Vortrag von Heinrich Bedford-Strohm am 30. Oktober 2021 in Wittenberg

Dem Volk aufs Maul schauen – dem Zeitgeist auf den Leim gehen? Die öffentliche Verantwortung von Glaubensrede!

1. Dem Volk aufs Maul schauen – dem Zeitgeist auf den Leim gehen?

„Dem Volk aufs Maul schauen – dem Zeitgeist auf den Leim gehen?“ Dass das Thema, das Sie mir für den heutigen Vortrag gegeben haben, mit einem Fragezeichen versehen ist, hat gute Gründe. Denn es zeigt die ganze Ambivalenz des Versuchs, die alten Traditionsbestände unseres evangelischen – und nun noch umfassender – unseres christlichen Glaubens für die heutige moderne Welt neu aufzuschließen. Dass Martin Luther dem Volk „aufs Maul schauen wollte“, zitieren wir heute zu Recht als Mahnung zu einer Sprache des Glaubens, die nicht nur Akademiker oder mit kirchlichen Milieus Vertraute verstehen, sondern alle Menschen, die ja alle miteinander verdienen, „einen einfachen Zugang zur Liebe Gottes“ zu bekommen wie wir das in unserem bayerischen Zukunftsprozess „Profil und Konzentration“ als oberstes Ziel formuliert haben.

Gleichzeitig ist klar, dass es dabei nie um das Nachbeten gängiger Vorurteile gehen darf, die zwar breit im Volk verwurzelt sein mögen, die aber nichts mit dem Evangelium zu tun haben oder ihm sogar diametral widersprechen. Martin Luthers Hetzreden gegen die Juden sind ein trauriges Beispiel dafür, wie er selbst „dem Zeitgeist auf den Leim gegangen“ ist, wie Sie es in meinem Titel formuliert haben. Ich habe im Reformationsjahr 2017 in der Frankfurter Paulskirche vor den versammelten Vertretern des Judentums meine Scham darüber zum Ausdruck gebracht und um Vergebung gebeten. Umso mehr war es mir eine Freude, am Mittwoch dieser Woche im Senatssaal der Humboldt-Universität die Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Karma Ben Johanan hören zu dürfen. Sie wurde als Jüdin und Israelin auf die Stiftungsprofessur für jüdisch-christliches Gespräch berufen, deren Errichtung ich damals in der Paulskirche als Zeichen unserer im Reformationsjubiläum noch einmal in aller Klarheit zum Ausdruck gebrachten Neubesinnung für die EKD angekündigt hatte.

„Dem Volk aufs Maul schauen“ ist also damals wie heute eine Gratwanderung. Rechtspopulistische Bewegungen können sich jedenfalls niemals im christlichen Sinne darauf berufen, denn die darin propagierte pauschale Abwertung ganzer Menschengruppen, die die Soziologie „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ nennt, steht im tiefen Widerspruch zu den Grundorientierungen, für die das Christentum steht. 

Immer wieder wird der evangelischen Kirche ein Nachlaufen hinter dem Zeitgeist vorgeworfen. Wie unsinnig ein solch pauschaler Vorwurf ist, zeigt schon der berühmte Prüfauftrag des Paulus aus 1.Thessalonicher 5,21: „Prüft aber alles und das Gute behaltet.“ Es geht also um die Prüfung der Geister einer Zeit. Die Schuld, die die Kirche in der Nazizeit auf sich geladen hat, ist ein trauriges Beispiel, wie die Kirche mit dem Eingehen auf den Zeitgeist das Evangelium verraten und schwere Schuld auf sich geladen hat. Aber es gibt eben auch traurige Beispiele dafür, dass die Kirche genau dadurch Schuld auf sich geladen hat, dass sie sich viel zu lange gegen den Zeitgeist gestemmt hat. Ihr Verhältnis zu den Menschenrechten ist ein solches Beispiel.

