EKD-Vertreter: Schwindendes EU-Vertrauen ist Alarmzeichen

Berlin (epd). Prälat Stephan Reimers sieht in dem schwindenden Vertrauen der Europäer in die EU ein Alarmzeichen. Möglicherweise sei es in Zeiten klarer Feindbilder leichter gefallen, Menschen "zusammenzuhalten", sagte der Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit Blick auf den früheren Ost-West-Konflikt in einem epd-Interview.

Reimers, der für den EKD-Rat auch die europäische Politik verfolgt, ergänzte, die Europamüdigkeit könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass die politischen Prozesse auf EU-Ebene für den einzelnen Bürger sehr schlecht überschaubar seien und eigene Interessen nicht auf dem Spiel stünden: "Dadurch ergibt sich eine Distanz zwischen Brüssel und den Bürgern, die schwer zu überbrücken ist."

In einer Umfrage im Frühjahr stimmten nur 52 Prozent der Europäer der Meinung zu, die EU-Mitgliedschaft ihres jeweiligen Landes sei eine gute Sache. Als Außenstelle des evangelischen Bevollmächtigten bei der Bundesregierung gibt es seit 1990 ein EKD-Büro in Brüssel.

Insgesamt hat die europäische Ebene nach Einschätzung des EKD-Vertreters an Gewicht gewonnen. Dies dokumentiere besonders der halbjährliche Wechsel zwischen den Mitgliedstaaten im EU-Ratsvorsitz: "Jede Ratspräsidentschaft ist bestrebt, sich einzuschreiben in den Fortgang der EU-Geschichte." Darin liege eine neue Qualität. Reimers verwies zudem auf den Zuwachs an Gesetzgebungszuständigkeit für Brüssel. Als Beispiel nannte er die EU-Richtlinien zur Antidiskriminierung. "Auch der Versuch, Europa eine Verfassung zu geben und damit das Demokratiedefizit der EU zu verringern, ist ein klares Indiz für die wachsende Bedeutung der EU", fügte Prälat Reimers hinzu.

04. August 2008


Das epd-Interview im Wortlaut:

"Die Politik will oft ein Lasso über uns legen"

Prälat Stephan Reimers leitet seit neun Jahren das EKD-Verbindungsbüro in Berlin

Berlin (epd). Der Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland beim Bund und der Europäischen Union, Prälat Stephan Reimers, beendet zum Jahresanfang 2009 nach neun Jahren seinen Dienst. Zum Beginn der Sommerpause sprachen Rainer Clos und Jutta Wagemann mit dem Prälaten über den Einfluss der Kirchen auf die Politik und die Bedeutung der Politik für die Kirchen.

epd: Was war in Ihrer neunjährigen Amtszeit Ihr wichtigster politischer Erfolg?

Reimers: Das Zuwanderungsgesetz hat herausragende Bedeutung, weil es erhebliche humanitäre Verbesserungen gebracht hat. Sowohl die Einrichtung von Härtefallkommissionen als auch die Anerkennung der nicht-staatlichen und der geschlechtsspezifischen Verfolgung sind Fortschritte, die auch auf das Wirken der Kirchen zurückzuführen sind. Das waren Forderungen der Kirchen. In vorbildlicher Weise haben wir dieses Gesetz mit dem katholischen Büro zusammen begleitet, und viele Gespräche mit Innenpolitikern geführt. So wurde ein humanitärer Fortschritt erreicht, der beachtlich ist.

epd: Die Kirchen hatten auch die Abschaffung der Kettenduldungen gefordert. Sind Sie mit der jetzigen Regelung zufrieden?

Reimers: Nein. Es muss immer wieder über Bleiberechtsregelungen verhandelt werden. Es ist nicht einzusehen, dass Menschen viele Jahre hier sind, sich integrieren, ihre Kinder die Herkunftssprache nicht mehr kennen, und dann sollen sie eines Tages fortgehen. Ihre Lebenssituation ist permanent von Unsicherheit geprägt. Es wäre uns wichtig, dass Geduldete nach Ablauf einer nicht zu langen Frist automatisch ein Bleiberecht bekommen. Dass wir das nicht durchgesetzt haben bisher, trübt ein wenig die Bilanz.

epd: Wie schätzen Sie generell die Bedeutung der Kirchen für die Politik ein?

