Die Protestantische Revolution in der DDR

Welche Rolle spielte die evangelische Kirche? Vom Sprachraum der Freiheit zum politischen Akteur

Fürbittengottesdienst in der Berliner Samariterkirche am 26. Januar 1988, Gitarrespieler und Gemeinde, voll besetzte Kirche.

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Dreißig Jahre Friedliche Revolution – und die Debatte läuft. Detlef Pollack, 1989 noch Leipziger, breitet in einem Essay in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seine Deutung der Friedlichen Revolution aus, nach der die Opposition in der DDR eine nur marginale Rolle für die politische Umwälzung der Verhältnisse spielte, und legt mit der Behauptung nach, dass die oppositionellen Gruppen den größten Teil der DDR-Bevölkerung „verachteten“. Das ruft den Widerspruch von Forschern und Aktiven auf den Plan, die mit guten Argumenten darauf bestehen, dass in einer Revolution stets eine Minderheit der Mehrheit den Weg bahnt und in bestimmten Phasen 1989/90 die Stimme der Opposition durchaus entscheidend war.

Gerät die Rolle der Kirchen in Vergessenheit?

Da fällt es fast nicht auf, dass von der evangelischen Kirche und ihrer Rolle kaum mehr die Rede ist. Der frühere Leipziger und heute Münsteraner Religionssoziologe hat sie einfach weggelassen. Denn neu sind seine Thesen nicht. Er hat sie ausführlich vorgetragen auf einer legendären Tagung in München, die 1992 nach der „Protestantischen Revolution“ fragte. Damals hieß der Titel seines Vortrages noch: „Der Umbruch in der DDR – eine protestantische Revolution? Der Beitrag der evangelischen Kirchen und der politisch alternativen Gruppen zur Wende 1989.“ Drei Jahre nach den Ereignissen, als Viele noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Kerzen, der Gewaltlosigkeit und der Stellvertreter-Funktion der protestantischen Kirchen für die protestierenden Massen standen, vertrat er die These, dass die Kirchen lediglich für die „Focussierung des Massenprotestes“ eine Rolle spielten, jedoch einen geringen Einfluss „auf die Verhinderung von Gewalt“ gehabt hätten. Eine protestantische Revolution gab es nach dieser Lesart nicht.

Setzt sich diese Deutung der Ereignisse, die drei Jahre nach 1989 den meisten Zeitgenossen noch als sonderbar erschien, nun – dreißig Jahre danach – letztlich durch? Gerät mit dem gesellschaftlichen Relevanzverlust der Kirchen im 21. Jahrhundert auch ihre bedeutende Rolle für eines der wichtigsten nationalen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts in Vergessenheit? Verschwindet mit diesem Vergessen auch die Vorstellung einer Kirche jenseits des institutionell bestens abgesicherten und durch das Grundgesetz gesicherten religiösen Lebens?

Ein verletzlicher Sprachraum der Freiheit

Die Evangelische Kirche in der DDR der Achtzigerjahre war für Viele, die in ihr aufwuchsen und am Gemeindeleben teilnahmen, ein Sprachraum der Freiheit. Kirchen und Gemeindehäuser mit ihrem morbiden Charme, in dem es nach Bohnerwachs, altem Holz und staubigen Gesangbüchern roch, öffneten eine Welt, die sonst nirgendwo in der DDR betreten werden konnte – man lernte, Dinge zu hinterfragen, man saugte geistige Nahrung auf, von der Bibel bis zu Volker Brauns Roman Hinz und Kunz, man lernte, wie man seine Würde bewahrt wider die alltäglichen Zumutungen und Demütigungen, die einem das Land zufügte, in dem man lebte. Man erfuhr Dinge, die weniger mit Frommsein, aber viel mit Kultur und Identität zu tun hatten – beglückende Erfahrungen im Miteinander von „Rollern und Latschern“, Menschen mit und ohne Behinderungen. Erschütternde literarische Begegnungen mit dem Holocaust und lebendige mit seinen wenigen Überlebenden, die in der DDR ausharrten. Orgelkonzerte in den verfallenden Kirchen, die reiche musikalische Tradition von Bach bis zu den Spirituals. Man ließ sich von der Stille der uralten Dome umhüllen und wusste, dass man mit Gott doch über Mauern springen konnte. In staatlichen Räumen roch es anders, schmeckte das Essen anders, war der Druck, sich der intellektuellen Verdummung zu unterwerfen, das Normale. Über den Holocaust gab es drei Zeilen im Geschichtslehrbuch der Oberstufe. Menschen mit Behinderungen kamen im sozialistischen Alltag nicht vor.

