ZDF-Gottesdienst in der Heilig-Kreuz Kirche Berlin

Margot Käßmann, Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017

Wer bin ich schon, was kann ich schon tun als Einzelne mit Blick auf die Herausforderungen, vor denen unsere Kirche und unsere Welt stehen? Martin Luther war überzeugt, dass jeder Mensch eine Berufung und damit einen Beruf, eine Gabe und damit eine Begabung hat. Und wenn viele Menschen auch nur etwas Kleines beitragen, dann kann sich Großes ändern. Davon erzählt schon eine Geschichte aus dem Matthäusevangelium:

Pfarrerin von Bremen: Lesung Matthäus 14, 13-21

Predigt

Liebe Gemeinde,

ja, das hört sich wirklich nach einem Wunder an! Da sollen fünftausend Männer satt geworden sein von fünf Broten und zwei Fischen. Und wenn fünftausend Männer gezählt wurden, dann müssen wir sicher noch Frauen und Kinder dazu rechnen, die ebenfalls anwesend waren, das schreibt ja Matthäus. Und wir wissen aus der Sozialgeschichte jener Zeit, dass Familien in der Regel zusammen zu solchen Ereignissen gingen.

Stellen wir uns die Situation nun noch einmal in Ruhe vor. Jesus wollte sich eigentlich zurückziehen, er merkt, dass er Ruhe braucht. Die Menschen aber hängen an ihm, sie wollen ihm nahe sein. Und so folgen sie ihm. Salopp würden wir heute sagen: Die Fans lassen ihn halt nicht in Ruhe. Er schickt jetzt aber nicht seine Bodyguards vor, um die Menschen zu vertreiben, sondern sie „jammern“ ihn, wie Matthäus es beschreibt. Damit ist sicher weniger Mitleid gemeint als Mitgefühl, Empathie. Jesus begreift, wie groß die Sehnsucht der Menschen ist nach Sinn für ihr Leben, nach Veränderung ihrer Lebenssituation. Und so wendet er sich ihnen zu, spricht zu ihnen, heilt offenbar Kranke.

Als es Abend wird, ist die Frage, was nun werden soll. Die Jünger sind pragmatisch: Soll doch jeder gehen und irgendwie für sich selbst sorgen. Jesus aber weiß, wieviel Kraft Menschen aus Gemeinschaft schöpfen können, welche Bereicherung es ist, beieinander zu bleiben. Und so fragt er, was denn vorhanden ist. Fünf Brote und zwei Fische. Das ist ein lächerliches Resultat, wenn ein paar Tausend Menschen satt werden sollen. Aber sie werden satt.

Wie sollen wir uns das vorstellen? Wie einen Blitzstrahl von oben, mit dem Gott die Brote und Fische vervielfacht? So hätte das sicher ein amerikanischer Spielfilm aus den 50er Jahren dargestellt. So wie Ben Hur oder Mose, viele von uns haben diese Hollywoodschinken gesehen. Ich denke, es wird anders gewesen sein. Jeder und jede von ihnen kennt doch die Situation: Du machst dich auf den Weg, du weißt nicht, wie lange es dauern wird, also nimmst du ein paar belegte Brote mit, eine Flasche Wasser, vielleicht noch ein Stück Wurst oder Käse. Und wenn es Familien sind, dann ist da ein ganzer Rucksack voll mit allem, was im Notfall nötig sein könnte: Windeln, Spielzeug, Gummibärchen. So ähnlich wird es damals auch gewesen sein. Die Menschen lagern sich, als Jesus das vorschlägt. Sie sehen, wie er Brot und Fische den Jüngern gibt zum Verteilen. Und sie beteiligen sich. Sie schauen, was sie in ihrem Handgepäck haben, was brauchbar sein könnte. Und siehe da, wenn alle zusammenlegen, dann werden auch alle satt. Jeder hat etwas beizutragen. Der eine vielleicht nur ein Stück trockenes Brot, die andere Datteln und Feigen, wieder einer getrockneten Fisch und eine weitere den Kuchen vom Vortag. Das Wunder besteht darin, dass die Menschen sich einander öffnen, dass sie teilen, dass sie erkennen: Ich hätte da auch noch eine Kleinigkeit.