Die Kirche begegnete dem sich im 18. Jahrhundert allmählich herausbildenden Gedanken der Menschenrechte mit tiefem Misstrauen. Der Terror der Jakobi¬ner in Frankreich und die Entmachtung der katholischen Kirche durch die Revolu¬tion war nur ein Grund für dieses Misstrauen. Die tiefere Ursache für die ableh¬nende Einstellung der Kirche gegenüber dem Gedanken der Menschenrechte lag in den Säkularisierungsimpulsen, die sie, nicht zu Unrecht, in diesem Gedanken sah. Eine Lehre, in der der Staat in der freien Übereinkunft der Menschen anstatt in Gott begründet wurde, eine Lehre, in der die Menschen als Träger unveräußerlicher und qua natura gegebener Freiheitsrechte gesehen wurden, anstatt als der göttli¬chen und damit auch kirchlichen Autorität untertan, eine solche Lehre erschien der Kirche als atheistisches Gedankengut, das mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen war. Es dauerte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, bis diese ablehnende Haltung der Kirche gegenüber dem Gedanken der Menschenrechte endgültig überwunden wurde. Inzwischen sind die Menschenrechte zum nicht mehr wegzudenkenden Grundbe-standteil theologischer Ethik geworden und angesichts der außerordentlichen Nähe zu zentralen biblischen Inhalten mag man kaum glauben, dass die Liebe zwischen Menschenwürde bzw. Menschenrechten und der christlichen Ethik eine so späte Liebe war.
Ich wage die Prognose, dass wir in der Zukunft eine ähnliche Diagnose auch beim Thema Homosexualität sehen werden. Hier hat sich allein in den letzten zehn Jahren meiner Amtszeit als Landesbischof, in denen ich die Diskussionen in der Kirche aus der Nähe erlebt habe, fast so etwas wie eine innerkirchliche Kulturrevolution ereignet. Sie geht durch alle Frömmigkeitsrichtungen. Dass wir die Meinung, Homosexualität sei Sünde, in einem Großteil unserer Kirche, überwunden haben, ist aus meiner Sicht nicht Ausdruck eines Verrats am Evangelium und einem Nachlaufen hinter dem Zeitgeist, sondern Ausdruck einer Wiederentdeckung des Evangeliums. Denn dass Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung, die sie – wie das bei uns allen der Fall ist - als Teil ihrer Identität empfinden, diskriminiert werden, wiederspricht der radikalen Menschenliebe, für die Jesus Christus steht.

Diese beiden Beispiele, das historische und das gegenwartsbezogene, zeigen, dass weder die pauschale Ablehnung des Zeitgeistes noch die habituelle Anpassung an den Zeitgeist die Grundlage für öffentliche Verantwortung von Glaubensrede sein kann.

2. Die Öffentliche Verantwortung der Kirche

Dass die Kirche eine öffentliche Verantwortung hat, hat niemand eindrucksvoller deutlich gemacht als Dietrich Bonhoeffer. In einer Passage in seiner Ethik, die in modifizierter Form auch in sein berühmtes Traktat „Nach zehn Jahren“ aufgenommen ist, schreibt Bonhoeffer: „Auf der Flucht vor der öffentlichen Auseinandersetzung erreicht dieser und jener die Freistatt einer privaten Tugendhaftigkeit. Er stiehlt nicht, er mordet nicht, er bricht nicht die Ehe, er tut nach seinen Kräften Gutes. Aber in seinem freiwilligen Verzicht auf Öffentlichkeit weiß er die erlaubten Grenzen, die ihn vor dem Konflikt bewahren, genau einzuhalten. So muss er seine Augen und Ohren verschließen vor dem Unrecht um ihn herum. Nur auf Kosten eines Selbstbetruges kann er seine private Untadeligkeit vor der Befleckung durch verantwortliches Handeln in der Welt reinerhalten. Bei allem, was er tut, wird ihn das, was er unterlässt, nicht zur Ruhe kommen lassen.“ (i)

Dieses Bonhoeffer-Zitat zeigt in sehr eindrucksvoller Weise, warum für ihn Theologie immer auch öffentliche Theologie sein muss. Der prinzipielle Verzicht auf Öffentlichkeit ist notwendigerweise mit einem Selbstbetrug verbunden. Der schlichte Hinweis auf das Doppelgebot der Liebe reicht aus, um die mit dem Verzicht auf Öffentlichkeit verbundene Hinnahme von Unrecht als solchen Selbstbetrug deutlich zu machen. (ii)

