Predigt im Gottesdienst an Karfreitag im Willibrordi-Dom zu Wesel (über 2. Korinther 5, 14b-21)

Nikolaus Schneider

Gnade sei mit uns und die Liebe und Gerechtigkeit Gottes, die für uns alle in Jesus Christus erschienen ist!

Die Stimme Gottes aus dem geöffneten Himmel,

liebe Gemeinde,

bestimmte und begleitete Jesu Leben.

Beim Sterben Jesu aber schwieg der Himmel.

Warum griff Gott nicht ein?

Warum verhinderte der Allmächtige nicht das Leiden und Sterben seines geliebten Sohnes?

Die Freunde und Freundinnen Jesu damals, am ersten Karfreitag in Jerusalem, wollten und konnten das nicht begreifen.

Bei der Geburt Jesu sangen die Engel aus dem offenen Himmel:
„Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren!“ ( Lukas 2, 10f)

Die Stimme Gottes erklang bei der Taufe Jesu aus dem offenen Himmel und erklärte:

„Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“( Lukas 3, 22b)

Der Himmel öffnete sich auf dem Berg der Verklärung und Gott sprach:

„Dieser ist mein auserwählter Sohn; den sollt ihr hören.“ (Lukas 9,35b)

Und danach?

Der Heiland, der auserwählte und geliebte Gottessohn hing am Kreuz – verraten, verleugnet, geschlagen und gequält.

Und der Himmel öffnete sich nicht.

Und Gott schwieg.

Warum?

Die Freunde und Freundinnen Jesu damals, am ersten Karfreitag in Jerusalem, wollten und konnten das nicht begreifen.

In Wort und Tat hat der Gottessohn Jesus Christus Gottes Gegenwart, Gottes Liebe und Gottes Gerechtigkeit unter uns Menschen verkörpert und verkündigt. Gepredigt, gelehrt und gestritten hat der Gottessohn, getröstet und geheilt.

Den ihm Nachfolgenden hat er davon erzählt, dass er für uns Menschen wird leiden und sterben müssen. Mehrfach hat Jesus Christus von seinem bevorstehenden Leiden und Sterben gesprochen, aber auch davon, dass seine Todesstunde zugleich die Stunde seiner Verherrlichung sein wird,  dass Gott ihn nicht dem Tod überlassen wird.

Warum muss und will der Gottessohn für uns Menschen leiden und sterben?

Warum gibt es keinen leidfreien Weg der Liebe,

warum gibt es keinen triumphalen Weg der Gerechtigkeit für den Gottessohn auf dieser Erde?

Warum ist ausgerechnet der Kreuzestod Christi das für alle Menschen offenbarte gültige Zeichen von Gottes Gerechtigkeit und Liebe?

Warum?

Die Freunde und Freundinnen Jesu damals, am ersten Karfreitag in Jerusalem, wollten und konnten das nicht begreifen.

Und auch wenn es seit Jesu Kreuz und Auferstehung keine Karfreitage ohne die Gewissheit des kommenden Osterfestes mehr gibt, auch wenn das Licht des Ostermorgens seither auf alle menschlichen Kreuzeserfahrungen scheint:

das Kreuz Christi als Heilshandeln und Liebestat Gottes zu verstehen, zu bekennen und zu verkündigen, das war und das ist eine Herausforderung für unser Denken und Fühlen, das blieb und das bleibt immer auch „Torheit“ und ein „Ärgernis“ für menschliches Wollen und Verstehen.

Unsere menschliche Natur widerspricht dem Wort vom Kreuz, damals vor 2000 Jahren in Jerusalem, in Rom oder in Korinth, und auch heute, hier, in unserem Karfreitagsgottesdienst im Weseler Dom.

Der Predigttext für diesen Gottesdienst stellt sich dieser Herausforderung.

Hören wir, wie der Apostel Paulus der jungen christlichen Gemeinde in Korinth  „Kreuzestheologie“ verkündigt. Ich lese die Verse 14b bis 21 aus dem 5. Kapitel des 2. Korintherbriefes:

„Wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben.

Und er ist darum für alle gestorben, damit, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist.

Darum kennen wir von nun an niemanden mehr nach dem Fleisch; und auch wenn wir Christus gekannt haben nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr.

Darum:

Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben hat, das die Versöhnung predigt.

Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.

