CyberChurch? Kirche im Internet

Einleitung: Auf dem Weg zur digitalen Kirche?

CyberChurch? Kirche im Internet, hrsg. v. Wolfgang Nethöfel und Matthias Schnell, Frankfurt am Main 1998, S. 9-13.

Kurz nach der Wende zum 16. Jahrhundert, am Vorabend der Reformation, schuf der württembergische Künstler Jerg Ratgeb einen wunderbaren Altar für die Stiftskirche in Herrenberg. Dieser wurde und wird in der Kunstgeschichte oft mit dem "Isenheimer Altar" von Mathis Gothard Neithard und dem sogenannten "Bamberger Altar" von Veit Stoß verglichen. Immer wieder hat er Architekten, Künstler und Theologen inspiriert. Durch die verschiedenen Zeiten hindurch verlangte dieser Altar nach einer Neuinterpretation. Unterstützt von Universitäten, Instituten, Akademien, Filmgesellschaften und Stiftungen hat sich eine Projektgruppe aus Historikern, Künstlern, Architekten und Computerexperten zusammengefunden, um dieses in der Kunst, Architektur und Geistesgeschichte verankerte Kunstwerk mit verschiedenen Medien neu erlebbar zu machen(1).

Mit interaktiven Medien wird ein virtuell begehbarer Installationsraum inszeniert, der Bewegungs- und Handlungsfreiheit bietet. In dem simulierten Raum spielt die Geschichte der Stiftskirche zu Herrenberg mit dem Hochaltar des Jerg Ratgeb. Der Benutzer wird dabei zum Mitspieler einer Geschichte, die nicht nur vor seinen Augen wie auf einer entfernten Bühne oder Leinwand abläuft. Vielmehr geschieht sie um ihn herum, und er kann als Akteur eingreifen und mit anderen interagieren.

Auf diese Weise wird es möglich, den Herrenberger Altar ganz neu zu erfahren, in die Landschaft und die biblischen Geschichten einzutauchen. Noch bleibt dieses Erlebnis denjenigen vorbehalten, die sich direkt in der Nähe der Computer befinden, weil die Datenleitungen im Moment nicht ausreichen, um die gigantischen Datenmengen der virtuellen Bilder und Aktionen über Telefonleitungen zu übertragen. Noch basieren die meisten Internet-Angebote auf Zeichen und einfachen Grafiken, doch die Zeit, in der sich Abbilder von realen Menschen in einem imaginären Raum (z. B. in einer durch Computerbilder erzeugten Kirche) zum Gespräch oder Gottesdienst versammeln können, wird kommen, sobald die Datenleitungen über entsprechende Kapazitäten verfügen.

Aufbruch zu virtuellen Welten

Bereits jetzt haben sich die ersten "Cyber-Churches" gebildet, christliche Kirchen oder Kirchengemeinden, die es nur im Internet gibt. Es scheint der Tag nicht fern, an dem Menschen nur noch einer virtuellen Kirche oder Gemeinschaft an- gehören und nicht mehr physisch am Leben einer Ortsgemeinde teilnehmen. Der Gottesdienst wird dann in einen virtuellen Raum verlegt, bei dem die Teilnehmer und Teilnehmerinnen per Datenleitungen und Videokonferenz miteinander verbunden sind. Ansätze dazu gab es ja schon im Bereich der Tele-Evangelisationen von Billy Graham und anderen, nur daß der virtuelle Gottesdienst im Internet noch einmal eine ganz neue Qualität bekommt: interaktiv kann über das Internet in das Geschehen eingegriffen werden. Was in diesem Zusammenhang das biblische Wort "wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind" (Mt 18, 20) bedeutet, muß spätestens dann neu bedacht werden.