Bei Bonhoeffer ist die unverzichtbare Bedeutung der Öffentlichkeit wesentlich motiviert durch seine Versöhnungstheologie, die ihm einen konstruktiven Zugang auch zur säkularen Welt eröffnet. Weil Christus die ganze Welt (2.Kor 5,19: „ton kosmon“) versöhnt hat, daher finden wir die Gotteswirklichkeit nur, wenn wir uns ganz auf die Weltwirklichkeit einlassen. Ausgehend von 2. Kor 5 sieht Bonhoeffer die ganze Wirklichkeit in Christus versöhnt. „Die Wirklichkeit Gottes“ – so lautet der zu Recht oft zitierte Schlüsselsatz – „erschließt sich nicht anders als indem sie mich ganz in die Weltwirklichkeit hineinstellt, die Weltwirklichkeit aber finde ich immer schon getragen, angenommen, versöhnt in der Wirklichkeit Gottes vor. Das ist das Geheimnis der Offenbarung Gottes in dem Menschen Jesus Christus“ (DBW 6,40).

Von dem damit angedeuteten Wirklichkeitsverständnis her kann Bonhoeffer gar nicht anders als sich kritisch mit den Dualismen einer bestimmten überlieferten Gestalt der Zweireichelehre auseinanderzusetzen. Bonhoeffer wendet sich gegen diese Auffassung, nach der im persönlichen Leben andere Gesetze gelten als im politischen Leben. Das Denken in zwei Räumen – so Bonhoeffer - widerspricht zutiefst dem biblischen wie dem reformatorischen Denken und geht an der Wirklichkeit vorbei: „Es gibt nicht zwei Wirklichkeiten, sondern nur eine Wirklichkeit, und das ist die in Christus offenbar gewordene Gotteswirklichkeit in der Weltwirklichkeit“ (DBW 6, 43).

Der mit diesem Ansatz verbundene und von Bonhoeffer in der Ethik breit entfaltete Gedanke ist deswegen so zentral für das Verhältnis von Theologie und Öffentlichkeit, weil nach Bonhoeffer damit alle Kräfte, die die Dynamik moderner Öffentlichkeiten prägen, in den Reflexionsbereich der Theologie hineingenommen sind.  „Es gibt kein Stück Welt und sei es noch so verloren, noch so gottlos, das nicht in Jesus Christus von Gott angenommen, mit Gott versöhnt wäre“ (DBW 6,52).

Das radikale theologische Durchdenken der Versöhnung der ganzen Welt in Jesus Christus führt dazu, dass die Theologie Dietrich Bonhoeffers, gerade in ihrer Gegründetheit in der Erfahrung von Leid, eine von tiefer Zuversicht geprägte Theologie, ja, man darf sagen, eine Theologie der Hoffnung ist. Denn in dem Christusereignis kommt in unüberbietbar verdichteter Weise zum Ausdruck, dass die Welt nicht verloren ist. Die Freiheit eines Christenmenschen besteht genau darin, in der eigenen Existenz, in Politik und Wirtschaft, in allen Bereichen des Lebens zu bezeugen, dass auch hinter den vielen Neins, die wir täglich vor uns sehen oder selbst erfahren, am Ende Gottes großes Ja steht.

3. Reformatorische Wirtschaftsethik als Beispiel Öffentlicher Glaubensrede

Entgegen dem schon von Bonhoeffer widerlegten Missverständnis der Zweiregimentelehre Martin Luthers hat Luther selbst die Gestaltungskraft des christlichen Glaubens für Politik und Wirtschaft klar im Blick gehabt. Das wird besonders eindrucksvoll deutlich an seinen profilierten Aussagen zur Wirtschaftsethik. Luther wäre nie auf die Idee gekommen, wirtschaftliche Praktiken, die dem Glauben widersprechen, widerspruchslos hinzunehmen. Auch wenn die Triebkraft seines Denkens nicht das Visionäre ist, sondern der Versuch, die Bedingungen zu beschreiben, unter denen der Glaube in der unerlösten Welt gelebt werden kann, so ist für ihn völlig klar, dass zu den dabei leitenden Voraussetzungen das gehört, was wir heute die vorrangige Option für die Armen nennen. Die Verquickung von Wirtschaft und Politik sowie die Verletzung der Mindeststandards von Verteilungsgerechtigkeit, die mit guten Gründen heute zu den immer wieder intonierten Themen öffentlicher Theologie gehören, waren schon für Luther Themen, zu denen er sich öffentlich geäußert hat. Luther sagt über die Macht der multinationalen Konzerne damals wie der Fugger:

„Wie sollt das immer mögen göttlich und recht zugehen, daß ein Mann in so kurzer Zeit so reich werde, daß er Könige und Kaiser aufkaufen möchte? Aber weil sie es dahingebracht haben, daß alle Welt in Gefahr und Verlust muß handeln, heuer gewinnen, über ein Jahr verlieren, aber sie immer und ewiglich gewinnen und ihre Verluste mit ersteigertem Gewinn büßen können: ists nicht wunder, dass sie bald aller Welt Gut zu sich reißen. Nun kaufschlagen je solche Gesellschaften mit eitel ewigen gewissen Gulden um unsere zeitlichen ungewissen Pfennige. Und sollte noch wunder sein, dass sie zu Königen und wir zu Bettlern werden?“

Man kann bei diesem Zitat durchaus die Sorge entwickeln, dass anti-kapitalistischer Populismus hier zum leitenden Motiv werde. Mangelnde Klarheit in der öffentlichen  Stellungnahme wird man Luther aber sicher nicht vorwerfen können. (iii) Mit guten Gründen sind Worte aus diesem Luther-Zitat in ein vieldiskutiertes Dokument öffentlicher Theologie eingeflossen: die Unternehmerdenkschrift der EKD von 2008, in der in Ziffer 90 auf die Diskussion um die angemessene Höhe von Managergehältern eingegangen wird. (iv)

Ich gebe ein anderes Beispiel, wie schon die Reformatoren Themen öffentlicher Theologie angesprochen haben, deren Aktualität erstaunlich ist. Philipp Melanchthon äußert sich ebenfalls zu wirtschaftsethischen Fragen, bezieht sie aber gleichzeitig auf die Frage nach dem sozialen Zusammenhalt. Zinsgeschäfte - so Melanchthon – gefährden den sozialen Zusammenhalt: „Der Schriftbefund ist eindeutig: Gott hat an Zinsgeschäften kein Gefallen. Das sollen wir wissen und nicht, wie so manche tun, irgendwelche Klügeleien anstellen, um das offenkundige Zinsunwesen zu entschuldigen.“

Neben der Bezugnahme auf die Schrift erläutert Melanchthon dann, warum seine Kritik für alle Menschen guten Willens plausibel ist, ganz in dem Sinne dessen, was ich „Zweisprachigkeit“ nenne: „Nebst dem [sc. Schriftbefund] sind auch die jedem natürlichen Urteilsvermögen zugänglichen Gründe zu erörtern, warum Zinsen nicht der Norm der Gerechtigkeit entsprechen. Der vorzüglichste davon ist: Die Zivilgesellschaft (sic!) hat keinen Bestand, wenn es in Fragen des gesellschaftlichen Austauschs keinen gerechten Ausgleich gibt. Ist nämlich einer der am gesellschaftlichen Austausch beteiligten Partner erschöpft, muss die Gesellschaft zusammenbrechen. (v)

Nun herrscht in der Tat in Zinsgeschäften keine Gerechtigkeit, wenn derjenige, der von seinem Eigentum etwas ausgeliehen hat, mehr als das Seine zurückerhält. Sein Gegenüber, also der Leihnehmer, wird dadurch belastet bis zur Erschöpfung. Das beschädigt und schwächt, wie die Erfahrung zeigt, die Gerechtigkeit und gesellschaftliche Stabilität. Wo man maßlose Zinsgewinne zugelassen hat, sind ganze Völker in Armut geraten, ja, sie waren gezwungen, ihre Töchter und Söhne zu verkaufen. Nicht selten mussten ganze Herrschaften verpfändet werden. (vi)

Wie immer man den Inhalt dieser Worte beurteilen mag, die Nähe zu unseren Diskussionen heute – etwa um einen möglichen Lastenausgleich zwischen Pandemiegewinnern und Pandemieverlierern - ist erstaunlich. 
Als Ergebnis halte ich fest: Öffentliche Glaubensrede, will sie – mit der 2. These der Barmer Theologischen Erklärung gesprochen - Jesus Christus als Zuspruch und Anspruch für unser ganzes Leben bezeugen, kann den Horizont von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nie auslassen. Auf das Zeugnis der Reformatoren könnte sie sich jedenfalls damit nicht berufen.

