Predigt in der Hoffnungskirche Berlin-Pankow am Sonntag Jubilate (Hebräer 13,2)

21. April 2002

„Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“

I.

Unter allen Stellen, an denen die Bibel von Engeln spricht, ist mir diese besonders lieb. Engel, die Boten von Gottes Nähe, können unscheinbar sein. Sie sind verwechselbar. Leicht können sie uns einfach wie normale Menschen erscheinen. Den Boten des Heiligen sieht man die Heiligkeit nicht unbedingt an. Wer sie nicht versäumen will, braucht einen offenen Blick und ein offenes Haus. Die Bereitschaft, Unbekannte aufzunehmen, ist nötig, wenn man den vorbeikommenden Engel nicht versäumen will.

Mit seiner Aufforderung, gastfrei zu sein, um den Besuch der Engel nicht zu versäumen, erinnert der Hebräerbrief an das biblische Urbild eines solchen Besuchs. Der Urvater des Glaubens, Abraham, saß in der Hitze des Tages im Hain Mamre vor seinem Zelt und dämmerte vor sich hin. Als er mitten in dieser Siesta seine Augen öffnete, standen drei Männer vor ihm. Plötzlich war er hellwach, lief ihnen von der Tür seines Zeltes aus entgegen und verneigte sich vor ihnen mit den Worten: „Herr, hab ich Gnade gefunden vor deinen Augen, so geh nicht an deinem Knecht vorüber.“ Und sofort unternahm er alle Anstalten, an denen man den richtigen Gastgeber erkennt. Wasser wurde herbeigebracht, um den Gästen die Füße zu waschen, und unter dem Schatten der Bäume wurde ihnen Brot gereicht, während Abraham so schnell wie möglich ein Festmahl vorbereiten ließ.

Während Sara im Innern des Zeltes das Essen vorbereitet, hört sie Gott durch die Männer ankündigen, übers Jahr werde sie einen Sohn haben. Und Sara lacht. Durch diesen Sohn Isaak aber wird Israel zu Gottes Bundesvolk, zu dem Volk, an dem Gottes Segen sich erfüllen soll. Und als Abraham später am Tag die Gäste beim Aufbruch begleitet, hört er aus ihrem Mund Gottes Urteil über Sodom und Gomorra, ein Urteil, das auch durch Abrahams Fürbitte nicht mehr verändert werden kann. Die Wahrheit von Segen und Fluch, von Gericht und Gnade begegnet Abraham in den drei Männern, in denen er Gottes Gegenwart erkennt. Denn nichts anderes sind Engel als Boten der Gegenwart Gottes, Hoffnungsboten. „Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“


II.

Lange Zeit war es um die Engel still geworden. Gedankenlos nahmen wir sie als Schmuck an unseren Kirchen hin, selbst wenn sie so zahlreich waren wie die 36 Engel an und in der Hoffnungskirche. Ganz vertreiben konnte man sie nicht, vor allem nicht aus Schmuck und Folklore der Weihnachtszeit. Um ihnen trotzdem jede mögliche Wirkung zu nehmen, nannte ein übereifriger Kulturfunktionär sie „geflügelte Jahresendfiguren“.  Wer Elektrizität benutze und Radio höre, so fand ein ebenfalls ziemlich übereifriger Theologe, könne unmöglich an Engel glauben. Hatte er nicht recht?

Aber nun sind sie wieder da. Scheinbar unbemerkt haben sie sich wieder in unsere Welt eingeschlichen. Es ging mit ihnen wie mit manchen Tierarten, die erst auf der Roten Liste der gefährdeten Arten erschienen waren, als ausgerottet galten und nun auf einmal wieder da sind. Wer hätte gedacht, dass eines Tages wieder richtige Biber das Havelland bevölkern? So viele sind es inzwischen, dass der Flurschaden an den Ufern ein richtiges Problem darstellt. Wer hätte es für möglich gehalten, dass Rhein und Elbe wieder zu Lachsgewässern würden. Im 19. Jahrhundert – ja damals waren sie noch so zahlreich, dass ein Kochbuch – erschienen in Magdeburg – mahnte, man solle den Hausangestellten nicht täglich Lachs zumuten. Aber dann waren sie verschwunden; nun kommen sie wieder.

So ähnlich wie mit den Bibern oder dem Lachs ist es auch mit den Engeln. Ganz unauffällig sind sie zurückgekehrt, nach 1989 in verstärktem Maß. Im Fühlen und Sehnen des menschlichen Herzens haben sie sich wieder ihren Lebensraum erobert. Die Unsicherheit der Menschen ist ihr Revier; deshalb sind unter allen Engeln die Schutzengel am beliebtesten. Siebzig Prozent der Amerikaner sind davon überzeugt, einen persönlichen Schutzengel zu haben. Wie viele es wohl in Deutschland sein mögen? Zum Vergleich: nur 71mal werden Engel in der Bibel genannt; aber im Internet hat einer beim Stichwort „Engel“ in Windeseile 67 264 Treffer gehabt. In wenigen Jahren sind in Deutschland 232 Bücher zu diesem Thema erschienen. Und den Werbemarkt haben sie sowieso erobert. Unsere Schutzengel haben keine Flügel, sondern Sensoren: ihre Volkswagen AG.

