„Die Zerbrochenheit wird gewürdigt“

Pfarrer Martin Germer zum Jahrestag des Terroranschlags an der Gedächtniskirche

Am 19. Dezember jährt sich der Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz nahe der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zum ersten Mal. Bei der Gewalttat starben zwölf Menschen, mehr als 60 wurden teilweise schwer verletzt. Der Evangelische Pressedienst (epd) sprach mit Gedächtniskirchen-Pfarrer Martin Germer über das Gedenken an die Opfer und die Erinnerung an den Abend.

Pfarrer Martin Germer zwischen Trauerkerzen, Blumen und Kreuzen
Pfarrer Martin Germer möchte auch in Zukunft für die Angehörigen der Opfer da sein. Die direkt Betroffenen werden weiter Unterstützung brauchen.

Herr Pfarrer Germer, wie haben Sie den 19. Dezember 2016 erlebt?

Martin Germer: Am Abend des Terroranschlags war ich zufällig in der Nähe des Anschlagsortes. Die Landeskirche informierte mich telefonisch, dass am Breitscheidplatz etwas Schlimmes mit einem Lkw geschehen ist. Sofort habe ich an den Terroranschlag in Nizza gedacht. Ich ging dann gleich zum Breitscheidplatz, aber in den Bereich des Anschlagsortes bin ich nicht gekommen, die Polizei hatte das Gelände sehr schnell abgesperrt.

Sie haben sozusagen funktioniert in Ihrer Position als Pfarrer?

Germer: Natürlich waren ich, meine Kolleginnen und ehrenamtliche Helfer gefordert, für die Menschen da zu sein. Aber ja, es war eine Riesenaufgabe. Manchmal habe ich mich gefragt, wie geht das alles in so einer Situation? Ich sag mal ein kleines bisschen fromm: Es gibt eine Bibelstelle, in der es heißt, sorgt euch nicht, was Ihr sagen wollt, der Heilige Geist wird durch Euch reden. So habe ich meinen Beitrag zu leisten versucht. Aber ja, das war schon sehr viel. Für mich war es wahrscheinlich ein Glück, dass ich das ganz unmittelbar Schreckliche nicht hatte sehen müssen. Ich weiß nicht, ob ich sonst an diesen ersten Tagen überhaupt so hätte agieren können.

Wie zufrieden sind Sie mit dem dauerhaften Gedenkort, der am 19. Dezember eingeweiht wird und der in die Stufen vor der Gedächtniskirche integriert ist?

Germer: Der Entwurf ist eine gute Lösung. Wie er sich bewährt, muss sich erst noch zeigen. Ich gehe davon aus, dass auch künftig dort immer wieder Kerzen und Blumen stehen werden. Bestandteil des Entwurfs ist, dass es das Denkmal verträgt, wenn auch mal Menschen darüber laufen. Sie werden es hoffentlich nicht achtlos tun. Der Gedenkort ist ein Bereich, der normalerweise wenig begangen wird. Wenn man davor steht, sieht man es gut und man wird sich dann auch entsprechend verhalten. Der Gedenkort ist nicht besonders abgesperrt. Es war von Beginn an die Vorgabe, dass es kein hervorstechendes, separat stehendes Denkmal sein soll.

Was symbolisiert der goldene Riss?

Germer: Der Entwurf orientiert sich an einer japanischen Technik: Wenn ein kostbares Gefäß zerbricht und man es wieder zusammenfügt, werden die Risse sichtbar gemacht mit ein bisschen Goldstaub. Damit wird die Zerbrochenheit gewürdigt. Der Riss in dem Denkmal symbolisiert für mich unter anderem das individuelle Leben. In das Leben der Betroffenen ist etwas Schreckliches hereingebrochen, und das Leben ist nicht mehr, wie es vorher war. Diese Erschütterung, dieser Schmerz, diese Wunde wird damit ausgedrückt. Aber auch der gesellschaftliche Zusammenhalt, der einerseits einen tiefen Riss erfahren hat, aber andererseits dadurch glücklicherweise nicht zerstört worden ist – eher im Gegenteil.

Wie soll die Aufarbeitung des Terroranschlags nach dem ersten Jahrestag weitergehen?

Germer: Die direkt Betroffenen werden weiter Unterstützung brauchen. Dafür stehen wir auch als Kirche gerne zur Verfügung, wenn wir helfen können. Es muss weiter an den Sicherheitsfragen, Präventionsaufgaben und Fragen zur Entschädigung gearbeitet werden. Wir an der Gedächtniskirche werden uns zudem weiter dem Umgang zwischen den Religionen widmen. Wir haben in diesem Jahr Kontakt zu einer – aus unserer Sicht – sehr engagierten muslimischen Gemeinde gewonnen. Auch darüber hinaus sind wir im Bereich des interreligiösen Dialogs tätig und wollen auch künftig als Gedächtniskirche und als dem Gedanken der Versöhnung verpflichtete Gemeinde in der Nagelkreuzgemeinschaft von Coventry ein stetiger Partner dafür sein. Wir wollen mit Vertretern des Christentums und des Islams ebenso wie mit Vertretern anderer Religionen und Weltanschauungen Signale für ein friedliches Miteinander setzen.

epd-Gespräch: Christine Xuân Müller