Sie meinen, das gibt es nicht? Doch, das habe ich neulich in klein in einem IC von Berlin Hauptbahnhof nach Züssow erlebt. Der Zug war voll, Zubringer zur Ostsee, Sommerferien, Familien, Kinderwagen, die die Durchgänge verstellen, nicht genügend Sitzplätze für alle, leicht gereizte Stimmung. Und dann die Durchsage: „Leider steht unser gastronomischer Service auf dieser Strecke heute nicht zur Verfügung. Wir bitten um Entschuldigung.“ Ein kollektives entnervtes Stöhnen ging durch den Zug. Viele hatten sich darauf verlassen, hier ein Sandwich zu kaufen, vielleicht sogar Mittag zu essen, aber zumindest doch mit Getränken versorgt zu werden. Aber dann entstand eine Art Bewegung. Ein älterer Mann sagte zu den Kindern um ihn herum: „Also ich hätte da noch ein paar Äpfel dabei“, und begann sie mit dem Messer zu zerschneiden und zu verteilen. Anschließend tauchten Wasser, Saft, belegte Brote, Schokolade aus Taschen und Rucksäcken auf. Es wurde eine fröhliche, fast gelöste Stimmung unter Menschen, die sich vorher nicht kannten. Man höre und staune: In der Deutschen Bahn geschehen Zeichen und Wunder!

Für mich ist die Geschichte von den zwei Fischen und fünf Broten eine, die zuallererst zeigt: Wenn Menschen sich zusammentun, können sie etwas verändern. Es stimmt schon, manchmal hätten wir gern mehr, was wir einbringen würden, da verzagen wir angesichts von nur fünf Broten und zwei Fischen. Aber, Gemeinschaft kann etwas verändern. Dann fühlst du dich nicht hilflos und allein, sondern du bist gefragt, du kannst dich einbringen. Wir haben gehört, was das hier in dieser Kirchengemeinde bedeutet. Und genau das war ja die Überzeugung der Reformatoren: Jeder Mensch hat eine Gabe, eine Begabung. Deshalb hat jeder Mensch, so sagte Martin Luther, einen Beruf, weil er eine Berufung hat. Die muss nicht gleich weltbewegend großartig sein. Für ihn trägt die Magd, die den Besen schwingt, genauso zur Gemeinschaft bei wie der Fürst, der das Land regiert. Beide Gaben werden benötigt.

Das ist eine wichtige Botschaft heute hier in der Stadt Berlin, aber auch in unserem Land, in unserer Welt. Jeder Mensch ist gleich viel wert! Die Obdachlose hier vor der Tür ist genauso viel wert wie die Bundeskanzlerin, der Unternehmer genauso viel wie der sterbende alte Mann, an dessen Bett die Pastorin die Hand hält. Für unsere Gesellschaft ist das eine Herausforderung. Wir werten nämlich Menschen. Danach, ob sie viel Geld verdienen, schön sind, in den Medien vorkommen. Die christliche Wertigkeit hält dagegen: Jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes. Und jeder Mensch hat eine Gabe. Die einen können zuhören, die anderen (hoffentlich) gut regieren. Die einen können ein Unternehmen leiten, die anderen für andere beten.

Mir ist das einmal deutlich geworden, als ich den Gottesdienst zum zehnjährigen Bestehen eines Hospizes gehalten habe, das ich mit eingeweiht habe. Bevor ich zur Predigt nach vorn ging, sagte die Leiterin: „Frau Käßmann, ich verstehe nicht, wie sie das schaffen, immer da vorne zu stehen und zu reden! Davor hätte ich Angst.“ Ich habe gesagt: „Schwester Gabriele, ich verstehe nicht, wie Sie es seit so vielen Jahren schaffen, Sterbenden so intensiv beizustehen, davor habe ich einen riesigen Respekt.“ Wir haben beide gelacht. Wir haben verschiedene Gaben, aber es weht ein Geist, der Geist Gottes, so drückt es der Apostel Paulus aus.

Die Reformation war eine Beteiligungsbewegung. Nicht mehr der Priester oder die Kirche vermitteln jetzt das Heil. Nein, die einzelnen Menschen können direkt zu Gott beten. Sie können sich selbst eine Meinung bilden. Luther hat die Bibel in die deutsche Sprache übersetzt, Schulen für alle gefordert, damit alle auch selbst nachlesen und damit selbst denken können. Es sind jetzt eben gerade nicht mehr „die da oben“, die das Wissen für sich allein haben und entscheiden, sondern alle, die mitgestalten können.

