So geht es nach dem Reformationsjubiläum weiter

Interview mit dem Kirchenhistoriker Christoph Markschies

Der Kirchenhistoriker Christoph Markschies erzählt im Interview, welche Impulse das Reformationsjubiläum für kirchliche Aufgaben und für das Gemeindeleben freigesetzt hat und was uns in der Kirche in den nächsten Jahren erwartet.

Rosane und grüne Luftballons fliegen in Richtung Himmel
Himmlische Jubiläumsaktion: Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung „schools500reformationday“ ließen vor der Wittenberger Schlosskirche Luftballons steigen.

Herr Markschies, Aufbruch oder Katerstimmung: Wie nehmen Sie die Lage nach dem Reformationsjubiläum wahr?

Christoph Markschies: Viel Aufbruch, gelegentlich Katerstimmung. Das ist aber ganz normal.

Es gab auch Kritik am Reformationsjubiläum. Welche ist Ihrer Ansicht nach berechtigt?

Markschies: Wenn ich mal ganz frech bin: kaum eine wirklich. Natürlich sind Sachen schief gegangen. Aber wer ein Großereignis organisieren könnte und dabei würde nichts schief gehen, der wäre vermutlich der liebe Gott. Dass beispielsweise Verantwortliche bei einzelnen Veranstaltungen des Jubiläums auf mehr Besucher gehofft haben, als schließlich gekommen sind, ist an einem Ort wie Wittenberg, an dem noch nie eine Weltausstellung stattfand, bis zu einem gewissen Grade verständlich. Ich will Fehleinschätzungen nicht beschönigen, sondern einfach nur sagen: Aus dem, was beim Reformationsjubiläum schief gegangen ist, wird man allerlei lernen können für die nächsten Kirchentage, die im Osten stattfinden. Wenn man bedenkt, dass über Jahre der Flughafen Berlin-Brandenburg nicht eröffnet worden ist, weil es bis auf den heutigen Tag nicht gelingt, den Rauchabzug im Terminal zu organisieren … Natürlich will ich das Jubiläum nicht gegen Kritik immunisieren. Aber ich finde, dass man etwas Wunderschönes auch nicht schlecht reden muss.

Was war denn wunderschön an zehn Jahren Vorbereitung und Feier des Jubiläums?

Markschies: Ich nenne einmal ein paar Beispiele: Gelungen war das Jubiläum, wenn eine Stadt wie Frankfurt an der Oder die verlorene Stadtmitte in Gestalt der großen Marienkirche gemeinsam zurück erobert hat. Dort haben nämlich auch viele Nichtchristen für die Restaurierung von Epitaphen, also von Grabdenkmälern für verstorbene Frankfurter der Reformationszeit, gestiftet. Der Oberbürgermeister dieser Stadt sagte, dass er als Nichtglaubender nun endlich verstanden habe, was die Pointe von Reformation sei. Es ist aber nicht nur in Frankfurt an der Oder gelungen, ein gewisses Bewusstsein für reformatorisches Christentum in Regionen und an Orte zu bringen, wo es längst nicht mehr verbreitet war, eine ganze Reihe anderer Orte wären ebenfalls zu nennen.

In den großen Reformationsausstellungen ist aber auch vielen Christenmenschen noch einmal deutlicher geworden, was unsere gemeinsamen Wurzeln sind und wie nahe sich inzwischen evangelische und katholische Kirchen gekommen sind. Es ist allerdings auch klarer geworden, was uns nach wie vor trennt. Oder betrachten Sie die unglaubliche Menge von Denkmälern, die saniert wurden: Unglaublich, wie aus dem „hässlichen Entlein“ Wittenberger Schloss ein stolzer Schwan, nämlich ein eindrücklicher Bau für die reformationsgeschichtliche Forschungsbibliothek und das evangelische Predigerseminar, wurde. Auch sind die vielen kleinen Kirchen und Museumsgebäude zu nennen, die saniert wurden. Die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, hat unglaublich viel Geldmittel eingeworben und überhaupt sehr viel für das Jubiläum getan. Auch das beeindruckt mich sehr und gehört auf die Erfolgsseite der Bilanz.

Welche Konsequenzen hat das Reformationsjubiläum für die Zukunft der Kirche?

