Predigt im Neujahrsgottesdienst im Berliner Dom

Ratsvorsitzender der EKD Heinrich Bedford-Strohm

Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ez 36,26

Liebe Gemeinde,

mit einem neuen Herz und einem neuen Geist in das heute begonnene Jahr 2017 zu gehen, das ist eine wahrhaft verheißungsvolle Aussicht, die uns die diesjährige Jahreslosung eröffnet! Wir können dieses neue Herz und diesen neuen Geist gut gebrauchen am Beginn dieses neuen Jahres. Mancher ist heute nicht nur müde, wegen des Schlafmangels in der Silvesternacht. Wir sind vielleicht auch müde, weil uns die Sorge um so Vieles herunterzieht. Vielleicht ganz persönlich, weil es Unfrieden in der Familie gibt und die Verhakungen sich einfach nicht lösen. Weil eine Krankheit uns Angst macht. Oder weil ein Gefühl der Ermattung oder auch Traurigkeit da ist, das genau deswegen so viel Macht hat, weil man keinen Grund dafür finden kann.

Vielleicht ist es auch die tiefe Sorge um die Welt, mit der wir in den Beginn dieses neuen Jahres gehen. Wie andere Länder hat auch uns der Terror erreicht. Der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz hat Berlin erschreckt, hat uns alle in Deutschland und weit darüber hinaus erschreckt. Die Menschen hier haben – wie ich finde – eindrucksvoll reagiert. Da war viel ehrliche Anteilnahme. Da war Stille. Da war ein Gefühl der Gemeinschaft. Und da war ein gewisser trotziger Wille, solchen Gewalttätern nicht den Triumph zu gönnen, erfolgreich Hass zu säen. Die sorgenvollen Fragen im Blick auf das neue Jahr haben die Ereignisse trotzdem noch einmal verstärkt. Bleibt uns die Zuversicht auf ein friedliches Zusammenleben erhalten oder wird uns Angst und vielleicht ohnmächtige Wut zermürben? Was ist den Autokraten dieser Welt entgegenzusetzen, die auf die Sprache der Gewalt setzen und damit auch noch erfolgreich zu sein scheinen? Was wird aus der Demokratie, wenn an die Stelle des Diskurses unterschiedlicher Meinungen strategisch robotergesteuerte Stimmungsmache und bewusste Falschinformation tritt? Was steht uns da in den Wahlkämpfen dieses Jahres noch bevor?

„Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ Es ist eine gleich zweifache Hoffnung, die dieser Satz in mir weckt: Ein neues Herz heißt neue Kraft, neue Energie, um sich für das einzusetzen, was wirklich wichtig ist. Und es heißt Orientierung. Neue Vergewisserung, welches die Ziele sind, für die es sich mit ganzer Kraft einzusetzen lohnt.

Hesekiel sagt diese Worte vor 2500 Jahren zu einem Volk, dem der Mut für die Zukunft zu entschwinden droht. Die Israeliten sind seit vielen Jahren im Exil in Babylon. Sie leben in der Fremde weit weg von ihrer Heimat. Sie spüren, dass in der Vergangenheit Vieles falsch gelaufen ist. Jetzt stehen sie ohnmächtig vor ihrer Situation. Und sie bringen  nicht die Kraft auf, sich selbst, ihre Gesinnung, ihr Herz und ihren Geist zu verändern.

Da ist diese Zusage Gottes wie ein Zuspruch der Befreiung: „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch“. Ich mache euch frei von euren trüben Gedanken, von eurem schwermütigen Geist. Ich nehme euch das vernarbte und harte Herz ab. So wie es bei Hesekiel weiter heißt: „Und ich will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben“.

In diesem Jahr feiern wir das 500-jährige Jubiläum eines Neuaufbruchs, in dem diese Verheißung eine Wirkkraft entfaltet hat, die die Welt verändert hat. Für mich ist die Reformation jedenfalls ein geistlicher Aufbruch, in dem etwas von dem neuen Herz und dem neuen Geist historisch wirksam geworden ist. Martin Luther hat das sehr persönlich so erfahren. Er bemühte sich, mit guten Werken, mit Gebet, mit Fleiß, mit großer Anstrengung und sogar mit Selbstkasteiungen,  die Gunst und Gnade Gottes zu verdienen. Er wollte ein guter Mönch sein und sich Gottes Zuwendung erarbeiten. Er setzte bei der Veränderung ganz auf die eigene Kraft – und scheiterte. Geriet in große Verzweiflung. Bis er entdeckte, was die Bibel über Veränderung sagt: Nicht aus der Anstrengung der eigenen guten Werke kommt die Veränderung, sondern allein aus der Gnade Gottes. Allein daraus, dass wir uns öffnen für die Liebe Gottes und lernen, sie einfach zu empfangen anstatt sie uns verdienen zu wollen.