Aber wie kann die Kirche heute öffentlich reden? Und wie kann sie in den ganz unterschiedlichen Dimensionen ihres Auftrags öffentlich reden? Vier Dimensionen sind zu unterscheiden.

4. Vier Dimensionen öffentlicher Rede der Kirche

4.1. Die pastorale Dimension öffentlicher Rede der Kirche

Die pastorale Dimension öffentlicher Rede der Kirche wird besonders augenscheinlich deutlich, wenn eine Gesellschaft vor der Aufgabe steht, mit öffentlichen Katastrophen umzugehen. Dass die Gottesdienste, in denen der Versuch gemacht wird, nach solchen Katastrophen wieder eine Sprache zu finden, große Aufmerksamkeit finden, hat sich gerade in jüngster Zeit wieder gezeigt. Zuerst war es der ökumenische Gottesdienst zum Gedenken an die Opfer der Pandemie in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche am 18. April dieses Jahres. Und dann war es der ebenfalls ökumenische Gottesdienst zum Gedenken an die Opfer der Flutkatastrophe am 28. August im Aachener Dom. In beiden Fällen nahm die gesamte Staatsspitze am Gottesdienst teil.

Solche Gottesdienste – das gilt offensichtlich auch unter zunehmend religiös und weltanschaulich pluralen Bedingungen - haben eine wichtige Funktion bei der Bewältigung von Trauer und Fassungslosigkeit in Grenzsituationen, die weit über den Raum des Privaten hinaus und in die Öffentlichkeit hinein reichen. Neben dem Reden spielt dabei auch das öffentliche Schweigen oder das öffentlichen Entzünden von Kerzen eine wichtige Rolle. Es erinnert uns daran, dass das öffentliche Handeln der Kirche viel weiterreicht als es das Mittel der Rede zum Ausdruck bringt.

Die pastorale Dimension öffentlicher Glaubensrede umfasst aber mehr als die Hilfe in der Bewältigung von Grenzsituationen. Sie kann - etwa bei Betriebsschließungen auch die persönliche Not derer in die Öffentlichkeit bringen, die von sozialen Notlagen betroffen sind. Sie kann in einer öffentlichen Totenklage zum Ausdruck kommen, wie das in dem Gedenkgottesdienst für die im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge der Fall war, den ich am 14. Dezember 2019 zusammen mit Kardinal Marx im Münchner Dom gehalten habe. Alle bekannten Namen der Ertrunkenen wurden – z. T. mit erstickter Stimme und unter Tränen, von Angehörigen -  vorgelesen. 

Die pastorale Dimension öffentlicher Glaubensrede kommt aber auch zum Ausdruck, wenn Geistliche diejenigen stärken, die politische Verantwortung tragen und sich täglich mit Dilemmasituationen konfrontiert sehen, die auch persönlich belastende Formen annehmen können. Sie stärkt ihnen den Rücken, wenn sie sich mit einer dumpfen Aversion gegen die politische Welt konfrontiert sehen, bei der die Lehnstuhlkritik den Vorrang hat gegenüber kritisch-konstruktiver Mitgestaltung.

All das sind Formen öffentlicher Seelsorge als wichtiger pastoraler Dimension öffentlicher Glaubensrede.
Es gibt Zeiten, in denen diese pastorale Dimension öffentlichen Redens der Kirche im Mittelpunkt stehen muss und in denen der Streit um den rechten Weg hintansteht.

4.2. Die diskursive Dimension öffentlicher Rede der Kirche

Für diesen Streit ist nun aber die diskursive Dimension öffentlichen Redens der Kirche von besonderer Bedeutung. spielt bei diesem Streit um den rechten Weg indessen eine zentrale Rolle. Sie steht im Zentrum, wenn Repräsentant*innen der Kirche bei Talkshows oder öffentlichen Podien des Kirchentages über Migrationspolitik mitdiskutieren. Sie wird wirksam, wenn Synodale bei ihrer Synodaltagung auf einem Podium mit Expertinnen und Experten von außen über Klimawandel oder Wirtschaftsethik debattieren. Öffentliches Reden der Kirche liegt nicht nur dann vor, wenn Bischöfe, Oberkirchenräte oder Synodalpräsidentinnen sprechen, sondern auch dann, wenn Christenmenschen sich bewusst als Glieder der Kirche äußern, unabhängig von ihrer Stellung in der Kirche. Dass diejenigen, die zur öffentlichen Repräsentanz der Kirche beauftragt worden sind, mit mehr Verbindlichkeit für die Kirche sprechen, ist allerdings ebenso klar.

