Experten sorgen sich wegen HIV-Anstieg in Osteuropa

Internationale Tagung sieht Deutschland in Vorbildfunktion

Berlin (epd). Die Vereinten Nationen und mehrere Nichtregierungsorganisationen haben die Bundesregierung aufgefordert, sich in den Kampf gegen HIV und Aids in Osteuropa einzuschalten. Europa stehe heute vor einer größeren Herausforderung als Afrika, wenn es um die Bekämpfung von HIV und Aids gehe, sagte der stellvertretende Direktor des UN-Aidsprogramms (UNAIDS), Luiz Loures in Berlin. Dabei verwies er auf den enormen Anstieg der HIV-Neuinfektionen in Osteuropa und Zentralasien, insbesondere in Russland. Zwischen 2010 und 2016 stieg die Zahl in der Region um 60 Prozent auf rund 190.000 Neuinfektionen allein im vergangenen Jahr.

Deutschland habe eine Führungsrolle in der globalen Gesundheitspolitik, unterstrich Loures. Nationale Alleingänge und Abschottungen würden angesichts der Migrationsströme innerhalb Europas das Problem nicht eindämmen, sondern höchstens verstecken, sagte der Vizechef von UNAIDS zum Auftakt einer Konferenz zur HIV-Epidemie in Osteuropa.

Zu der von der Deutschen Aids-Hilfe, dem Aktionsbündnis gegen Aids und von „Brot für die Welt“ organisierten Tagung waren rund 80 Experten aus West- und Osteuropa zusammengekommen. Sie stand unter der Überschrift „HIV in Osteuropa - Die unbemerkte Epidemie?!“

Gegen den weltweiten Trend

Sylvia Urban, Vorstand beim Aktionsbündnis gegen Aids und der Deutschen Aids-Hilfe sagte, „wir erleben in der Region zurzeit eine Katastrophe“. In Russland, dem am stärksten betroffenen Land der Region, sei im vergangenen Jahr mit 103.000 Neuinfektionen die 100.000er Marke überschritten worden. Im Vergleich dazu lag die Zahl in Deutschland 2016 bei 3.200 HIV-Neuinfektionen.

Der Anstieg der Neuinfektionen und Aids-Todesfälle in Osteuropa und Zentralasien erfolge gegen den weltweiten Trend, unterstrich Urban. So sei weltweit die Zahl der Neuinfektionen seit 2000 um etwa ein Drittel zurückgegangen, die Zahl der Todesfälle habe sich seit 2005 halbiert. „Aids und das Sterben daran sind heute vermeidbar.“ Grund sei eine bessere Prävention, mehr Testprogramme und immer mehr Menschen, die eine HIV-Behandlung bekämen.

Risikogruppen müssen einbezogen werden

In Osteuropa hingegen würden diese Fortschritte nicht greifen, weil betroffene Menschen oft verfolgt und „marginalisiert“ würden. Zudem würden „Zivilgesellschaft und Selbsthilfe weitgehend lahmgelegt“, sagte Urban weiter. So sei Homosexualität stark tabuisiert, Drogenabhängige würden oft weder Ersatztherapien, noch saubere Spritzen erhalten. Informationen über „Safer Sex“ seien selten. Zudem würden internationale Hilfsgelder für ärmere Staaten zurückgehen. In Russland etwa müssten sich zivilgesellschaftliche Organisationen, die Zuwendungen aus dem Ausland erhalten, als „Auslandsagenten“ registrieren lassen.

Urban betonte, die Lehre aus 30 Jahren HIV und Aids sei, die Betroffenen „auf Augenhöhe“ in den Kampf miteinzubeziehen: Drogenkonsumierende Menschen, Schwule und Sexarbeiterinnen seien nicht das Problem, sondern Teil der Lösung. Die Bundesregierung müsse deshalb mehr tun, um die in Deutschland erzielten Erfolge auch den Ländern in Osteuropa zu ermöglichen. Dafür würden nicht nur humanitäre Gründe sprechen. „Die Situation wirkt sich laut Robert-Koch-Institut bereits auf das Infektionsgeschehen in Deutschland aus.“ Das liege nicht zuletzt an den immer mobiler werdenden Risikogruppen.

Vadim Pokrovsky, Leiter des Nationalen Aids-Zentrums Russlands, erklärte, Russland sei bei der Bekämpfung von HIV/Aids eine Schlüsselregion in Eurasien. Über seine Grenzen würden jährlich Migrationsprozesse von bis zu 20 Millionen Personen stattfinden. Weltweit lebten 2016 laut UNAIDS 36,7 Millionen Menschen mit HIV. In Osteuropa und Zentralasien waren es 1,6 Millionen HIV-Infizierte. Die Zahl der Neuinfektionen lag im vergangenen Jahr weltweit bei 1,8 Millionen. Eine Million Menschen starben in Folge von Aids.