„Ökumene der Profile“

Ansprache des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, bei der Begegnung mit Papst Benedikt XVI. in Köln

Mit den römisch-katholischen Christen in Deutschland freut sich die Evangelische Kirche in Deutschland darüber, dass die erste große Auslandsreise von Papst Benedikt XVI. dem Weltjugendtag in Köln gilt. Sie führt ihn damit in das Land der Reformation. Bei dieser ersten Begegnung nach dem Beginn des Pontifikats haben Vertreter der nicht römisch-katholischen Kirchen in Deutschland Papst Benedikt XVI. Gottes beständiges Geleit in seinem Amt gewünscht. Auch wenn evangelische Christen nicht einstimmen konnten in den Ruf „habemus papam“, sondern beim „habent papam“ verweilten, so hat die Wahl eines so ausgewiesenen Theologen aus Deutschland auch sie auf besondere Weise bewegt. Für die ökumenische Gemeinschaft der Christen sind diese Tage ein Grund zum Dank für die geistlichen Erfahrungen, die vielen Menschen durch den Weltjugendtag und durch das Kommen des Papstes eröffnet werden. Und sie sind ein Grund, innezuhalten und zu fragen, welche ökumenischen Aufgaben in dieser Zeit Vorrang haben – oder doch haben sollten.

Das Jahr 2005, 450 Jahre nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, erinnert an den langen, beschwerlichen Weg zu einem friedlichen Nebeneinander der Konfessionen in Europa und insbesondere in Deutschland. Auf diesem Weg, der Krieg und Leid einschloss, haben die Kirchen zögernd zwar, aber doch gemeinsam gelernt, dass die für jede geistige Auseinandersetzung unerlässliche Suche nach Wahrheit in der gemeinsamen Pflicht zum Frieden zu gestalten ist. Sie haben auch gelernt, Staat und Kirche, Bürgerrecht und Bekenntnisstand, Menschenwürde und Glaubensfragen zu unterscheiden. In Deutschland können die Kirchen unter Bedingungen wirken, die sich nicht an einem strikten Laizismus ausrichten, sondern der positiven Religionsfreiheit und deshalb auch der Förderung der Kirchen verpflichtet sind. Das ist eine gute Voraussetzung dafür, dass sie vielen Menschen zu einem Ort des Vertrauens werden und den Zugang zu einem verantwortlichen Leben aus Glauben erschließen können.

Heute wissen wir, dass alle Religionen an der Pflicht zum Frieden Anteil haben und ihre öffentliche Wirksamkeit an dieser Pflicht messen müssen. Und es steht uns deutlich vor Augen, wie wichtig solche aufgeklärte Friedfertigkeit der Konfessionen und Religionen ist. Denn noch immer wird sie an vielen Orten und auf vielfache Weise schmerzlich vermisst. Die tödlichen Gefahren, die sich daraus ergeben, sind uns in den vergangenen Wochen auch in Europa sehr nahe gerückt. Und wenn auch ganz andere Umstände zum gewaltsamen Tod des Schweizer Protestanten Frère Roger Schutz, evangelischer Pastor und ökumenischer Prior, geführt haben, schließt die Trauer um ihn in besonderer Weise Menschen über die Grenzen religiöser Überzeugung hinweg zusammen. Die Erinnerung an seine Friedfertigkeit und seinen ökumenischen Mut kann Christen aller Konfessionen dazu anleiten, sich in ihren Verschiedenheiten mit gegenseitigem Respekt zu begegnen und so auf dem Weg der Einheit weiter zu gehen.

Der Weltjugendtag in Deutschland führt die Pflichten vor Augen, die den Kirchen gerade gegenüber jungen Menschen gemeinsam aufgetragen sind. Das gemeinsame Glaubenszeugnis steht unter ihnen an erster Stelle. Von manchen wird die ökumenischen Gesprächslage zwischen den Kirchen gegenwärtig allerdings wie ein „stotternder Motor“, wie eine „Erschöpfung der Gemeinsamkeiten“ oder gar wie eine „ökumenische Eiszeit" empfunden. Demgegenüber muss man daran erinnern, dass die gelebten Gemeinsamkeiten an der Basis der Kirchen und in den Gesprächen auf regionaler Ebene intensiv und stabil sind. Sie müssen aber auch Entsprechungen in den theologischen Verständigungsbemühungen und im kirchenleitenden Handeln finden. Denn ungeschmälert hat die Verpflichtung Gültigkeit, um ökumenische Gemeinsamkeit zu ringen, „damit sie alle eins seien“. So heißt es im Hohepriesterlichen Gebet Jesu (Johannes 17, 21).