Wohin die technischen Entwicklungen letztlich führen, können wir heute noch nicht absehen. Dafür geht die Entwicklung einfach zu schnell voran. Keiner, der sich im Internet engagiert, kann für mehr als zwei Jahre im voraus planen. Das Medium wächst mit schwindelerregender Geschwindigkeit. Aber bereits heute zeichnet sich ab, daß uns die Umwälzungen durch die digitalen Medien und breitbandigen Kommunikationsmöglichkeiten wesentlich schneller erreichen als bei allen Medien zuvor. Sie verlangen von den gesellschaftlichen Institutionen und den Menschen eine hohe Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Mit WebTV, leistungsfähigen Kabelverbindungen und dem Verschmelzen der verschiedenen Medien wird das noch elitäre Internet dann auch den letzten Haushalt erreichen, nicht zuletzt aufgrund der kommerziellen Interessen und Hoffnungen, mit denen sich Industrie und Handel diese Technik zunutze machen.

Kirchen als vernetzte Organisationen

Mit dem Internet sind für die Kirchen weitere Herausforderungen verbunden, denn Kirche im Internet ist Kirche, die sich in besonderer Weise der Informations- und Kommunikationstechnik bedient. Sie muß sich nicht mehr bloß zurechtfinden im Weltmediendorf, sie holt sich die Globalisierungsprobleme und deren Lösung zugleich ins Haus. Sie wird verantwortlich, weil sie die Möglichkeiten hat, sich zu entscheiden. Dies geht über die Verpflichtung der Volkskirchen hinaus, als organisierte Traditionsgemeinschaft ihren Öffentlichkeitsauftrag wahrzunehmen, sich aus dem Netz zu informieren und über das Netz orientierend zu wirken. Das könnte dazu führen, daß die verfaßten Kirchen, diakonischen Einrichtungen und Gemeinden ihre Organisationsstrukturen "im Netz" radikal ändern müssen und können. Ihre Internet-Intranet-Struktur könnte dann auch entscheidenden Einfluß auf ihre wirtschaftliche Überlebensfähigkeit, ihre institutionelle Identität und auf ihre Glaubwürdigkeit haben. Ohne Zweifel müssen die Kirchen auf den Märkten der Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft bestehen - aber wie?

Ihre sozialethische Verantwortung nehmen Kirchen zunächst, ob sie wollen oder nicht, durch die Art wahr, wie sie als Großorganisationen diesen Prozeß bewältigen. Wer entscheidet? Wie werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einbezogen? Wie wird der Rationalisierungsschub durch die Telekommunikationsanwendungen bewältigt? Wird die Chance genutzt, Amt und Ehrenamt, Dienst- und Freizeitaktivität im Netz, Tele- und Heimarbeitsmöglichkeiten zu nutzen? Wie werden sich ökumenische Kontake, institutionelle Kooperationen, wie wird sich das Verhältnis zwischen den verfaßten Kirchen und ihren Werken in den Vernetzungsprioritäten niederschlagen? Welche neuen Produkte und Dienstleistungen werden entstehen - auf einem Markt, der kaum Transportkosten kennt, der aber (wie Diakonie und Caritas schon wissen und wie deren Vernetzungen schon zeigen) in jedem Fall ein weltweiter Markt sein wird? Zahlreiche gewohnte Kirchenstrukturen stehen dadurch in Frage: von der flächendeckenden Parochialstruktur über die Landeskirchen und Bistümer bis hin zur gewohnten nationalstaatlichen Organisation unserer großen Volkskirchen. Vernetzung ist nicht die Antwort. Aber ohne weltweit vernetzte Informationstechnologie gäbe es den Entscheidungsdruck nicht. Die künftigen Leitbilder von Kirche müssen zu ihrer Vernetzungsstruktur und -kultur passen.

Paradigmenwechel in der Kirche

Das Internet ist nur ein Zipfel der Informations- und Kommunikationsvernetzung. Mit ihm meldet sich ein Epochenwandel an, der für die Religionen eine ähnliche Bedeutung hat wie die Einführung der Schrift oder die Verbreitung des Buchdrucks. Wie die Sprache, so bleiben natürlich all die anderen Kommunikationsmittel erhalten, aber sie haben einen völlig anderen Stellenwert in einer schließlich ganz anderen Gesellschaft. Auch das neue Leitmedium Internet wird nicht die Botschaft sein, aber die Kirchen werden sich selbst und andere neu orientieren müssen. Das Internet zeigt schon jetzt, daß es wie immer Verluste und neue Chancen geben wird. Die lineare Heilsgeschichte der christlichen Tradition wird ebenso in Frage gestellt wie ihre säkularisierte Fortsetzung in der modernen Fortschritts- ideologie: in Frage gestellt durch ein flaches, horizontales, systemisches Weltbild. In diesem neuen Paradigma zu orientieren, ist die Aufgabe der Kirchen im neuen Jahrhundert.