Wichtig ist dabei eine Zweistufigkeit im öffentlichen Reden der Kirche zu beachten. Es gibt Grundorientierungen, über die auf der Basis der gemeinsamen biblischen Grundlagen breiter Konsens besteht. Dazu gehört der Respekt vor der Natur als Mitkreatur, aber auch die biblische Option für die Armen, die Grundlage des diakonischen Handelns der Kirche ist, seit es sie gibt. Wie sich diese Grundorientierungen in praktische Politik übersetzen lassen, darüber muss es aber auch innerhalb der Kirche einen ergebnisoffenen Diskurs geben. 
Die diskursive Dimension öffentlichen Redens der Kirche ist so wichtig, weil sie auch öffentlich deutlich macht, dass in einer pluralistischen Gesellschaft nicht dogmatische Geltungsansprüche die Grundlage für das öffentliche Wirken der Kirche sein können, sondern argumentative Plausibilisierung und Inspiration. Ich nenne bewusst auch die Inspiration, weil auch in einer solchen pluralistischen Gesellschaft nicht nur das Argument überzeugt, sondern auch Leidenschaft, Begeisterung und Authentizität.

4.3. Die politikberatende Dimension öffentlicher Rede der Kirche

Nüchterner geht es zu, wenn die politikberatende Dimension im Zentrum steht. Sie findet etwa in der Arbeit der Kammern der EKD ihren Ausdruck, in denen wichtige öffentliche Stellungnahmen vorbereitet werden. Hier geht es darum, größtmögliche Sachkompetenz und die Orientierungskompetenz, die sich aus dem Hören auf das Evangelium ergibt, möglichst sinnvoll aufeinander zu beziehen.  Die Vorsitzenden der Kammer sind mit guten Gründen oft kein Theolog*innen, sondern führende Vertreter*innen der jeweiligen Fachwelt. Solche Besetzungen zeigen, wie unsinnig das Argument ist, die Kirche solle sich aus Fragen von Wirtschaft und Politik heraushalten und sich auf die Dinge konzentrieren, von denen sie etwas verstehe. Die Kirche sind eben nicht nur die Theolog*innen, sondern alle Christenmenschen. Unter ihnen findet sich so viel Kompetenz, dass gut vorbereitete und begründete öffentliche Äußerungen der Kirche, wie sie etwa in den Denkschriften vorliegen, in der Politik sehr aufmerksam wahrgenommen werden und immer wieder auch konkrete Konsequenzen haben. 

In dem Maße, in dem die politikberatende Funktion kirchlichen Redens durch Sachkompetenz gedeckt ist, kann sie auch zur Dimension öffentlichen Redens der Kirche werden. Wie weit sich ein Bischof oder eine Bischöfin auf diese Dimension der Politikberatung einlässt, hängt deswegen vor allem davon ab, wie viel Sachkompetenz er oder sie sich auf den jeweiligen Feldern zutraut. Wo diese nicht gegeben ist, kann Zurückhaltung oder auch Schweigen der bessere Weg sein.

4.4. Die prophetische Dimension öffentlicher Rede der Kirche

Das gilt nicht in gleicher Weise für die prophetische Dimension, die ich nun abschließend etwas ausführlicher behandeln möchte. Die prophetische Dimension öffentlichen Redens der Kirche ist schon allein deswegen unverzichtbar, weil es eine zutiefst biblische Dimension ist. Für die Propheten Amos, Jesaja oder Jeremia war nicht die Ausgewogenheit das vorrangige Ziel, sie kamen auch nicht auf die Idee eine möglichst verlässliche wissenschaftliche Expertise einzuholen, bevor sie sprachen. Sie brachten da eine leidenschaftliche moralische Empörung zum Ausdruck, wo ganz offensichtliches Unrecht vor ihren Augen passierte, wo menschliche Verhaltensweisen in offensichtlicher Weise den Geboten Gottes widersprachen, wo etwa die Armen ausgebeutet wurden und schreiende Ungerechtigkeit mit Spiritualität und Kult übertüncht wurde. Dagegen erhoben sie Einspruch, indem sie die Stimme Gottes hörbar zu machen versuchten: “Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speiseopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Es ströme aber Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Strom“ (Amos 5, 21-24).