Reimers: Ich habe erlebt, dass die Kirchen in der Bundespolitik ein besonders hohes Ansehen genießen, was mir in dieser Form weder in der Landespolitik noch in anderen gesellschaftlichen Bereichen begegnet ist. Die Politik nimmt die Kirchen als Institutionen wahr, die in einer Zeit des Individualismus Menschen zusammenhalten, über Generationen hinweg Brücken bauen, Werte vermitteln und die Jugend erreichen. Außerdem gibt es zwischen Bundesregierung und Kirchen keine Auseinandersetzungen um Geld. Die größte Summe, die wir vom Bund bekommen, ist die für die kirchliche Entwicklungshilfe. Zwei Drittel des Geldes, das die evangelische Kirche in diesem Bereich ausgibt, werden indes durch Spenden und Kirchensteuern aufgebracht. Und wir stellen ein weltweites Partnernetz zur Verfügung.

epd: Sie erwähnten kürzlich in einer Rede, dass sich die Wirkungsmöglichkeiten der Kirchen seit dem Regierungsumzug nach Berlin sogar noch verbessert hätten. Inwiefern?

Reimers: Ich merke das etwa an der Resonanz auf unsere Veranstaltungen. Ich hatte beim Umzug der Dienststelle von Bonn nach Berlin ein wenig Angst, dass wir in der Großstadt weniger Gehör finden. Das hat sich nicht bewahrheitet, im Gegenteil: Unsere guten Wirkungsmöglichkeiten sind auch daran erkennbar, dass uns von Seiten der Regierung immer sehr rasch Termine eingeräumt werden. Und nicht zuletzt auch an der Form, wie unsere Anliegen berücksichtigt werden.

epd: Ist für Sie eine große Koalition von Vorteil?

Reimers: Im Blick auf die institutionellen Interessen der Kirchen ist die jetzige Konstellation sehr günstig. Das hat sich am Beispiel Abgeltungssteuer gezeigt. Aber zum Beispiel bei Fragen der Migration konnten wir mit den Vertretern des rot-grünen Bündnisses mehr erreichen, weil die Grünen diesem Thema besonders verbunden sind. Andererseits erleben wir in dieser Legislaturperiode, dass sich die große Koalition und insbesondere die Unionsfraktion Themen zuwendet, die kirchliche Anliegen aufgreifen. Wie zum Beispiel die Aufnahme irakischer Flüchtlinge oder auch das Thema Integration. Wir bemühen uns, diese Debatten zu befördern und mit zu prägen.

epd: Trägt die Politik mitunter auch Anliegen an die Kirche heran?

Reimers: Ja. Am klarsten werden solche Wünsche von einzelnen Abgeordneten bei unseren Gebetsfrühstücken artikuliert. Und in Wahlkampfzeiten gibt es mitunter die Erwartung, dass man die entsprechenden Parteipositionen unterstützt.

epd: Ist dann für Sie eine Grenze überschritten?

Reimers: Wir achten immer darauf, gleichweiten Abstand zu allen Parteien zu wahren. Deshalb umgehen wir zum Beispiel alle Versuche von Parteien, uns zu einer gemeinsamen Pressekonferenz zu gewinnen. Das ist eine Lassoschlinge, die man öfters über uns legen will. Darauf können wir uns nicht einlassen. Die evangelische Kirche hat zwar keine Scheu, öffentlich Position zu bezeihen, aber das tun wir eigenständig als Kirche.

epd: Wie wichtig ist die Zusammenarbeit mit Ihrem Pendant, dem katholischen Büro?

Reimers: Eine Grundregel ist: Was gemeinsam möglich ist, sagen wir gemeinsam. Dann haben wir zum einen mehr Durchschlagskraft. Zum anderen sind unsere Themen selten von Lehrunterschieden der Kirchen berührt. Bei Themen, bei denen wir nicht völlig übereinkommen, artikulieren wir das gemeinsam, worüber wir einig sind, das Übrige wird getrennt vorgetragen.

epd: In bioethischen Fragen hat es zuletzt mit dem ökumenischen Schulterschluss nicht mehr ganz so reibungslos geklappt...

Reimers: Einen erkennbaren Dissens gab es in der Debatte über die Forschung mit embryonalen Stammzellen. Das hängt mit der Bewertung des Stichtages zusammen, der von Anfang an von der evangelischen Seite positiver gesehen wurde als schonender Ausgleich zwischen Forschungsfreiheit und Schutz des Lebens. Darin lag eine Spannung zwischen der evangelischen und der katholischen Position, die bei der Debatte über die Verschiebung des Stichtages sichtbar wurde.

epd: Wird durch diesen Dissens die Zusammenarbeit der beiden kirchlichen Büros in Berlin belastet?