Alle in den Netzen wissen es und tun es. Sie orientieren sich in Systemen, sie treten quer durch Zeiten und Räume miteinander in Beziehung, sie machen Unterschiede, sie schließen sich aus, sie tun sich zusammen, und sie vereinen sich. Sie suchen nach einem Sinn: für sich selbst, für alle zusammen, für das Ganze. Die christliche Traditionsgemeinschaft hat durch die Neuzeit hindurch Realitäts- und Wirkungsmodelle bewahrt, die nun eine neue Chance haben. Auf dem Hintergrund der christlichen Tradition ermöglichen Projekte wie die Simulation des Herrenberger Altarbildes christliche Erfahrungen durch neue Medien. Und weil das so ist, hat auch ihre Botschaft eine neue Chance, quer durch die Netze hindurch die Gesellschaft zu orientieren. Im Netz wohnt Gott nebenan, virtuell. "Mause"-Klick genügt.

Standortbestimmung kirchlicher Internetarbeit

Schaut man sich in den Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen um, so scheint es, als ob die Kirchen nur unzureichend für die medialen Veränderungen in unserer Gesellschaft gerüstet sind. Galt der Computer lange Zeit als "bessere Schreibmaschine", so entwickelt er sich mehr und mehr zu einem Kommunikationsinstrument und gewinnt durch die globale Vernetzung eine ganz neue Bedeutung. Wer vor zehn Jahren dachte, sich mit der Computertechnologie nicht selbst beschäftigen zu müssen (weil Schreibarbeit ja eine untergeordnete Tätigkeit sei) registriert heute, daß er ein wenig den Anschluß verpaßt hat. Wer noch nie mit einer "Maus" einen Computer bedient hat, dem fällt es heute schwer, Anschluß an die rasanten Entwicklungen im Computer- und Telekommunikationsbereich zu finden. Das betrifft Pädagogen genauso wie Journalisten, Wirtschaftslenker, Pfarrer und kirchliche Verwaltungsmitarbeiter. Andererseits gibt es eine nicht geringe Anzahl engagierter Menschen in den Kirchen, die das Internet als Informations- und Kommunikationsmedium für sich selbst und zur Verbreitung der christlichen Botschaft nutzen. Welche kirchlichen Initiativen aber gibt es im Internet? Was machen die Kirchen eigentlich dort? Gibt es Kommunikationsinitiativen, die für die Menschen da sind, die in diesem Medium eine virtuelle Heimat haben? Gibt es Seelsorge für die Menschen im Netz und wie funktioniert das? Wer macht sich Gedanken über kreative, dem Medium entsprechende Formen christlicher Verkündigung? Wie sehen die religionspädagogischen Konzepte für die Vermittlung des Glaubens im 21. Jahrhundert aus? Auf welchem Schreibtisch entstehen die theologischen Entwürfe einer neuen Internet-Homiletik, bieten doch die technischen Entwicklungen die Chance, "die Verkündigung des christlichen Glaubens und die Themen der Kirche in neuen Formen zu präsentieren und Programme für bestimmte Zielgruppen zu entwickeln"?(2)