In mehrfacher Hinsicht sind die Bedingungen, unter denen heute das Reden der Kirche prophetisch sein kann, ja vielleicht muss, besondere: 

Erstens muss die Situation so sein, dass das moralische Problem offensichtlich ist, auch wenn die genauen Gründe oder die Lösungswege schwierig zu beurteilen sind.  Prophetisches Reden hat dann die Funktion, jedenfalls auf den moralischen Skandal hinzuweisen, ihm Aufmerksamkeit zu verschaffen und so auch mitzuhelfen, dass intensivere Anstrengungen zu seiner Überwindung unternommen werden.

Zweitens ist es von Bedeutung, wer redet. Prophetisches Reden bedarf einer besonderen Autorität, da ihm überhaupt nur dann die Vollmacht zugebilligt wird, auf die es angewiesen ist. Das kann die Vollmacht sein, die der Pfarrerin mit der Ordination ins Amt von der Gemeinde zuerkannt worden ist und die in einer prophetischen Sonntagspredigt Ausdruck findet. Das kann die Wahl einer Synodenpräses sein, die von der Synode gewählt, nicht nur für sich selbst steht, sondern für alle in die Synode entsandten Vertreter*innen der Gemeinden. Das kann aber auch die Autorität sein, die dem Bischofsamt aufgrund der Wahl durch die Synode zukommt und im besten Fall von dem jeweiligen Amtsträger auch ausgestrahlt wird. 

In jedem Falle ist die prophetische Dimension des öffentlichen Redens der Kirche eher an die Person als an die Institution gebunden. Kirchliche Gremien sind – jedenfalls in einer Volkskirche - in der Regel so plural zusammengesetzt, dass es eines besonderen geisterfüllten Momentes, eines kairos, bedarf, um gemeinsam zu prophetischer Klarheit zu kommen.  Die plural zusammengesetzten Gemeinden oder kirchlichen Gremien sind deswegen umso mehr darauf angewiesen, dass die von ihnen mit einem Amt betrauten Personen zuweilen auch prophetisch reden und damit jenseits aller Kompromisse und Klugheitserwägungen in der Tradition der biblischen Propheten ein klares Wort sprechen. 

Drittens muss sich prophetisches Reden der Kirche auf besondere Situationen beschränken. Das Prophetische kann man schwerlich planen. Eine Äußerung, die nicht mit einem prophetischen Gestus auftritt und vielleicht sogar von einem plural zusammengesetzten Gremium verantwortet wird, wird gleichwohl von Rezipienten als prophetisch wahrgenommen – so etwa das Wort des Rats der EKD zur Finanz- und Wirtschaftskrise von 2009 "Wie ein Riss in einer hohen Mauer". Prophetisches Reden verliert seine Kraft, wenn es vorhersehbar wird. Das aber ist der Fall, wenn es inflationär gebraucht wird. Für die Hörenden muss spürbar bleiben, dass hier nicht nur bestimmte politische Präferenzen moralisch laut intoniert werden, um die mediale Durchschlagskraft zu erhöhen, sondern, dass es hier um etwas geistlich Bedrängendes geht. Und sie müssen verstehen können, warum es um etwas geistlich Bedrängendes geht.

Viertens darf das prophetische Reden der Kirche den Diskurs nicht verschließen, sondern es muss ihn öffnen, vielleicht auch neu öffnen. Prophetisches Reden kann vor den Kopf stoßen. Aber es unterscheidet sich dadurch von der Beleidigung, dass die Angesprochenen – jedenfalls grundsätzlich - die tiefe Wahrheit des Gesagten spüren können. Ärger über den Propheten kann dann in Nachdenklichkeit und längerfristig in neue Gesprächsbereitschaft münden. Prophetisches Reden ist kein Ablassen von Frustration. Es kann in der jeweiligen Situation zunächst fundamentalkritisch sein, zielt aber auf einen konstruktiven Neuentwurf.