So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“

In zwei Schritten, liebe Gemeinde, will ich dem paulinischen Wort von der Versöhnung Gottes im Kreuz Christi nachspüren:

1. Das Kreuz Christi offenbart uns den liebenden Gott, der im Erleiden des Todes für uns Menschen den Tod überwindet.

Es ist falsch und ein fatales Missverstehen, wenn wir meinen:

Das Kreuz Christi zeigt uns einen rächenden oder sadistischen Gott, der für seine Versöhnung ein blutiges Menschenopfer fordert.

2. Jesus Christus starb für uns Sünder, damit wir in ihm zu der Gerechtigkeit werden können, die vor Gott gilt!

Es ist falsch und ein fatales Missverständnis, wenn wir meinen: für die Sünde und um die Sünde zu rechtfertigen, ist Jesus Christus am Kreuz gestorben.

Zum Ersten:

Das Kreuz Christi offenbart uns den liebenden Gott, der im Erleiden des Todes für uns Menschen den Tod überwindet.

Wo ist Gott? – das fragten und das fragen Menschen, wenn guten Menschen Böses widerfährt, wenn schreckliche Katastrophen geschehen, wenn unfassbares Leid Menschen zerbricht.

Wo ist Gott, wenn Kinder in kirchlichen Einrichtungen misshandelt und missbraucht werden?

Wo ist Gott, wenn unschuldige Frauen und Kinder in Afghanistan zu Tode gebombt werden?

Wo ist Gott, wenn die Erde bebt und Flutwellen den Ärmsten der Armen in Haiti oder Chile alles nehmen, was sie zum Leben brauchen?

Wo ist Gott?

Das fragten und das fragen sich die Menschen unter dem Kreuz, wenn der Himmel verschlossen ist und Gott schweigt.

Schweigt Gott wirklich?

Ist das Leiden und Sterben von uns Menschen gottverlassen?

War das Leiden und Sterben von Jesus Christus gottverlassen?

Wo war Gott, damals, am Karfreitag in Jerusalem, als Jesus am Kreuz hing?

„Gott war in Christus“, und litt und starb mit ihm am Kreuz, schreibt Paulus den Korinthern. Der Himmel war und ist nicht verschlossen und abgeschottet gegenüber menschlichem Leiden und Sterben.

Gott war in Christus und Gott ist bei uns im Leiden und im Sterben.

Gott forderte und Gott fordert nicht das menschliche Leiden und Sterben, damit er sich uns Menschen wieder in Liebe zuwendet. Diese Bedingung für die Zuwendung seiner Liebe stellt Gott nicht!

Vielmehr gilt:

Gott selbst leidet und stirbt am Kreuz, weil er sich uns Menschen in Liebe zuwendet! Folge und Ausdruck der Liebe Gottes ist das Kreuz Christi, denn Gott war in Christus gegenwärtig!

„Gott war in Christus“ und litt und starb am Kreuz für uns Menschen. Was das bedeutet, können wir nur erkennen, wenn wir uns immer wieder klarmachen:

Gott hat sich uns so offenbart, dass unsere theologische Lehre in  dreifacher Weise über Gott handelt und wir in den Glaubensbekenntnissen von Gott als Vater, als Sohn und als Heiliger Geist sprechen. Deshalb können wir „Kreuzestheologie“ als befreiendes und erlösendes Heilshandeln Gottes für alle Menschen bezeugen und verkünden. Denn wir lehren und bekennen:

Gott war in Christus und hat die Welt mit sich selber, also mit Gott dem allmächtigen Schöpfer und Vater Jesu Christi, versöhnt.

Gott war in Christus und ist für uns als Gott, der Sohn, am Kreuz gestorben und hat für uns den Tod überwunden.

Gott war in Christus und ist bei uns als Gott, der Heilige Geist, wenn wir leiden, sterben und auferstehen.

Zum Zweiten:

Jesus Christus starb für uns Sünder, damit wir in ihm zu der Gerechtigkeit werden können, die vor Gott gilt!

Ist Jesus Christus am Kreuz wirklich für alle Menschen gestorben?

Starb Jesus Christus denn auch für die Kinderschänder, auch für Folterknechte und Kriegsverbrecher, auch für Gottesleugner und Christenverfolger?
„Gott hat im Kreuz Christi die Welt mit sich versöhnt und rechnet uns Menschen unsere Sünde nicht zu“ – führt diese befreiende und erlösende Botschaft nicht letztendlich zu einer Bagatellisierung der Sünde?

Bezeugt diese befreiende und erlösende Botschaft nicht eine zwar von Christus teuer erkaufte, für uns Menschen letztlich aber „billige Gnade“?


