen anderen babylonischen Mitbürger aus Moab oder Edom, aus Kanaan oder Samarien. Hier wird der andere, auch der mir vielleicht sehr Fremde als ein Mensch geachtet, dessen Würde in Gott selbst verankert ist. Auch hier blitzt noch einmal die Erinnerung an den Garten Eden auf. Und dank dieser Würde, ein Geschöpf Gottes zu sein, wird multikulturelles und multireligiöses Zusammenleben in der antiken wie in der modernen Gesellschaft friedlich und lebendig möglich. Das ist die sehr klare biblische Perspektive.
 
Für mich klingt diese Botschaft extrem aktuell: Sucht den materiellen Ausgleich und die Verbundenheit mit allen Menschen. Egal welcher Religion oder Kultur sie auch angehören mögen. Grenzt nicht aus und redet nicht schlecht über andere. Setzt ausgrenzender medialer Propaganda im persönlichen Gespräch und im öffentlichen Diskurs etwas entgegen. Setzt auf die Kräfte des Lichts, zu denen immer auch Bildung und Aufklärung, Gespräch und Verständigung gehören. Traut der Macht von Versöhnung und Ausgleich, auch wenn das manchmal anstrengende und steinige Wege sein mögen. Wenn ihr so zu leben versucht, dann werdet ihr auch in den finstersten Zeiten Gottes Licht sehen und selbst neue Hoffnung schöpfen können.
 
Vielleicht verstehen Sie, liebe Gemeinde, hier in Kairo, besser als viele andere, wie außerordentlich anspruchsvoll und gleichzeitig vibrierend hoffnungsgeladen diese Worte des Propheten für seine Leute in einer politischen und gesellschaftlichen Umbruchsphase geklungen haben müssen. Nach 50 Jahren Exil schien sich die Zukunft unter dem Perserkönig Kyros für die Israeliten zu öffnen, aber statt Frieden und Gerechtigkeit hielten Armut und Elend, Gewalt und Unrecht wieder einmal ihren Einzug in die Gesellschaft.
 
Viele von Ihnen kennen diese Spannung zwischen Furcht und Hoffnung, zwischen Festhaltenwollen und Aufbrechen. Vielleicht sind Sie persönlich oder familiär in solch einer Umbruchsphase, vielleicht denken Sie aber auch an die beiden Revolutionen der letzten drei Jahre zurück und sehnen sich nach Ruhe und Sicherheit, nach wirtschaftlichem Wachstum und einer guten, verläßlichen Regierung für Ägypten.
 
Vielleicht nehmen Sie als Geburtstagsgeschenk des Jesaja zum 150. Geburtstag, liebe Gemeinde, die sehr persönliche Zusage mit, dass Gottes Frieden und Gerechtigkeit in diese Welt keinen anderen Weg nehmen will, als den, der über Ihr und mein Herz führt. Gott meint zuerst und zuletzt jeden von uns persönlich. Ihn interessiert, wie es uns geht. Sein göttliches Kardiogramm ist für uns lebenswichtig: Gott befragt uns, ob unser Herz erkaltet, abgehärmt und erstarrt ist. Oder ob es lebendig, mitfühlend und damit fähig zum Glück wird. Ob wir unserem Herzen erlauben, dass es heilen kann, oder ob wir uns von altem Schmerz und Trauer nicht trennen können und daran zugrunde gehen.

Jesaja sagt es mit den Worten: „Wenn du den Hungrigen dein Herz finden lässt … dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dich  stärken.“

Manchmal heilen unsere Herzen erst, wenn wir unsere Einsamkeit hinter uns lassen und für andere da sind. Manchmal hält das Glück erst Einzug, wenn wir beginnen, andere zu stärken und zu ermutigen. Manchmal wird der eigene Lebensdurst erst gelöscht, wenn wir den Lebensdurst anderer Menschen wahrnehmen.
 
Ich wünsche der Deutschen Evangelischen Kirche in Kairo, dass sie auch in den kommenden Jahren für viele junge und alte Menschen „ein bewässerter Garten und … eine Wasserquelle“ sein möge, „der es nie an Wasser fehlt“. Ein Ort, an dem Menschen mit einem mitfühlenden Herzen für sich selbst Heimat finden und für andere zur Heimat werden.
 
Möge diese Gemeinde aber auch ein Raum der lebendigen Gebete sein. Wo Sie als Betende für Ihr eigenes Leben erfahren, was Jesaja so schildert: „Dann wirst du rufen, und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.“ Egal wie groß und manchmal auch unsichtbar Ihr Leid auch sein mag, Gott sieht es. Egal, ob Ihr Schrei im Gebet lautlos oder brüllend vor Schmerz daher kommt, Gott hört ihn. Und er sagt ihnen: „Siehe, hier bin ich.“ Du bist nicht allein.
 
Ich weiß, dass viele Ihrer Gebete, liebe Gemeinde, dabei auch dem Land und der Gesellschaft gelten, in der Sie leben. Sie sollen wissen, dass es viele Menschen sind, die mit Ihnen gemeinsam für ein friedliches, demokratisches und pluralistisches Ägypten beten und sich dafür einsetzen. Viele verbinden sich mit Ihren Gebeten hier in der Gemeinde und stärken den ägyptischen Friedensstiftenden und Gerechtigkeitsdürstenden aus allen Religionen so den Rücken. Diese vielen Beterinnen und Beter wollen nicht zulassen, dass der Riss, der durch unsere Welt geht, immer größer wird. Eine Spaltung, die nur noch Schwarz und Weiß, die Achse des Guten und die Achse des Bösen kennt. Die allzu oft die Menschenrechte außer Kraft setzt, weil sie vermeintlich nur für die eigenen Leute gelten und nicht mehr für die anderen.
 
Ja, dieses Land und unsere ganze Welt brauchen unser weltumspannendes ökumenisches Gebet, damit für Kairo und für Ägypten das wahr wird, was Jesaja in einer anderen Zeit und für einen anderen Ort mit den kraftvollen Worten verheißen hat:
 
„Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: "Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne."“
 
Wir danken Gott für alle Brückenbauer, die diese Gemeinde in den vergangenen 150 Jahren hervorgebracht hat und bitten ihn, dass dieser Gemeinde auch in Zukunft viele Brückenbauerinnen und Wegeerneuerer geschenkt werden mögen.
 
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.