Abendgebet während der Pilgerreise, Getsemani

Prof. Dr. Jacob Joussen

Tagessatz:
„Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben.“ (Mt 25, 35)

Tageslosung: Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR.
Jesaja 43,10

Lehrtext:
Wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus, dass er der Herr ist.
2.Korinther 4,5

Nach den bisherigen Tagen der Pilgerreise durch das Land Israel stehen wir nun vor den Toren Jerusalems. Auf unserer Wanderung halten wir inne und wollen den Abend beginnen. Dies tun wir im Namen unseres dreieinigen Gottes, des Vaters, des Sohns und des Heiligen Geistes. Amen.

Schwestern und Brüder,

Warten – das ist ein Zustand, der vielen von uns so gar nicht behagt. Warten passt nicht in unsere Zeit, die geprägt ist von „schnell, sofort, jetzt“. Wer früher in einem Gespräch unter Freunden auf etwas gestoßen ist, was niemand wusste (wie hieß eigentlich der Nachfolger von König David?), musste warten, bis er eine Antwort bekam. Heute hingegen dauert es keine zehn Sekunden, und alle anwesenden Freunde haben die Antwort sofort auf ihren Smartphones parat. So verlernen wir das Warten und es wird uns verleidet. Und wir alle, die wir gemeinsam auf diesem Pilgerweg unterwegs sind, haben doch gewartet auf diesen einen Blick, vom Ölberg hinab, den Blick, der einen jeden immer wieder gefangen nimmt: den Blick auf Jerusalem.

Warten – dieser Begriff kommt in dem Lesungstext aus dem Garten Getsemani, den Markus aufgeschrieben hat und den wir gerade gehört haben, zwar selbst gar nicht vor. Und doch bildet dieses eine Wort für mich den Einstieg zu einigen Gedanken zu der soeben gehörten Lesung. Denn der ganze Text, die Aufforderung Jesu an seine Jünger, zu wachen und zu beten, sind gerade hiervor geprägt, das Warten auf das, was da kommt, bildet letztlich den Teppich und die Grundlage, auf der dieses Geschehen abläuft. Die Jünger erscheinen zwar ahnungslos (auch wenn sie es nicht sind, denn sie haben immer wieder gehört, was geschehen wird), aber Jesus selbst wartet auf den, der da kommen wird, um ihn zu verraten.

Was macht uns das Warten eigentlich so unsympathisch? Ja, die Langeweile, vor der manch einer sich fürchtet, die manch einer aber überhaupt nicht kennt. Aber nein, es ist primär doch etwas anderes: Warten heißt ganz häufig: nicht wissen, was kommt. Wer beim Arzt auf einen Termin wartet, weiß nicht, mit welchem Befund er herauskommt. Das Warten ist so häufig mit der Ungewissheit verbunden, dass wir uns von diesem Zustand völlig gefangen nehmen lassen.

Im Garten Getsemani, so wie wir es bei Markus lesen, wird auch gewartet. Und es gibt unterschiedliche Umgehensweisen mit diesem Warten. Da ist zum einen die Art und Weise, wie die Jünger Jesu mit dem Warten umgehen – die Jünger, in denen wir uns beim Hören dieses Textes so schnell wiedererkennen. Sie sind nämlich nicht ahnungslos, sie haben gehört oder hätten jedenfalls hören können, was geschehen wird, sie wissen oder hätten wissen können, dass harte, Tod bringende Stunden und Tage bevorstehen. Und sie wissen, dass ihr Freund leiden wird und schon jetzt Todesangst aussteht. Denn all dies sagt er ihnen voraus. Doch sie tun das, was viele Menschen, die nicht weiter wissen, die in Sorge sind vor dem kommenden Tag, der kommenden Zeit, tun: Sie legen sich hin und – schlafen. Wer schläft, entzieht sich dem, was kommt. Wer schläft, sündigt nicht nur nicht, er hat auch keine Angst mehr. Das scheint klug und pfiffig. Allein – jeder, der schläft, wacht wieder auf. Und es hat sich nichts verändert. Nein, das ist kein geeigneter Weg. Und schon gar nicht, wenn ich dadurch meinen Freund alleine lasse. Es gibt – mit Ausnahme vielleicht des dreimal krähenden Hahns – kaum eine Stelle in den Evangelien, die so brutal vor Augen führt, wie alleine die Jünger ihren Freund lassen.

Da ist die Verhaltensweise, die Markus uns über Jesus aufgeschrieben hat, von ganz anderer Kraft. Gerade bei ihm, in diesem Text, wird überdeutlich, dass er nicht nur auf die bevorstehende Gefangennahme und Passion wartet, nein, er hat schlicht Angst – ein Zug, der vielen bei Jesus nicht als erstes einfällt. Er hat Angst und „betete, dass, wenn es möglich wäre, die Stunde an ihm vorüberginge.“ Er will das nicht, was da kommt. Markus legt ihm mit aller sprachlichen Schlichtheit, die ihm zueigen ist, diese klare Aussage in den Mund und lässt ihn – verkürzt gesagt – ausrufen: „Bitte, bitte nicht!“.

Doch sein Weg, mit dieser Angst umzugehen, ist nicht die Flucht in den Schlaf. Er lässt sich nicht gefangen nehmen von der Furcht, und er erstarrt nicht wie das kleine Tier, das den Raubvogel auf sich zurauschen sieht. Nein, er weiß, dass es nur einen Weg gibt, sich dieser Angst vor dem Kommenden zu stellen: Er betet. Und er wirft sein Vertrauen, seine Zuversicht, er wirft sein Leben in die Hände seines Vaters: „Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst!“

Das ist aber doch unmenschlich, werden viele sagen. Da steht buchstäblich der Tod vor mir, und dann soll ich aus dem Ausruf: „bitte, bitte nicht“ ein „bitte, bitte doch, mach ruhig“ werden lassen? Angesichts des Leidens, das mich erwartet, angesichts der Angst, die ich – zu Recht – vor dem habe, was da auf mich zukommt, soll ich sagen: „bitte tu, was und wie Du meinst“? Das klingt nicht un-, das klingt geradezu übermenschlich. Aber der Mensch Jesus hat uns eine Antwort gegeben: Ja, genau das tut. Wenn euch alle Angst übermannt, wenn ihr nicht mehr wisst, wie es weitergehen kann, gerade dann vertraut darauf, dass ihr das werdet tragen und ertragen können, was auf euch zukommt. Denn ihr seid nicht allein. Lasst euch fallen, Gott wird euch nicht ins Bodenlose fallen lassen.

Wie haben wir es vorhin im Psalm gebetet, der so wunderbar, so tröstlich von Mendelssohn im Elias vertont ist: „Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht. Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht. Der Herr behütet dich.“ Das ist die Reaktion auf angsterfülltes Warten, eine Reaktion, die häufig zu viel zu verlangen scheint, aber Trost spenden kann: Wenn die Stunde gekommen ist, wenn das Leben euch verrät – dann vertraut darauf, dass Gott nicht nur einmal, vor langer Zeit, seinen Bund mit den Menschen geschlossen hat, im Symbol des Regenbogens manifest, sondern darauf, dass Gott uns leiten wird, dahin, wo er uns will und braucht.

Amen.