Markschies: Es gibt zunächst eine ganze Reihe von Anregungen für gemeindliche Arbeit aus den Jubiläums-Jahren! Wenn man beispielsweise auf einer Leipziger Haupt-Einkaufsstraße an einem Samstag mit allen Kirchengemeinden der Stadt Bierbänke aufstellt und da Kaffee samt Kuchen anbietet, kann man wunderbar mit Unmengen von Passanten über christlichen Glauben ins Gespräch kommen – der Kirchentag auf dem Wege hat das gezeigt. Und diese Einsicht gilt vermutlich nicht nur für eine Leipziger Haupt-Einkaufsstraße. Dieses eine Beispiel steht für viele ebenso originelle wie erfolgreiche Ideen, die man an anderen Orten kopieren oder modifizieren kann. Selbstverständlich betrifft das nicht nur die Städte; so lohnt es sich, mehr mit den selten benutzten Dorfkirchen im Osten zu machen. Für Stadt wie Dorf gilt nämlich, dass man auch Menschen, die dem christlichen Glauben eher fern stehen, für einzelne Aspekte des christlichen Glaubens, die die Reformation befördern wollte, nach wie vor begeistern kann. Das ist eine mutmachende Erfahrung dieses Jubiläums.

Wieder ein einziges Beispiel für viele: Martin Luther ist eine Person, über die man sich trefflich streiten kann, die ebenso begeistert wie abstößt. Aber über seine Biographie hinaus kann man auch für seine Theologie Aufmerksamkeit erzeugen bei denen, die längst nichts mehr von Christentum wissen: Luther redete davon, dass der Mensch schon als solcher angenommen und geliebt ist. Unsere weit verbreiteten Vorstellungen, dass der Mensch erst über seine Leistungen, über sein Haus, sein Auto und sein Sportboot, definiert wird, kann man also getrost beiseitelegen. Solche Grundeinsichten der reformatorischen Theologie sind nach wie vor öffentlichkeitstauglich. Das kann einen fröhlich machen. Natürlich haben manche schmerzlich realisieren müssen, dass eine solche Reformations-Dekade nicht zur Rechristianisierung des Abendlandes führt. Denn genau so wenig, wie nach der Wende der Osten protestantischer wurde, so wenig hat durch das Reformationsjubiläum die erneute Christianisierung entchristlichter Massen begonnen. Aber was ist verkehrt daran, wenn man auch etwas Nüchternheit lernt bei einem Fest? Dann fallen einem die wunderbaren Züge des Jubiläums hoffentlich umso deutlicher auf.

Welche weiteren Impulse wurden für kirchliche Aufgaben und für das Gemeindeleben freigesetzt?

Markschies: Vielen Menschen ist klar geworden, dass man durchaus größere Veranstaltungen für Menschen organisieren kann, die „draußen vor der Tür“ von Christentum und Kirche stehen. Dafür braucht es allerdings einen langen Atem und professionelle Planung. Ich denke zum Beispiel an das Themenjahr „Reformation und Musik“. Da gab es eine außerordentlich große Menge von Aufführungen auf allen musikalischen Niveaus und in vielen Stilformen; eine Fülle von Gelegenheiten, die sehr viele Sängerinnen und Sänger involvierten, aber auch viele Zuhörende gefunden haben. Ferner sieht man, dass sich kirchliche Aktivitäten durchaus finanzieren lassen, es entsprechend beispielsweise in Frankfurt an der Oder möglich war, nach sehr kurzer Zeit viel Geld dafür aufzubringen, ein durch die Auslagerung seit dem Zweiten Weltkrieg teils schwer beschädigtes Inventar einer großen Stadtkirche zu restaurieren – jedenfalls dann, wenn man die ostdeutsche Sparkassenstiftung an seiner Seite hat.

Manches hat nicht funktioniert, aber auch daraus könnten Impulse kommen, es beim nächsten Mal besser zu machen. Ich bin vor der Eröffnung der Weltausstellung hunderte Male in Wittenberg gewesen und habe dabei nie die Wallanlagen dort wahrgenommen, in denen diese große Schau stattfand. Wenn man in diesen Wallanlagen das nächste Mal eine Großausstellung machen will, sollte man auffällige Hinweisschilder am Bahnhof aufstellen, damit die Besucher den Veranstaltungsort überhaupt finden können und nicht lediglich die Hauptstraße hinauf und wieder hinunter gehen.

Wie lässt sich mit Einsichten des 16. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert noch christliche Kirche gestalten?

