Predigt in Wittenberg (Apostelgeschichte 6, 1-7)

25. August 2002

„In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen aus Antiochia. Diese Männer stellten sie vor die Apostel, die beteten und legten die Hände auf sie. Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.“

 (Apostelgeschichte 6, 1-7)

1.

In Fehrbellin hat in dieser Woche der Konfirmandenunterricht begonnen. Doch dieser Anfang sah ganz anders aus als sonst. Nach kurzer Verabredung machten sich die Konfirmanden auf den Weg; sie machten Besuche in den Häusern der Stadt und sammelten für Menschen, die von den Fluten der Elbe bedroht und betroffen sind. Die Konfirmanden hatten sich das selbst gewünscht. Denn auf irgend eine Weise wollten sie tätig sein, anpacken, ihre Solidarität zeigen.

So geht es landauf, landab. Wenn jetzt noch an die Solidarität der Menschen appelliert wird, dann schwingt darin ein Stück Ungerechtigkeit mit. Denn diese Solidarität ist da. Sie ist stärker ausgeprägt, als manche dachten, die behauptet haben, in unserer Gesellschaft zählten nur noch die Ellenbogen. Nein, man beschreibt unsere Gesellschaft nicht richtig, wenn man sagt, sie sei eine einzige große Ich-AG, in der Erlebnisgesellschaft interessierten sich die Menschen nur noch für das, was ihnen selbst Spaß macht. In der Not spürt einer für den anderen; in der Not denken die Menschen mit. Diejenigen, die in diesen Tagen um Haus und Hof fürchten müssen, die Morgen für Morgen fragen, ob die Stadt Wittenberge oder die Dörfer ringsherum unter Wasser stehen werden, können sicher sein: Sie sind nicht allein. Die zuzätzliche Ungewissheit, die mit einer Evakuierung verbunden ist, wird von vielen mitgetragen.

Wenn ich heute morgen nach Wittenberge gekommen bin, dann will ich deutlich machen: Unsere Kirche steht ihnen zur Seite, die Sie hier in der Prignitz unter allen Brandenburgern vom Hochwasser am stärksten betroffen sind. Ich bringe Ihnen die Grüße unserer Kirchenleitung und unserer ganzen Kirche. Ich bringe Ihnen aber auch die Grüße der Diakonie. Viele Menschen haben in den letzten Tagen für die Opfer der Hochwasserkatastrophe gespendet und dazu beigetragen, dass wir auch hier in der Prignitz unmittelbar, schnell und unbürokratisch helfen können, wenn Hilfe nötig ist. Denn jetzt gehört beides zusammen, das helfende Wort und die helfende Tat, die Fürbitte und die Fürsorge, das Anhören und das Anpacken.

2.

„Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern (und Schwestern), das habt ihr mir getan“. So heißt der Wochenspruch für die Woche, die heute beginnt. Könnte es ein Wort geben, das genauer hineintrifft in das Fühlen und Erleben dieser Tage? Viele Menschen haben in den vergangenen Tagen die Pflicht zur Hilfsbereitschaft als etwas ganz Selbstverständliches erlebt und praktiziert. Ich werde nie vergessen, wen alles ich am vergangenen Montag hier in Wittenberge und in Perleberg getroffen habe an hilfsbereiten Menschen, die aus der Region, aber auch aus Süd und Nord, aus West und Ost gekommen waren. Christus sagt allen, die sich eingesetzt haben und weiter einsetzen bis zum Umfallen: Das habt ihr mir getan. Keine tätige Hand ist ungesehen bei Gott, keine der vielen Stunden Lebenszeit ist vergessen bei ihm. Gott selbst freut sich über jede Bewahrung vor der Gewalt der Wassermassen, die dadurch möglich wird.

„Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern (und Schwestern), das habt ihr mir getan.“ Diesem Leitwort für den heutigen Sonntag ist nach der Ordnung unserer Kirche ein Predigttext beigefügt, wie er passender nicht gewählt werden könnte. Er handelt genau von der Einheit, die wir in diesen Tagen so deutlich spüren, von der Einheit, die alle christliche Existenz ausmacht. Er handelt von der Einheit zwischen dem helfenden Wort und der helfenden Tat, der Fürbitte und der Fürsorge, dem Anhören und dem Anpacken.

Schon die frühe christliche Gemeinde musste sich damit auseinandersetzen. Die zwölf Apostel waren in Jerusalem in die Rolle von Gemeindeleitern hineingewachsen. Vom Gebet am Morgen über das Studium der Heiligen Schrift, Unterricht und Predigt für erwartungsvolle Menschen bis zur Gemeinschaft um den Tisch des Herrn am Abend – ihre Tage waren ausgefüllt. Kirchengebäude gab es nicht. Vielmehr fand all das in den Häusern derer statt, die sich dafür bereit erklärten. Sprachprobleme waren zu überbrücken. Denn unter den Juden, die sich in Jerusalem der Christusbotschaft zugewandt hatten, sprachen die einen Aramäisch, die anderen Griechisch. Die Fremdsprachigen waren in der Regel zugereist; in der Nähe des Tempels zu sein, war ihre ursprüngliche Absicht. Oft fehlte ihnen das Nötige zum Lebensunterhalt. Vor allem die alleinstehenden Frauen waren davon betroffen. Wer nahm sich ihrer an? Wer kümmerte sich darum, ob sie am nächsten Tag etwas zu essen hatten.