Die Kirche war ein Sprachraum der Freiheit, aber ein verletzlicher. Da war die Angst. Täglich, stündlich, immer. Die Angst vor einem Staat, der jederzeit die Träume von Zukunft, für die Ausbildung, das Studium – das eigene oder das der Kinder, den kleinen Raum Bewegungsfreiheit zerstören und nehmen konnte. Wie man diesen Zustand verkraftete, hing von verschiedenen Faktoren ab, von der Generation, der man angehörte, von der Position, die man innerhalb der Kirche einnahm und von der fragilen oder stabilen privaten Lebenssituation und natürlich von der Persönlichkeit. Manchmal wurde die Angst weggelacht, wenn zum Beispiel bei Vorbereitungstreffen für Jugendgottesdienste im Gemeindehaus sehr laut in den Raum hineingerufen wurde: „Und jetzt: für die Genossen zum Mitschneiden!“

Ende der Achtzigerjahre veränderte sich die Kirche

Am Ende der Achtzigerjahre geriet der Sprachraum mehr und mehr zum Resonanzraum. Menschen kamen in die Kirchen, die vorher nicht da waren, und die Menschen, die vorher schon da waren, veränderten sich. In die Angst mischte sich der Mut. Die Stasi mischte auch immer mit, aber das war nicht das Entscheidende. Entscheidend war, dass das Bonhoeffersche Ideal von einer „Kirche für Andere“ auf überraschende Weise neu interpretiert wurde. Die „Anderen“ waren oppositionelle Gruppen, Dissidenten, Ausreisewillige, auch neugierige SED-Genossen. Eine neue Generation von kirchlichen Mitarbeitern lockte nicht nur die aufmüpfigen Teile der Gesellschaft in die Kirchen, sondern auch Diskussionen und Debatten über den Frieden (War nicht das biblische Wort von den Schwertern zu Pflugscharen Motiv einer sowjetischen Skulptur vor den UN in New York?), über die Gerechtigkeit im eigenen Land (War nicht der hundertfach biblisch belegte Begriff ein Grundmotiv der sozialistischen Gesellschaft?) und die Bewahrung der Schöpfung (Musste nicht endlich die unerträgliche Umweltsituation thematisiert werden?).

Jenseits staatlicher Strukturen organisierte sich ein landesweiter kirchlicher Prozess, offen für die Gesellschaft. Mehr als 12 000 Menschen nahmen daran teil. Hier immerhin schätzte die Stasi realitätsnah ein, dass die Textentwürfe des Konziliaren Prozesses mit seinen Ökumenischen Versammlungen „den aktuellsten komplexen Forderungskatalog hinsichtlich gesellschaftspolitischer Veränderungen in der DDR“ darstellten.

Überschritt die Kirche damals ihre Kompetenzen?

Die politisch-ethische Frage, ob Kirche damit ihre Kompetenzen überschritt und anstelle einer gesellschaftlichen Bewegung einen politischen Grundsatzprozess organisierte, stellte sich für die Beteiligten nicht. Die Kirchen verfügten über Ressourcen – Versammlungsräume, eloquente Stimmen, Westkontakte und unabhängige Glaubwürdigkeit. Und sie standen, obwohl inzwischen zu einer minoritären Organisation geschrumpft, in der Tradition eines lutherischen Protestantismus mit volkskirchlichem Selbstverständnis.

Einzig der leider viel zu früh verstorbene Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Nowak erkannte in dieser Stellvertreterfunktion einen „protestantischen Gouvernementalismus“, also die Neigung, sich in einem – nun minoritären – volkskirchlichen Verständnis für das Ganze des Staates und der Gesellschaft verantwortlich zu fühlen. Die Übernahme politisch-organisatorischer Funktionen, die evangelischen Kirchen und Gemeinden zeitweise wahrnahmen, stand in der Tradition einer Kirche, die aufgrund ihrer Geschichte und institutionellen Kraft auf Augenhöhe mit dem Staat, aber als eigenständige Organisation verhandelte.