Vieles spricht allerdings dafür, die derzeitige ökumenische Situation als eine Phase der „Ökumene der Profile“ zu kennzeichnen. Nach dem gemeinsamen ökumenischen Aufbruch in den letzten Jahrzehnten folgt nun eine Zeit der Konsolidierung und Überprüfung des Erreichten. Nach der Entdeckung vieler theologischer Gemeinsamkeiten und der Überwindung früherer gegenseitiger Verurteilungen stellt sich heute die Frage, wie sich die je eigenen Überzeugungen und Grundsätze der Kirchen im Laufe des ökumenischen Prozesses geklärt und etabliert haben. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass es in manchen Themenfeldern deutliche Unterschiede und gegensätzliche Auffassungen gibt. Aber wie in jeder intensiven Begegnung gehört diese doppelte Wahrnehmung der erreichten Nähe und der bleibenden Unterschiedlichkeit zusammen; die Wahrhaftigkeit gebietet, beide Seiten in den Blick zu nehmen.

Drei Aufgaben sind für die Zukunft des ökumenischen Dialogs besonders hervorzuheben. Sie sollen jeweils ausgehend von einem biblischen Zitat beschrieben werden.

Gott will, „dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Timotheus 2, 4). Das Ereignis des Weltjugendtags erinnert an eine gemeinsame Verpflichtung, der sich gerade in Deutschland und gerade angesichts der Lage der jungen Generation besonders deutlich zeigt. Es ist die Verpflichtung zur Weitergabe des Evangeliums an die nächste Generation. Die Kirchen werden ihr umso eher gerecht, je mehr sie sich um grundlegende theologische Übereinstimmungen bemühen und die Fähigkeit, in wichtigen Fragen gemeinsam zu sprechen – zu nennen sind sozialethische oder bioethische Themen dabei genauso wie kulturelle und bildungspolitische Herausforderungen –, lebendig halten.

„Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Galater 6, 2). In der seelsorgerlichen Begleitung lässt sich auf bekümmernde Weise erleben, dass die konfessionelle Situation es noch immer nicht erlaubt, Menschen in konfessionsverbindenden Ehen in ihrem Wunsch nach kirchlicher Beheimatung so zu respektieren, wie sie es erhoffen. Es ist vordringlich, nach Wegen zur Heilung dieser Not zu suchen und in der Gemeinschaft am Tisch des Herrn ein Ziel zu sehen, das die Kirchen gemeinsam verpflichtet. Gemeinsam ist ihnen auch die Aufgabe, dass sie Menschen in ihrer Individualität und Selbstbestimmung achten und sie bei dem Versuch nicht allein lassen, ihr Leben – gerade auch in den Bereichen von Partnerschaft, Sexualität und Familie – verantwortlich zu gestalten.

„Seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: ein Leib und ein Geist ..., ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“ (Epheser 4, 3f.). Die zwischen den Kirchen erreichten theologischen Gemeinsamkeiten bilden wichtige Orientierungen für den weiteren ökumenischen Weg. Es ist eine bleibende Aufgabe, dass die Kirchen sich diesen Schatz immer wieder neu aneignen, vor allem durch die gemeinsame Zuwendung zur Botschaft der Bibel. Bei deren Studium werden sie auf die Vielfalt der in ihr aufbewahrten Glaubenszeugnisse aufmerksam. Das wird ihnen dabei helfen, auch mit den Verschiedenheiten untereinander in wechselseitiger Achtung umzugehen.

Es ist nicht ein Anlass zur Resignation, wenn diese Verschiedenheiten offen angesprochen und ausgetragen werden. Es ist vielmehr ein Hoffnungszeichen, dass die Kirchen in ihrem ökumenischen Miteinander den zentralen Fragen ihres Verständnisses der Kirche sowie ihrer Verhältnisbestimmung von geistlichem Amt und Gemeinde nicht ausweichen können. Die Bereitschaft zu tiefgehender theologischer Arbeit ist vonnöten, um sich über das Verständnis von  Amt und Abendmahl, von apostolischer Sukzession oder der Bedeutung von Frauen im geistlichen Amt aufrichtig und wahrhaftig auszutauschen. Wenn die Ökumene eine Zukunft haben soll, ist das unerlässlich.

Auch wenn noch nicht alle Zukunftswege einer Ökumene der Profile vor Augen stehen, verbindet die Kirchen in der Taufe ein „sakramentales Band der Einheit“ und die Verheißung des Evangeliums: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Johannes 8,32). In dieses Ringen um die Wahrheit gehört deshalb von evangelischer Seite der Hinweis auf die unumstößliche Gewissheit der „Freiheit eines Christenmenschen“.

Für die Richtigkeit:

Hannover/Köln, 19. Juli 2005

Pressestelle der EKD
Christof Vetter