Reimers: Nein. Denn die Zahl der Themen, in denen wir übereinstimmen und zusammenarbeiten können, ist so groß, dass so etwas verkraftbar ist, ohne die Stimmung nachhaltig zu trüben. Mit Blick auf unsere Arbeit kann ich sagen: Der ökumenische Frühling hält an.

epd: Sind Sie der Cheflobbyist der evangelischen Kirche?

Reimers: Nein. Mit Lobbyismus werden zumeist sehr enge Eigeninteressen assoziiert. Das Eintreten für Anliegen von Minderheiten oder für das Gemeinwohl machen aber mehr als 90 Prozent unseres Engagements aus. Unsere Dienststelle ist ganz überwiegend eine sozial-anwaltschaftliche Institution. Das biblische Wort ‚Tu Deinen Mund auf für die Stummem" bestimmt unsere Arbeit. Aber es ist richtig, dass ein kleiner Teil des Dienstes hier auch Arbeit für originär kirchliche Interessen ist.

epd: In Ihre Amtszeit fiel die Wahl von Bischof Wolfgang Huber zum EKD-Ratsvorsitzenden. Hat dieser starke Ratsvorsitzende, der sehr präsent ist in den Medien, Ihre Arbeit beeinflusst?

Reimers: Man darf nicht außer Acht lassen, dass unsere Dienststelle nicht primär auf der öffentlichen Bühne arbeitet. Deshalb kann es nur gut sein, wenn ein Ratsvorsitzender mit seinen öffentlichen Stellungnahmen Debatten voranbringt und damit auch Handlungsdruck erzeugt. Das hat unsere Arbeit erleichtert, weil die Politik interessiert ist auf eine Kirche zu reagieren, die sich Gehör verschafft.

epd: Sind Sie auch als Seelsorger von Politikern gefragt?

Reimers: Immer wieder kommt es vor, dass einzelne Politiker mich ansprechen, manchmal werde ich meinerseits initiativ. Insgesamt ist es so, dass Abgeordnete, die mit ihren Problemen zu einem Pastoren gehen wollen, dazu auch in ihren Wahlkreisen die Gelegenheit haben. Angefragt werde ich in der Regel, wenn es um politische Brüche oder das Ende von Karrieren geht. Dann biete ich auch von mir aus das seelsorgerliche Gespräch an. Ein Traditionsabbruch lässt sich dabei nicht feststellen. Es gibt eine Vielzahl von jüngeren Abgeordneten, die regelmäßig zu uns kommen. Meine Sorge, dass angesichts einer fortschreitenden Überalterung der Gesellschaft überwiegend ältere Menschen an unseren Angeboten teilnehmen, hat sich nicht bewahrheitet.

epd: Der Bevollmächtigte des EKD-Rates hat auch die europäische Politik im Blick. Hat die EU-Ebene an Gewicht gewonnen?

Reimers: Mein Eindruck ist, dass die EU-Ebene an Gewicht gewonnen hat. Allein wenn man auf die EU-Ratspräsidentschaft blickt, fällt auf, wie stark der Wechsel im Ratsvorsitz in den jeweiligen Ländern wahrgenommen wird. Jede Ratspräsidentschaft ist bestrebt, sich einzuschreiben in den Fortgang der EU-Geschichte. Darin liegt eine neue Qualität. Zudem ist die Gesetzgebungskompetenz der EU angewachsen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das uns sehr beschäftigt hat, ist dafür ein Beispiel. Auch der Versuch, Europa eine Verfassung zu geben und damit das Demokratiedefizit der EU zu verringern, ist ein klares Indiz für die wachsende Bedeutung der EU.

epd: Generell lässt sich eine gewisse EU-Müdigkeit beobachten. Bei den Wahlen zum Europaparlament blieben in Deutschland zuletzt mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten zu Hause. Steuert die EU auf eine Legitimationskrise zu?

Reimers: Die schwindende Akzeptanz ist in der Tat ein Alarmzeichen. Möglicherweise fällt es in Zeiten klarer Feindbilder leichter, Menschen "zusammenzuhalten". Eine Erklärung für die Europamüdigkeit ist auch, dass die politischen Prozesse auf EU-Ebene für den einzelnen Bürger sehr schlecht überschaubar sind und eigene Interessen meist nicht auf dem Spiel stehen. Dadurch ergibt sich eine Distanz zwischen Brüssel und den Bürgern, die schwer zu überbrücken ist. Von einer Legitimationskrise würde ich dennoch nicht sprechen. In den 1970er Jahren hatten wir eine Partizipationssehnsucht. Die heutige Zeit ist viel stärker individuell geprägt, damit nehmen automatisch Bindungen an Institutionen und Ideen ab.

04. August 2008