Markschies: Viele Einsichten der reformatorischen Theologie sind keine Fündlein des 16. Jahrhunderts, sondern einfach biblische Weisheiten, die man damals auf den Punkt gebracht hat – manchmal in einer fast anrührenden Schlichtheit. Martin Luther hat Menschen wie beispielsweise seinen Barbier ebenso direkt wie verständlich angesprochen, hat seine Gedanken von überflüssigem rhetorischem Schmuck und auch von theologischem Bildungsballast befreit. Er war ein Seelsorger, der zupackende Predigten hielt, mitreißende Vorlesungen und äußerst polemische Texte verfasste. Seinem Barbier hat er beispielsweise ganz konkrete Regeln dazu gegeben, wie man es lernen kann, zu beten.

Manches erscheint uns heute sehr fremd. So hatte Luther als ehemaliger Augustinermönch ein sehr pessimistische Menschenbild, das auf der Theologie des Augustinus von Hippo aufbaute. Das mochten aufgeklärte Christenmenschen folgender Jahrhunderte nicht mehr gern hören. Aber man kann dieses Bild vom Menschen nach wie vor gut nachvollziehen, beispielsweise, wenn man an das 20. Jahrhundert denkt: Scheinbar vollkommen normale Reichsbahnbeamte haben im Zweiten Weltkrieg ganz brav Zug um Zug zuverlässig in Richtung Krakau auf die Schiene gebracht, obwohl sie doch wussten, dass die, die mit den Zügen fahren mussten, aus dem Sackbahnhof des Konzentrationslagers Auschwitz nie mehr zurückkehren würden. Solche Erfahrungen sollten einen skeptisch machen allzu naiv an die beständige moralische Verbesserung der Menschheit zu glauben. Wenn man an die unendlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts denkt, kann man also schon so skeptisch gegenüber der Vernunft und Menschen allgemein werden, wie Martin Luther es war. Und ein solches pessimistisches Bild eröffnet zudem auch die Möglichkeit, seine Rede von der Befreiung des Menschen durch Gott allein aus Gnaden nochmals ganz anders zu hören.

Wie müssen schon jetzt die Weichen für die Zukunft gestellt werden, damit die gemachten Erfahrungen fruchtbar werden?

Markschies: Ich finde, wir müssen uns zunächst die Ergebnisse des Reformationsjubiläums gründlich anschauen, wie es auch in den Landeskirchen und der EKD geschieht. Zurzeit werden noch vielfach individuelle Erfahrungen gesichtet und gegeneinander gestellt. Es ist aber auch wichtig, ein so großes und kostenintensives Großereignis nach allen Regeln der Kunst auszuwerten. Das geschieht dankenswerterweise sowohl in den Synoden als auch im Rat der EKD. Dann müssen wir uns klarmachen, dass man gelegentlich einmal innehalten und Atem holen darf. Ob man jetzt gleich ein „Sabbatjahr“ ausrufen sollte wie Ralf Meister, Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, vorgeschlagen hat, lasse ich einmal dahingestellt. Aber ich finde an seinem Vorschlag richtig, dass man jetzt erst einmal innehält und überlegt, was als Nächstes angegangen werden sollte – so macht das jeder vernünftige Mensch, der etwas sehr Großes hinter sich gebracht hat. Dabei wird es weniger um vergleichbare Großereignisse gehen, sondern um die kleiner dimensionierten Aktivitäten einzelner Kirchengemeinden, die allerdings auch große Wirkung entfalten können.

Nach dem Jubiläum ist bekanntlich vor dem Jubiläum. Was erwartet uns als nächstes?

Markschies: Ein größeres Jubiläumsjahr, das in näherer Zukunft ansteht, ist das Augustana-Jubiläum von 2030 – 500 Jahre Augsburger Konfession. Da ist schon heute die Frage spannend, was an diesem Tage ökumenisch in Augsburg und anderswo passieren wird – können wir dann schon gemeinsam Abendmahl feiern? Oder denken Sie an das Jahr 2021, in dem 500 Jahre Wormser Reichstag gefeiert werden kann. Martin Luthers Weigerung vor „Kaiser und Reich“, zu widerrufen, ist ein wichtiges Ereignis für die deutsche Freiheitsgeschichte. Damals zeigte einer, dass man es auch vor den Thronen der Herrschenden wagen kann, sich einem Unrechtssystem zu widersetzen. Dieses Jubiläum könnte auch eine sehr schöne und wichtige Feier werden.

Das Interview führte Markus Bechthold (evangelisch.de)