Konsequent fordert darum das neue Publizistische Gesamtkonzept der EKD, "qualifizierte evangelische Angebote im Bereich von Multimedia und Internet zu entwickeln und zu fördern."(3) Information und Kommunikation, Seelsorge, Beratung und die Vermittlung von Bildung und Wissen werden als Ziele kirchlicher Internet-Arbeit benannt. Es wird auch betont, daß nicht die Übertragungstechniken die entscheidenden Herausforderungen sind, "sondern die Inhalte und der Umgang mit der Vielfalt."(4) Die Kirchen werden darum darauf achten müssen, daß sie in der Fülle der fast unendlichen Angebote auffindbar und mit eigenem Profil erkennbar bleiben. Außerdem dürfen sie nicht bloß Angebote für diejenigen entwickeln, die der Kirche ohnehin nahestehen: "Die Kirche sollte ihre publizistischen Aktivitäten über den engeren Kreis der kirchlich hoch Verbundenen hinaus deutlich verstärken und qualifizieren. Derzeit gibt es zu viele publizistische Produkte für ,Insider' und zu wenig Angebote für Menschen, die in Distanz zur Kirche stehen."(5)

Motiviert durch diese Zielvorgabe des Publizistischen Gesamtkonzepts der EKD dient dieser Sammelband der Bestandsaufnahme evangelischer Internet-Aktivitäten. Die Diskussionen, die hier dokumentiert sind, und die Internet-Aktivitäten, von denen hier berichtet wird, sind vorwärtsweisende Versuche aus dem Raum der evangelischen Kirche. Es kann sich angesichts der stürmischen Entwicklung im "Netz der Netze" immer nur um Werkstattberichte handeln. Aber im heutigen Bemühen, in einem neuen Medium präsent zu sein, handelt schon die Kirche der Zukunft im kommenden Leitmedium. Im ersten Teil des Buches versuchen die Autoren aus theologischer, ethischer und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive zu begründen, warum die Kirche auch in diesem Medium präsent sein sollte, was sie für die Menschen im Netz tun kann und soll, warum sie es auch selbst nutzen sollte und welche Auswirkungen das wiederum auf Theologie und Kirche selbst hat. Welche theologischen Konsequenzen ergeben sich daraus für die Ekklesiologie und die Gemeindetheologie? Wie werden sich Kirchen durch das Internet strukturell verändern? Auf welche theologischen Fragen müssen neue Antworten gesucht werden? Im zweiten Teil des Buches berichten "evangelische Onliner" aus ihrer täglichen Arbeit: von der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit über die Organisation von Internet-Projekten auf der Ebene der Landeskirchen und Gemeinden bis hin zu Seelsorge, Jugendarbeit und Kommunikationsinitiativen. Im Schlußkapitel wird dann der Stand der Internet-Aktivitäten in der evangelischen Kirche noch einmal kritisch zusammengefaßt.

Reicht das, was derzeit an Aktivitäten gestartet wurde, aus, um die digitale Revolution zu meistern? Ist das, was die Kirchen tun, auch das Richtige? Und tun sie das, was sie tun, auch richtig? Spannende Fragen, die nach der Lektüre der einzelnen Beiträge den Blick in die Zukunft öffnen. Ergänzt werden die Beiträge durch einen Serviceteil im Anhang: das Autorenverzeichnis, ein ausführliches Internet-Glossar, der HTML-Workshop und die CD-ROM mit christlichen Internet-Angeboten. Auf diese Weise bietet das Buch einen zusätzlichen Anreiz, sich das Thema "Kirche und Internet" auf kreative Weise anzueignen und vielleicht eigene Projekte in Angriff zu nehmen.

Autor: Dr. Matthias Schnell

Anmerkungen:

1 Wer sich ein Bild von dem umfangreichen Projekt in seinen verschiedenen Dimensionen machen will, findet die Informationen im World Wide Web unter www.architektur.uni-stuttgart.de:1200/labor/ lehre/ratgeb/Ratgeb.html.

2 So die Zielformulierung des publizistische Gesamtkonzept der EKD: in: "Mandat und Markt" Perspektiven evangelischer Publizistik, Publizistisches Gesamtkonzept 1997, hrsg. vom Kirchenamt der EKD, Frankfurt 1997, 84.

3 Ebd.

4 Ebd.

5 So lautet eine Empfehlung des Publizistischen Gesamtkonzepts der EKD, a.a.O, 25f.