500 Jahre ist das jetzt her. Aber es ist heute so aktuell wie damals. Dieses verunsicherte Land braucht ein neues Herz und einen neuen Geist. Dieses Land braucht einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Einen Geist der Freiheit! Dieses Land braucht ein neues Bewusstsein dafür, wie gesegnet es ist.

In diesem Jubiläumsjahr geht es nicht zuerst um Luther-Playmobil-Figuren, um Luthersocken und Reformationsbonbons. Das alles sind nur Türöffner für das Hören auf den Inhalt. Und der ist klar und er ist aktueller denn je! Christus neu entdecken! Ein neues Herz und einen neuen Geist geschenkt bekommen! Aus dem Geist der Freiheit leben dürfen! Ja! Der Herr ist der Geist und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!

Was es heißt, Christus heute neu zu entdecken, hat vor rund 80 Jahren ein Theologe einmal auf den Punkt gebracht, der hier in Berlin gelebt hat und für den die Frage: „Wer ist Christus für uns heute?“ seine Lebensfrage gewesen ist. Er hat darauf geantwortet, indem er sein Leben gegeben hat. In einem Brief an seinen Bruder Karl Friedrich vom 14. Januar 1935 schreibt Dietrich Bonhoeffer: „Es gibt doch nun einmal Dinge, „für die es sich lohnt, kompromisslos einzutreten. Und mir scheint, der Friede und die soziale Gerechtigkeit, oder eigentlich Christus sei so etwas.“ [1] „…der Friede und die soziale Gerechtigkeit, oder eigentlich Christus“ – eine stärkere Verknüpfung des Gerechtigkeitsthemas mit Christus als dem Eckstein der christlichen Existenz ist kaum vorstellbar. In diesen Worten blitzt eine Radikalität auf, die die Beunruhigung durch die biblischen Texte nicht, wie wir das immer wieder versuchen, weginterpretiert, sondern sich ihr aussetzt. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan…“ (Mt 25,40). Wie könnte man diesen Satz ernst nehmen, ohne sich für die öffentlichen Debatten zu interessieren, in denen die Weichen für das Ergehen der Geringsten in unserem Land und weltweit gestellt werden!

Die geistliche Erneuerung, die wir in unserem Land so dringend brauchen, braucht, da bin ich mir sicher, zugleich ein kraftvolles Zeugnis in den öffentlichen Orientierungsfragen. Welche politischen Wege am ehesten den Schwachen dienen, muss diskutiert werden. Aber dass ein neues Herz und ein neuer Geist auch etwas zu tun hat mit sozialer Gerechtigkeit, das liegt für mich auf der Hand! Wenn die einen trotz lebenslanger harter Arbeit im Alter eine Rente zu erwarten haben, die zum Leben nicht ausreicht, und dabei kein finanzielles Polster irgendwo existiert, während andere ein Barvermögen ihr eigen nennen, das sich in ganz Deutschland auf inzwischen 5,3 Billionen Euro summiert, dann stimmt etwas nicht im sozialen Gefüge unseres Landes. Wir brauchen im Jahr 2017 in unserem Land eine große gemeinsame Anstrengung für mehr soziale Gerechtigkeit.

„Und ich will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben“. Dass das neue Herz etwas mit Solidarität und Mitgefühl zu tun hat, hat immer wieder auch in den Märchen Ausdruck gefunden. „Das kalte Herz“ heißt ein Märchen von Wilhelm Hauff. Vor wenigen Wochen ist eine Verfilmung dieses Märchens im Kino gestartet. Peter, ein junger Köhler, wünscht sich nichts sehnlicher, als dem Schmutz seiner Arbeit und der Armut zu entkommen. Das Glück scheint ihm hold: Ein Geist bietet ihm einen Handel an, der auf den ersten Blick verlockend ist und ein gutes Geschäft zu sein scheint. Um an Geld zu kommen, muss er nur sein fleischernes Herz gegen ein Herz aus Stein verkaufen. Viel Geld zum Leben zu haben, da hätte er noch ganz anderes als sein Herz gegeben. Doch schneller als ihm lieb ist, merkt er, was das ist,ein Herz aus Stein: Es ist ein kaltes Herz. Er fühlt nichts mehr: Das Schöne berührt ihn nicht, aber auch Unglück und Not lassen ihn kalt. Selbst seine schöne junge Frau vermag er nicht zu lieben. Und als er feststellt, dass sie – wenn auch heimlich – ihrem Herzen gehorcht und einem Armen hilft, da erschlägt er sie.  Nur durch die Hilfe des wohlmeinenden Glasmännchens und durch einen Trick, mit dem er den Geist überlistet, bekommt er sein echtes Herz zurück. Seine Frau erwacht auf wundersame Weise wieder zum Leben, die beiden bekommen ein Kind. Zwar ist er nun so arm wie zuvor, aber zufrieden, ja vielmehr glücklich, mit dem Leben, das er hat.