Und solches Mitdenken, solche Gemeinschaft, die ermutigen auch heute. Nach der Bundestagswahl war ich wirklich deprimiert, dass so viele Menschen in den Bundestag gewählt wurden, die Fremdenhass, Verachtung für andere predigen, das Holocaustmahnmal als „Mahnmal der Schande“ bezeichnen, und unter Politik verstehen, dass sie andere „jagen“ wollen, die „political correctness“ auf „den Müllhaufen der Geschichte“ zu werfen gedenken. Da kam am nächsten Tag eine Email, in der ich aufgefordert wurde, einen Brief an die AfD zu unterschreiben.

„Sehr geehrte AfD,
wir sind die 87 Prozent, die euch nicht gewählt haben.
Wir sind links der Mitte, rechts der Mitte und genau auf der Mitte. Wir sind Menschen jedes Geschlechts, jedes Alters, jeder Herkunft, jeder Religion, jeder Hautfarbe, jeder sexuellen Orientierung, jeder politischen Richtung. Wir sind die, die unser Land zu dem machen, was es ist.
Und wir stehen auf gegen euren Rassismus.
Wir stehen für ein weltoffenes, soziales, liberales, vielfältiges Deutschland, in dem kein Platz ist für Fremdenfeindlichkeit. Wo ihr Mauern ziehen wollt, bauen wir Brücken. Wo ihr Hass verbreiten wollt, reagieren wir mit Zusammenhalt. Das hier ist unser aller Land und ihr “holt es euch nicht zurück.“

Ich unterschreibe so etwas eigentlich nie. Aber hier hatte ich das Gefühl: Du bist nicht allein mit deiner Enttäuschung und Beunruhigung über diese Entwicklung, da gibt es Tausende, die genauso denken. Und es war schön zu sehen, wie der Zähler sekündlich nach oben ging…

Wunderbar an der Speisungsgeschichte ist aber auch, wie gemeinsames Essen Gemeinschaft erst schafft. Wir haben das in diesem Reformationsjubiläumsjahr an verschiedenen Stellen ausprobiert. In Erfurt gab es beispielsweise eine Tafel mitten auf dem Domplatz. Menschen aus der Stadt, Christen, Muslime, solche ohne Religion kamen. Es gab kurze Reden von vorn, aber vor allem viele Gespräche untereinander. In Leipzig kamen 3.000 Menschen zu einer Kaffeetafel, um über Gott und die Welt zu reden. Und im ganzen Land gibt es Frauenmahle, bei denen Frauen zum Essen eingeladen sind und mit kurzen Tischreden angeregt werden zum Gespräch. 500 waren wir in Wittenberg auf dem Marktplatz unter den Denkmälern von Luther und Melanchthon – ich meine, ich hätte die beiden lächeln gesehen… Zusammenkommen und miteinander essen und reden, das ist ein urchristliches Symbol seit Jesus selbst alle an seinen Tisch geladen hat. 

Die Dichterin Masha Kaléko schreibt:

„Zerreiß Deine Pläne. Sei klug
Und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
Im großen Plan.
Jage die Ängste fort
Und die Ängste vor den Ängsten.“[1]

Vielleicht ist das ja der Schlüssel zu den Wundern. Sie nehmen uns die Ängste, weil etwas möglich wird, das wir nicht erwartet haben: Da teilen Menschen miteinander. Da werde ich gebraucht mit meinen Gaben und Begabungen. Da können wir gemeinsam etwas verändern. Und wenn wir unsere Gaben und unsere Gemeinschaft unter den Segen Jesu stellen, dann werden sie zum Segen, auch wenn sie auf den ersten Blick gering scheinen. Als Jesus die Brote und den Fisch segnet, verändert sich ja etwas, da entsteht Hoffnung, dass es doch reichen könnte.

Das ist eine reformatorische Ermutigung, denke ich. Nichts muss bleiben, wie es ist. Wir können zusammenstehen als Christinnen und Christen. Und wir können uns verbünden mit Menschen anderen Glaubens und ohne Glauben. Und indem wir das tun, können wir unsere Welt verbessern. Das ist nicht naiv. Das ist ein Ausdruck von Hoffnung.

Amen.

 


[1] Aus: Masha Kaléko, Rezept, in: Die paar leuchtenden Jahre.