Nowak erkannte darin eine „Bewusstseinsfalle der volkskirchlichen Tradition“ und kritisierte, dass die Kirchen eigentlich andere intermediäre Organisationen wie Gewerkschaften und Parteien hätten ermutigen müssen, ihre Aufgaben der politischen Willensbildung wahrzunehmen, anstatt ein stellvertretendes politisches Mandat für die Bürgerinnen und Bürger ausüben zu wollen. Mit der Kritik war Nowak seiner Zeit voraus. Denn in der historischen Situation war es gerade das Fehlen einer selbständigen Organisation wie der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc in Polen, das den Akteuren in der Evangelischen Kirche den Raum öffnete, stellvertretende Stimme einer unzufriedenen Gesellschaft im Umbruch zu werden. Es wäre ein später Sieg der SED, wenn diese Rolle, die die Kirchen aus politisch-ethischer Verantwortung übernahmen, ins Vergessen gestoßen würde. Denn eine der tiefsten Narben, die die kommunistische Diktatur hinterlassen hat, ist die dauerhafte Entkirchlichung weiter Teile der Bevölkerung in den fünf östlichen Bundesländern. Die Marginalisierung der Kirchen als Institutionen und der Christinnen und Christen als Menschen fand 1989/90 ihr Ende, aber ihre Minorisierung hält weiter an.

Option für Gerechtigkeit – Freiheit bleibt Leerstelle

Es hat bis in die späten Neunzigerjahre gedauert, dass sich die DDR-Christinnen und Christen im politischen und weltanschaulichen Meinungsfeld der Bundesrepublik arrangiert und zusortiert hatten, was allein am Beitritt zu bestimmten Parteien, teilweise auch an dem Wechsel von einer zur anderen deutlich wurde. Die schwierige Aufgabe, die dabei zu lösen war, bestand für Viele darin, die Idee einer gerechteren Gesellschaft weiterhin als legitimes politisches Anliegen zu vertreten, aber nicht im Gegenüber zu sozialistischer Staatlichkeit, sondern gewissermaßen in der Gestalt eines „verbesserlichen Kapitalismus“. Dass sich eine tendenzielle Mehrheit der evangelischen Wortführer und wenigen Wortführerinnen im sozialdemokratischen Spektrum wiederfand, hatte mit ihrer vorrangigen Option für den Begriff der Gerechtigkeit vor dem Begriff der Freiheit zu tun. Freiheit bleibt die große Leerstelle der Protestantischen Revolution. Politische Freiheit ist nicht die Voraussetzung christlicher Freiheit. Eher verhält es sich umgekehrt: Die Grenzen überschreitende Freiheit des christlichen Gewissens hat nicht nur im 20. Jahrhundert politische Freiheit erwirkt. Aber ohne die Möglichkeit zu freier Rede, ohne die Freiheit sich friedlich zu versammeln, ohne die Freiheit zu sagen, was ist, sind die Möglichkeiten der Gestaltung der Gesellschaft auch für Christinnen und Christen gravierend eingeschränkt – und das ist an vielen Orten der Welt der Fall, und es ist teilweise im digitalen Raum der Fall.

Die Freiheit, sich einzumischen und sich einzubringen, die Freiheit, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen – diese Freiheit lebt aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen, der den aufrechten Gang übt und allen apokalyptischen Versuchungen zum Trotz zur Hoffnung fähig ist. Hoffnung wiederum beginnt mit Befreiung – von Angst vor der eigenen Courage, vor dem Verlust von Privilegien, vor Kritik. Die von protestantischer politischer Ethik geprägte Friedliche Revolution war Ausdruck einer nie dagewesenen Freiheit zur Verantwortung, ein Neuaufbruch, der aus der Tradition schöpfte.

Das emanzipatorische Momentum der Friedlichen Revolution, der Schritt hinaus in die Freiheit des Ungewissen, bietet dreißig Jahre danach eine Quelle der Inspiration für selbständiges Kirchesein, auch und gerade in der liberalen Gesellschaft.

Ellen Ueberschär (für zeitzeichen)


Ellen Ueberschär ist Vorstand der Heinrich Böll Stiftung e.V.  Sie war langjährige Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages.

Literatur:

Christof Ziemer: Der Konziliare Prozess in den Farben der DDR. Expertise für die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der sed-Diktatur in Deutschland, zitiert in: Heino Falcke: Wo bleibt die Freiheit? Christ sein in Zeiten der Wende. Freiburg 2009, Seite 94

Kurt Nowak: Zum historischen Ort der Kirchen in der DDR, in: Clemens Vollnhals (Hg.): Die Kirchenpolitik von sed und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz, Berlin, 1996, Seite 9–28, 24

Detlef Pollack: Protestantische Revolution? zitiert in: Trutz Rendtorff: Protestantische Revolution? Göttingen 1993, Seite 4 –72