Die biblische Botschaft vom Kreuz und von der Auferstehung Jesu Christi macht klar:

Durch den Kreuzestod Christi wird die Sünde – also das gottlose, lebenswidrige, lieblose und zerstörerische Denken, Reden und Handeln von uns Menschen –  nicht gerechtfertigt, sondern demaskiert und gerichtet.

Im Tod Jesu Christi wird die Macht der Sünde gebrochen! Die Liebe Gottes hebt Gottes Recht und Gottes Gerechtigkeit nicht auf. Aber der Gottessohn Jesus Christus hat uns durch sein Leben, Sterben und Auferstehen offenbart, dass Gottes Gerechtigkeit keine rächende und keine die Sünder vernichtende Gerechtigkeit ist, sondern eine auf Versöhnung und Heil ausgerichtete, liebevolle Gerechtigkeit.

Die Sünden der Täter, böses und zerstörerisches Tun von Menschen dürfen im Namen des Gekreuzigten nicht gerechtfertigt werden! Die Leiden der Opfer dürfen im Namen des Gekreuzigten nicht übergangen oder verharmlost werden!

Der Glaube an den Gekreuzigten und Auferstandenen löscht unsere Einzelverfehlungen nicht von unserem „Sündenkonto“, sondern lässt uns dankbar und demütig erkennen: Ich bin ein sündiger und gleichzeitig gerechtfertigter Mensch. Und das bleibe ich auch.

Als sündiger Mensch bin ich erlöst aus meiner Gottverlassenheit.

Als sündiger Mensch bin ich befreit von dem Zwang der Selbstrechtfertigung.

Als sündiger Mensch kann ich anders, ja eine neue Kreatur werden.

Der Glaube an den Gekreuzigten und Auferstandenen lässt mich meine eigene Fehlbarkeit und meine Schuld erkennen, gestehen und bereuen.

Der Glaube an den Gekreuzigten und Auferstandenen verändert mich und lässt mein ganzes Leben neu werden.

Ich kann Gott und Menschen um Vergebung bitten und ich kann meinen Mitmenschen Vergebung zusprechen. Ich kann mein Leben verändern und verändertes Leben anderer Menschen befördern. Gott hat mit dem Wort vom Kreuz das Wort der Versöhnung unter uns Menschen aufgerichtet. Gott ermahnt und Gott bittet uns und durch uns:

Lasst euch versöhnen mit Gott! Lasst euch verwandeln. Lebt, was ihr in Christus schon seid: Werdet in der Nachfolge Christi zu der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt!

Denn:

Jesus Christus starb für uns Sünder, damit wir in ihm zu der Gerechtigkeit werden, die vor Gott gilt!

Warum muss und will der Gottessohn für uns Menschen leiden und sterben?

Warum gibt es keine leidfreien Wege der Liebe?

Warum gibt es keinen triumphalen Weg der Gerechtigkeit Gottes auf dieser Erde?

Warum verkündigen wir Christenmenschen ausgerechnet den Kreuzestod Christi als das für alle Menschen offenbarte gültige Zeichen von Gottes Liebe?

Der Apostel Paulus wagte sich an theologische Antworten. Trotz der Antworten blieben die Fragen. Sie haben die Verkündigung der Kirche durch die Jahrhunderte – nicht nur an Karfreitagen – begleitet. Denn die Sünde blieb, auch wenn ihre Macht gebrochen ist. Und auch wir Menschen bleiben als gerechtfertigte Sünder. Die Erfahrungen des Bösen, der Katastrophen und des Leidens bleiben uns Menschen nicht erspart.

Deshalb werden diese Fragen, liebe Gemeinde, auch unsere Karfreitage begleiten und bei unseren ganz persönlichen Kreuzeserfahrungen immer wieder neu aufbrechen.

Wenn wir in unserem Leben furchtbare, verstörende oder zerstörende Erfahrungen machen, werden wir keine Kopf und Herz vollständig und auf Dauer befriedigende Antworten finden und geben können.

Aber auf Eines können wir fest vertrauen und wir dürfen ganz gewiss sein:

Gott war in Christus, und Gott ist bei uns im Leiden und im Sterben!

In seinem Nachdenken über seine abgründigen Erfahrungen während der Nazizeit, formulierte Dietrich Bonhoeffer das so:

„Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,

sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,

stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,

und vergibt ihnen beiden.“

(Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, S.515f)

Amen