Nicht immer haben die Dinge ein solches Happy End wie in diesem Märchen. Aber die Worte, die der Prophet Hesekiel seiner Weissagung vom neuen Herz und dem neuen Geist hinzufügt, zeigen, welche Aussicht damit verbunden ist: „Und ihr sollt wohnen im Lande, das ich euren Vätern gegeben habe, und sollt mein Volk sein und ich will euer Gott sein. Ich will euch von all eurer Unreinheit erlösen und will das Korn rufen und will es mehren und will keine Hungersnot über euch kommen lassen. Ich will die Früchte auf den Bäumen und den Ertrag auf dem Felde mehren…“

Es tut einem Land gut, wenn es Solidarität, Mitgefühl und Achtsamkeit für die anderen stark werden lässt. Es tut einem Land gut, wenn es nicht aus der Angst, sondern aus dem Vertrauen leben kann. Es tut einem Land gut, wenn nicht die Knappheitsgefühle die Seele regieren, sondern das Gefühl des Gesegnetseins.

Liebe Gemeinde, wir sind das Volk! Wir können in einem Jahr der Wahlkämpfe, in einem Jahr wichtiger politischer Entscheidungen wählen, ob wir nur unsere eigenen Interessen verfolgen oder ob wir die Welt mit den Augen der anderen sehen. Wir können wählen, ob wir polarisieren und vereinfachen wollen oder ob wir bereit sind zuzuhören. Wir können wählen, ob wir uns verschließen und uns in uns selbst verkrümmen oder ob wir uns ein neues Herz und einen neuen Geist schenken lassen.

Was wirklich zählt, wieviel Grund zur Dankbarkeit wir jeden Tag haben, kann man von einem Menschen lernen, der tatsächlich ein neues Herz eingesetzt bekommen hat. Der jetzt 60-jährige Stefan, ein passionierter Bergsteiger, berichtet, wie sich sein Leben seit seiner Herztransplantation verändert hat: „In mein Leben hat das Bewusstsein Einzug gehalten, dass das Leben endlich ist. Erstaunlicherweise erschreckt mich diese Erkenntnis nicht, sondern bereichert mich, indem sie mich bereit gemacht hat, Unwichtiges einfach weglassen zu können und mich nicht mit Nebenschauplätzen aufzuhalten und damit wichtige Zeit zu verschwenden. Ich gönne mir den Luxus, mein Wertesystem zu leben, auch wenn es für die Mitmenschen mitunter nicht leicht ist zu verstehen, warum ich oft den unbequemen Weg wähle, nur weil ich einen anderen für Unrecht halte. Ich würde ein Stück weit aufhören zu existieren, würde ich mich ständig verbiegen. Das lernt man, wenn man schon mal in den Salat gefallen ist…“ [2]

Manchmal fällt es zusammen – ein physisches neues Herz und das neue Herz und der neue Geist, von dem Hesekiel spricht. Ich wünsche Ihnen allen zu Beginn dieses neuen Jahres Gesundheit. Aber vor allem wünsche ich Ihnen die große Kraft und Freiheit, die der Geist Gottes uns zu geben vermag – in den guten Tagen und in den schweren Tagen. „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ Mit dieser Verheißung der Jahreslosung im Rücken dürfen wir an diesem Tag tatsächlich voller Vertrauen und voller Zuversicht ins Jahr 2017 gehen!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN


  1. D. Bonhoeffer, London 1933-1935, hg. v. H. Goedeking, M. Heimbucher, H.-W. Schleicher, DBW 13, Gütersloh 1994, 273. Dazu Bethge, Bonhoeffer, 249.
  2. http://www.transplantation-verstehen.de/erfahrungsberichte/herz/stefan-n/das-neue-leben.html?step=report.heart.stefan_n.5-new_life.2