Fünftens schließlich ist prophetisches Reden der Kirche auf Demut angewiesen. Die Gefahr ist groß, dass die moralische Intensität prophetischen Redens zur Selbstüberhöhung führt, nach der der prophetisch Redende auf der moralisch richtigen und diejenigen, die er kritisiert, auf der moralisch falschen Seite sind. So sehr das in der konkreten Situation und an dem konkreten inhaltlichen Punkt richtig sein kann, so wenig gilt es generell. Der Prophet muss sich immer im Klaren darüber sein, dass er nicht den Platz des Königs einnehmen kann, der aber genauso nötig ist.  Aus der Sprache des Alten Testaments für heute übersetzt, heißt das, dass das Anprangern moralischer Defizite durch die Kirche zuweilen notwendig ist, dass es aber das geduldige Bohren dicker Bretter im politischen Alltagshandeln nicht ersetzt. Die klare Kritik moralischer Defizite kann keinen höheren moralischen Status für sich in Anspruch nehmen als das kontinuierliche Arbeiten an konkreten Lösungen, die tatsächlich die erhofften Veränderungen bringen. Deswegen ist es auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Wirken der Kirche in die Öffentlichkeit hinein natürlich nicht nur aus Reden besteht, sondern auch aus Handeln, insbesondere aus gottesdienstlicher, diakonischer, bildungsmäßiger und im weiteren Sinn kultureller Präsenz.

5. Öffentliche Glaubensrede als Ermutigung zur Zukunft

Was ist der Kern öffentlicher Glaubensrede? Sie lässt sich weder auf sozialethische oder politische-ethische Inhalte reduzieren, noch auf die Regeneration von Frömmigkeit oder missionarische Weitergabe des Glaubens. All das hat seinen Platz. Der Kern von alledem aber ist die Weitergabe von Hoffnung.

Es bleibt das einzigartige Merkmal des christlichen Glaubens, dass sowohl die Wahrnehmung abgrundtiefen Leids, die gegen jede Beschönigung der Zustände immunisiert, als auch die tiefe Hoffnung auf neues Leben nicht nur wichtige Themen sind, sondern integraler Teil seines Gottesverständnisses. Der Gott, an den wir glauben, begegnet uns in einem Menschen, der mit einem Schrei der Gottverlassenheit als Folteropfer am Kreuz gestorben ist und der auferstanden ist und seine leibliche irdische Existenz mit der Zusage verlässt, bei uns zu sein alle Tage bis an der Welt Ende. Mehr Hoffnung geht nicht.

Mit billigem Optimismus hat das nichts zu tun. Dietrich Bonhoeffer hat an der Wende zum Jahr 1943, kurz vor seiner Verhaftung durch die Gestapo, Optimismus als Willen zur Zukunft so beschrieben: „Optimismus ist in seinem Wesen keine Ansicht über die gegenwärtige Situation, sondern er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignierten, eine Kraft, den Kopf hochzuhalten, wenn alles fehlzuschlagen scheint, eine Kraft, Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner läßt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt. Es gibt gewiß auch einen dummen, feigen Optimismus, der verpönt werden muß. Aber den Optimismus als Willen zur Zukunft soll niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irrt.“

Diesen Willen zur Zukunft und die damit verbundene Hoffnung selbst auszustrahlen und so weiterzugeben, das ist der wichtigste Dienst, den wir der Gesellschaft insgesamt als Kirche leisten können.

  • (i) Dietrich Bonhoeffer, Ethik, DBW, 66. Vgl. ders., Widerstand und Ergebung, DBW 8, 22.
  • (ii) Dietrich Bonhoeffer als öffentlicher Theologie, in: EvTh 69 (2009), 329-341
  • (iii) Zu Luther als öffentlichem Theologen vgl. auch H. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen. Öffentliche Theologie als Befreiungstheologie für eine demokratische Gesellschaft, in: F. Nüssel (Hg.), Theologische Ethik der Gegenwart. Ein Überblick über zentrale Ansätze und Themen, Tübingen 2009, 167-182.
  • (iv) Rat der EKD, Unternehmerisches Handeln in Evangelischer Perspektive, Gütersloh 2008, Ziffer 90.
  • (v) “Societas civilis non potest esse perpetua, cum non servatur aequalitas in rerum communicatione, nam altera parte exhausta, dissipari societatem necesse est.”
  • (vi) Ph. Melanchthon, CR 16, 497 (Diss. de contractibus; 1545/1546). Ich danke Konrad Fischer für den Hinweis auf diese Passage.