Die Apostel waren überfordert. Zum Glück meinten sie nicht, dass sie alles allein machen könnten. So sahen sie sich nach Hilfe um. In der Verkündigung des Wortes Gottes sahen sie ihre besondere Aufgabe, die sie nicht vernachlässigen wollten. Aber sie bildeten sich nicht ein, dass die Verkündigung alles sei. Die helfende Tat musste hinzukommen. Aber auch diejenigen, die zur Hilfe bestellt waren, sollten Zeugen der Güte Gottes sein; auch sie sollten Gottes Wahrheit mit den Menschen teilen. Der Dienst des Wortes und der Dienst der Nächstenliebe, das Beten und das Tun des Gerechten sollten sich ergänzen. Zwölf Menschen sollten dem Wort und sieben sollten der Liebe dienen: zweimal eine heilige Zahl. Und auch die, die sich dem praktischen Handeln verschrieben, sollten Träger des Heiligen Geistes sein. Deshalb wurden auch ihnen die Hände aufgelegt; die Diakone waren Segensträger wie die Apostel.

Das praktische Handeln hat seitdem in der christlichen Kirche die gleiche Würde wie das Verkündigen. Gelebte Diakonie ist in ihr so wichtig wie der gefeierte Gottesdienst. Wir verstoßen gegen dieses Urbild von christlicher Gemeinde, wann immer wir das Eine gegen das Andere ausspielen, wann immer wir nur das Eine ernstnehmen und das Andere von uns schieben.

Sieben Diakone wurden damals eingeführt. Wir erfahren all ihre Namen. Und doch sind nur zwei von ihnen im Gedächtnis geblieben, Stephanus und Philippus. Denn von ihnen erzählt die Apostelgeschichte noch mehr. Von Stephanus berichtet sie, wie er durch Steine schrecklich getötet und zum Märtyrer gemacht wurde, von Philippus, wie er sogar einen Finanzminister aus Äthiopien zu Christus als seinem lebendigen Herrn bekehrte. Die anderen aber, deren Namen heute keiner mehr nennt, sind nicht weniger wichtig. Ihre Liebe zum Nächsten und ihr helfender Dienst sind vor Gott sind genauso geachtet.

3.

Wir gehen durch Tage, die uns bis ins Mark erschüttern und die viele bis zum Äußersten fordern. Ich habe Menschen getroffen, die tagelang nicht mehr geschlafen haben, andere, die sich lange dagegen sträubten, ihr Haus zu verlassen, weil sie nicht wussten, wie sie es wieder finden würden. Unter ihnen sind viele, deren Namen den allermeisten unbekannt sind. Und es sind andere unter ihnen, deren Geschichten in den Zeitungen erzählt oder im Fernsehen gezeigt werden. Es ist gut zu wissen: Vor Gott sind die einen so wichtig wie die anderen. Gott macht keinen Unterschied. Jedes einzelne Schicksal zählt vor ihm. Jedes einzelne Menschenleben ist ihm kostbar. Wenn wir es nicht schaffen, auf jede und jeden so zu achten, wie es nötig ist, müssen wir dazu neue Wege suchen. Die Hilfsbereitschaft, die sich in diesen Tagen zeigt, müssen wir auch in Zukunft in Anspruch nehmen. Denn jetzt wissen wir: Niemand soll gegen seinen Willen allein und einsam sein.

Denn so wird uns der Auftrag der christlichen Gemeinde neu vor Augen gestellt: Der Gottesdienst am Sonntag und der Gottesdienst im Alltag unseres Lebens gehören zusammen. Wir brauchen beides: die Menschen, die dem Wort dienen, und die anderen, die der Tat verpflichtet sind. Wir bekennen uns zu Christus, der predigte und die Menschen heilte, die geknickt und gedemütigt waren. Wir wenden uns als Kirche mit beidem den Menschen zu: mit dem rettenden Wort und mit der helfenden Tat. Denn Gott liebt den ganzen Menschen. Er ist uns gut, auch, ja gerade in der Bedrängnis dieser Tage.

Das wollen wir uns wechselseitig spüren lassen. Angesichts der drohenden Wassermassen sind wir zusammengerückt. Wir wollen uns auch nahebleiben, wenn das Wasser wieder sinkt. Dazu helfe uns der barmherzige und gnädige Gott. Amen.