Was sollen wir als Christen von der neuen Engelkonjunktur halten? Ist das nur Masche oder steckt darin ein harter Kern? Dieser Frage kann man nicht ausweichen – in einem Kirchengebäude mit 36 Engeln erst recht nicht.

Nach der Auskunft der Bibel hätte die Botschaft von Gottes Gnade ohne himmlische Boten die Menschen nicht erreicht. Ohne den Besuch der drei Männer hätten Abraham und Sara  von dem späten Segen mit einem Sohn nichts erfahren. Ohne die himmlischen Interpreten wäre die Geburt eines – wie man so sagt, unehelichen – Kindes in Bethlehem vor zweitausend Jahren ohne weitere Resonanz geblieben.  Ohne die Boten der Hoffnung hätten die ersten Zeuginnen und Zeugen der Auferstehung das leere Grab nicht deuten können – ohne jene Boten, die sie nach dem Bericht des Lukasevangeliums vor die Frage stellten: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“  Ohne die Zeugen für Gottes Gegenwart hätten die Apostel die Botschaft von der Freiheit der Kinder Gottes nicht am eigenen Leib erfahren – so wie Petrus, dem ein Engel den Weg aus dem Gefängnis weist.

Aber in all diesen Fällen sind die Engel wirklich Interpreten, Boten, Wegweiser. Sie öffnen die Verbindung zwischen Himmel und Erde – wie jene Engel, die Jakob im Traum erscheinen und auf einer Himmelsleiter auf und nieder steigen. Deren einzige Bedeutung ist es, auf Gott selbst hinzuweisen, der am obersten Ende der Himmelsleiter steht und sagt: „Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott.“

Engel weisen auf Gottes Einzigkeit hin. Sie treten nicht an seine Stelle. Sie sind, recht verstanden, keine fromm verkleidete Vielgötterei. Sie wachen über Gottes Ehre. In der Hierarchie der Engel stehen deshalb auch nicht die Schutzengel obenan, sondern die Cherubim und die Seraphim, die Wächter über der Ehre des einen Gottes. Denn Engel haben gerade keine eigene Macht. Sie sind nur Boten für die Macht Gottes. Deshalb, so sagt es ein großer mittelalterlicher  Theologe, haben sie nicht einmal einen eigenen Körper. Sie sind reine Spiritualität. Sie sind vollständig transparent für die Wirklichkeit  Gottes.


III.

„Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.“ So bete ich morgens mit Martin Luthers Morgensegen.  Wir kennen in der evangelischen Kirche kein selbständiges Gebet an die Engel, sondern wir bitten Gott um den Beistand seiner Engel. Wir brauchen nicht an die Engel zu glauben, sondern sie sind uns eine Hilfe dabei, uns an die Wirklichkeit Gottes zu halten, die unser Begreifen übersteigt. Wir dürfen darauf vertrauen, dass sie unsere Fürsprecher bei Gott sind – so wie die Engel der Gemeinden, von denen die Offenbarung des Johannes spricht. Davon, dass gerade Kinder ihre Fürsprecher und Schutzengel haben, spricht übrigens schon Jesus selbst: „Seht zu, dass ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel.“

Ein kleiner Bronzeengel erinnert mich Tag für Tag an diese größere Wirklichkeit. Zu Hause wie in meinem Büro liegt er auf dem Schreibtisch. Meistens liegt ein Brief oder eine Adresse unter ihm: Menschen, die ich nicht vergessen will, die einen Gruß erhalten, in meiner Fürbitte vor Gott genannt werden wollen. So wie auf Gott weist mich der Engel auch auf den Nächsten, auf Menschen, die mir nahe sind oder denen ich näher kommen möchte. Engel schlagen Brücken. „Lenk deinen Schritt engelwärts“ rät uns ein Gedicht von Rose Ausländer. Das meint: Öffne dich für Gott und für deinen Nächsten. Vielleicht denken Sie daran, wenn Sie den wieder hergestellten Engel hier in der Hoffnungskirche sehen und auch sonst: „Lenk deinen Schritt engelwärts“.

Insgesamt heißt dieses Gedicht von Rose Ausländer, mit dem ich schließen möchte, so:

Der Engel in dir
freut sich über dein
Licht

weint über deine Finsternis

Aus seinen Flügeln rauschen
Liebesworte
Gedichte Liebkosungen

Er bewacht
deinen Weg

Lenk deinen Schritt
engelwärts

Amen