Predigt in der Christuskirche in Windhoek

EKD-Ratsvorsitzender Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm

Liebe Brüder und Schwestern,

wir sind zusammengekommen als Christen aus Namibia und Deutschland. Als Menschen mit sehr verschiedenen Hintergründen und Lebenserfahrungen. Als Menschen mit einem sehr unterschiedlichen Erbe, dem wir treu zu sein versuchen. Und gleichzeitig als Menschen, die miteinander verbunden sind durch eine schöne und befreiende Botschaft: die Botschaft, dass Jesus Christus uns befreit hat von der Sünde, dass er alles überwunden hat, das uns trennt von Gott und von unseren Mitmenschen, dass wir gerechtfertigt sind nicht durch unsere Werke, sondern allein durch den Glauben, und dass uns Gott jeden Tag einen neuen Anfang schenkt. Dass wir einander nicht mehr zu richten brauchen, dass wir uns nicht mehr gegeneinander verteidigen müssen. Dass wir lernen dürfen demütig zu sein.

Demut ist die Schwester der Rechtfertigung durch den Glauben. Denn durch die Rechtfertigung verstehen wir, dass es Gott alleine ist, der Leben spendet, dessen eigene Liebe der Ursprung ist unserer Liebe zu uns selbst und unserer Selbstachtung und unserer Liebe zu anderen.

Es ist wichtig, an diesen festen Grund unseres Lebens zu erinnern, wenn wir als Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammenkommen, so wie wir uns heute in dieser Kirche versammelt finden, wenn wir die Vergangenheit betrachten, um für die Zukunft bereit zu sein.

In Erinnerung an das, was in der Vergangenheit zwischen Deutschland und Namibia geschehen ist, sind wir miteinander verbunden auf einer langen gemeinsamen Reise, nicht nur der Schuld und der Scham, noch gar nur des Schmerzes, Kummers oder Zorns, sondern auf einer Reise, die der Herr aller Gnaden uns bereitet hat.

Wie Psalm 25 sagt: „Gedenke, HErr, an deine Barmherzigkeit und deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.“ Durch die Erinnerung an Gottes Gnade können wir die Lasten der Vergangenheit überwinden, denn er „erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“ (Röm 5,8).

Die Lasten der Vergangenheit zu sehen und auf Gottes Gnade zu vertrauen, ist kein leichtfertiger Ausweg. Es ist nicht das, was Dietrich Bonhoeffer „billige Gnade“ nennt. Im Gegenteil, es bewegt uns dazu, dass wir uns den dunklen Seiten unserer Vergangenheit mutig stellen. Denn wir wissen um Gottes Gnade, und dass „Güte zur Buße leitet“ (Röm 2,4).

Deswegen wollen wir in Deutschland unsere Rolle betrachten im Genozid an den Herero, Nama und Damara im Jahr 1904. Vielleicht gibt es dafür keinen besseren Zeitpunkt, als den Nachgang dieses sehr besonderen Jahres, das wir 2017 durchlebt haben.

In diesem vergangenen Jahr haben Lutheraner überall auf der Welt, zusammen mit vielen Christen anderer Konfessionen, des 500. Reformationsjubiläums gedacht. Historische Grundlage waren die 95 Thesen, die Martin Luther vor genau 500 Jahren veröffentlicht hat. Diese Thesen beginnen mit einem Bußruf: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht ‚Tut Buße‘ [...] (Mt 4, 17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll“.

Im Sinne dieses Rufes äußerte sich 2002 der Vorsitzende des Komitees der Bischöfe für das Gedenken an den Völkermord, Bischof Dr. Kameeta, ich zitiere: „Es ist unser Anliegen auf unserem Weg zur Versöhnung, die Geschichte genau zu betrachten – wir tun die Last der Geschichte nicht ab mit einem Achselzucken auf unserem steinigen Weg zur Versöhnung, sondern wir wollen die Geschichte gebrauchen wie ein Fährtensucher auf dem Weg zu einer besseren geeinten Zukunft – einer Zukunft ohne Angst und im Vertrauen zueinander. Wenn wir über Gräuel sprechen, wollen wir einander besser kennenlernen, um einander über unsere Vergangenheit zu berichten, um unsere Geschichten zu erzählen, privat und in der Öffentlichkeit, und um einen geeinten Weg zu finden, aus der Vergangenheit zu lernen. Wir wollen keine historischen Fakten aufdecken, um neue Wunden zu schlagen.“

Ich halte das für eine bemerkenswerte Aussage, die viele wichtige Punkte miteinander verbindet von dem, was die mennonitische Kirche die Form des „rechten Erinnerns“ nennt. Die Mennoniten wissen sehr wohl von Grausamkeit, da sie in nachreformatorischen Zeiten schwer unter religiöser Verfolgung litten, sogar durch lutherische und reformierte Kirchen. Wie der wohlbekannte Gedanke von der „Heilung der Erinnerungen“, so zielt auch die Vorstellung vom „rechten Erinnern“ auf Heilung und Versöhnung, bezieht aber stark die Dimension der Wahrheit und – am wichtigsten – die der Gerechtigkeit mit ein. Der Begriff des „rechten Erinnerns“ umfasst drei Elemente:

  • Die Dimension der Wahrheit: die Bereitschaft, verdrängte Akte der Grausamkeit zu erkennen und zu benennen.
  • Die Dimension der Gemeinschaft: die Erschließung von zuvor verdeckten Identitäten, traumatisiert durch eine Konfliktgeschichte von sowohl Opfern als auch Tätern, um neuen gemeinsamen Boden für Versöhnung zu finden.
  • Und die Dimension der Gerechtigkeit, die Gemeinschaft wiederherstellt: das Streben, Folgen vergangenen Unrechts zu beheben und den Weg zu ebnen zu einer besseren Grundlage für ein Leben in Gemeinschaft.

Als Pfarrer und als Bischof kann ich mich nicht äußern zu Fragen der gesetzlichen Wiedergutmachung. Damit müssen sich die Gerichte beschäftigen. Aber es ist klar, dass ein Anerkennen der Vergangenheit immer mit einer Verpflichtung für die Zukunft verbunden ist. Unsere EKD-Erklärung hat einige konkrete Zeichen der Reue und der Versöhnung vorgeschlagen, wie die Unterstützung von Bemühungen zur Identifizierung und Gestaltung von Gedenkorten zum Genozid in Namibia und Deutschland, Einbeziehung des Völkermords in die schulischen Lehrpläne oder die Unterstützung des Projekts der Gründung eines namibisch-deutsches Instituts für Versöhnung und Entwicklung, wie 2004 von den namibischen Kirchen angeregt.

Lassen Sie uns zusammen fragen: Wie können wir aus dem Unrecht der Vergangenheit lernen? Wo spüren wir die Folgen noch heute? Und was können wir tun, um dieses Unrecht zu überwinden?

Nichts, was wir heute tun können, kann die Vergangenheit umkehren. Wir können die Toten nicht zurückbringen, wir können ihren Schmerz nicht ungeschehen machen. Aber wir können die Verantwortung und die Herausforderungen annehmen, vor die uns vergangene Generationen hier und jetzt gestellt haben, heute, als Träger einer solchen gemeinsamen Geschichte, wie sowohl Bischof em. Kameeta als auch Bischof Keding beide betont haben.

Beide Länder, Deutschland und Namibia, sind in der Vergangenheit durch dunkle Zeiten gegangen und haben eine zweite Chance bekommen. Von der manche, auch unter uns, niemals dachten, dass wir sie bekommen würden: In Deutschland erfuhren wir die unverdiente Gnade Gottes in der Befreiung vom Nazi-Regime. In Namibia war das Ende der Herrschaft der Apartheid das Ergebnis eines langen Kampfes mutiger Menschen – aber sogar hier: letztendlich war es ein Geschenk Gottes. Die demokratischen Verfassungen und die Freiheit der Rede, der Bewegung, der Bildung und viele weitere Rechte, die wir in beiden Ländern genießen, sind täglicher Ausdruck dieses Geschenks.

Es gibt viele Missverhältnisse, viele Ungerechtigkeiten gar, unter uns, in der Verteilung von Reichtum, Einkommen, Möglichkeiten. Eben diese Erfahrung der Gnade Gottes und unserer Dankbarkeit für sie lässt uns handeln, um diese Ungerechtigkeiten zu überwinden und den Opfern des Völkermords ihre Würde zurückzugeben. Um eine würdige liturgische Gestaltung zu finden für die Begleitung der Übergabe von Gebeinen der Opfer der kolonialen Vergangenheit, die sich noch in Museen oder gar in Privathäusern befinden, an ihre rechtmäßigen Begräbnisstätten in Namibia.

In all dem ist es vielleicht das Wichtigste, zuzuhören und miteinander zu sprechen. Jede einzelne unserer Geschichten zu hören und zu ehren, so verschieden und widersprüchlich sie sein mögen. Durch die Gnade Gottes zusammenzubleiben, wo wir uns sonst voneinander entfernen würden. Wir haben in den letzten 36 Stunden erfahren, wie unterschiedlich die Geschichten sein können. Aber wir haben auch die heilende Kraft des Hörens und Zuhörens erfahren.

Brüder und Schwestern, lasst uns auf diesem Weg weitergehen. Lasst uns niemals nachgeben den Mächten der Angst, der Entzweiung, des Unverstands gegenüber Ungerechtigkeit oder sogar Hass. Öffnen wir uns wieder und wieder der Kraft der Gnade Gottes. Lassen wir uns erneuern, durch den Glauben, durch die Liebe und durch die Hoffnung.

Amen.

(Es gilt das gesprochene Wort)