Predigt zum Israelsonntag

Heinrich Bedford-Strohm

Liebe Gemeinde,

„So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“ Sagt Paulus.

Es ist tröstlich, dass nach dieser letzten Juliwoche des Jahres 2016 heute Morgen hier im Berliner Dom vom Erbarmen die Rede ist. So viel Erbarmungslosigkeit haben wir erlebt. Einen Mann, der nahe Würzburg mit einer Axt auf arglose Touristen in einem Zug losgeht. Einen Amokläufer, der in München um sich schießt, neun Menschen und sich selbst tötet und viele verletzt. Einen weiteren Mann, der sich in Ansbach selbst in die Luft jagt und andere zum Teil schwer verletzt. Und nun auch noch den brutalen Mord an einem Priester in Frankreich, mitten im Gottesdienst. Auch wenn wir bei einigen dieser Anschläge wissen, dass psychische Störungen eine zentrale Rolle spielten: Das Grauen, das uns angesichts dieser Ereignisse packt, hat zu tun mit der Erbarmungslosigkeit, die dabei zum Ausdruck kommt. Erbarmungslosigkeit gegen andere und auch Erbarmungslosigkeit gegenüber sich selbst. Was geht in einem Menschen vor, der so etwas tut? Wie kann aller Respekt vor dem Leben so verloren gehen? Wie kann das sein, dass Hass und Gewalt so die Überhand in einem Menschen gewinnen, dass jedes Mitgefühl verloren geht?

Und vielleicht bewegt uns auch die Frage: Wo ist Gott in dem allen? Die islamistischen Gewalttäter berufen sich ja sogar auf ihn. Und auch wenn wir wissen, dass Gott keine Bomben zündet und dass es Gotteslästerung ist, etwas anderes zu behaupten: Wo ist er dann in alledem?

Die Frage, die den Apostel Paulus bewegt hat, als er vor knapp 2000 Jahren den Brief an die Römer geschrieben hat, speiste sich aus ganz anderen Erfahrungen und war in vieler Hinsicht ganz anders gelagert. Aber wie wir heute hat er in den Kapiteln 9-11, aus denen die heutigen Predigtworte stammen, nach dem Wirken Gottes in der Geschichte gefragt. Was tut Gott mit uns? Wie wirkt er an seinem biblischen Volk Israel? Was hat er vor mit dem Volk, mit dem er doch dereinst einen ewigen Bund geschlossen hatte?

„Ich will einen ewigen Bund mit ihnen schließen, dass ich nicht ablassen will, ihnen Gutes zu tun, und will ihnen Furcht vor mir ins Herz geben, dass sie nicht von mir weichen. Es soll meine Freude sein, ihnen Gutes zu tun, und ich will sie in diesem Lande einpflanzen, ganz gewiss, von ganzem Herzen und von ganzer Seele“ (Jer 32, 40f). Mit diesen wunderbaren Worten hatte der Prophet Jeremia Gottes ewige Treue gegenüber dem biblischen Volk Israel zum Ausdruck gebracht.

Wie oft hatte Gott bewiesen, dass das nicht nur leere Worte waren. Die Bibel ist voll von Geschichten, die das bezeugen. Gottes Liebe ist immer stärker gewesen als alle Treulosigkeit, alle Irrtümer, alle Abwege seines Volkes.

Und nun hatte sich Gott in Jesus Christus den Menschen selbst gezeigt. Immer mehr unter den Juden erkannten in diesem gekreuzigten Mann, den sie Jesus nannten, den verheißenen Messias, in dem Gott sich ein für allemal den Menschen so zeigte, wie er war. In dem er sich sogar den Heiden offenbarte, in dem er sich als der Herr der Welt zeigte, dessen Reich dereinst für alle sichtbar werden würde. Paulus selbst hatte die ersten Christen wegen dieses Glaubens verfolgt. Bis er selbst – in Damaskus – eine so überwältigende Erfahrung der Begegnung mit dem auferstandenen Christus gemacht hatte, dass er fortan mit großer Leidenschaft Juden wie Heiden gegenüber diesen Christus verkündigte.

Aber was war mit denen im Volk Gottes, die dieses Christuszeugnis nicht annahmen? Wie war mit denen umzugehen, die von einem neuen Bund in Christus nichts wissen wollten? Die sich weiter allein auf die Thora als das Zentrum des Lebens mit Gott beziehen wollten? Man kann den Worten aus dem Römerbrief abspüren, wie groß die Liebe des Paulus zu seinem Volk ist, wie sehr er sich Sorgen darum macht, wie es mit der Beziehung zwischen Gott und dem biblischen Gottesvolk Israel weitergehen würde, wie groß der Schmerz darüber ist, dass ein guter Teil von Christus nichts wissen will.

„Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.“

Es ist eine tiefe Liebe für sein Volk, das biblische Gottesvolk Israel, die Paulus da zum Ausdruck bringt und eine eindrucksvolle Bekräftigung seiner unverbrüchlichen Beziehung zu Gott. Ihnen gehört die Kindschaft! Enger kann man eine Beziehung nicht beschreiben! Und es gehört ihnen die „Herrlichkeit“ – gemeint ist damit die erfahrbare Gegenwart Gottes im Gottesdienst. Was kann man sich mehr wünschen? Die Bundesschlüsse! Der Regenbogen etwa nach der Sintflut steht für den ewigen Bund, das Versprechen einer immerwährenden Zusammengehörigkeit zwischen Gott und seinem Volk, das zur Basis des Selbstverständnisses des biblischen Gottesvolkes wird – und damit verbunden alle Treuezusagen Gottes, das Gesetz also alle Regeln, die ein Volk braucht, um ein gutes, ein erfülltes Leben zu leben! Ja – und dann: die Verheißungen! Also die Zusagen, aus denen ein Volk lebt, wenn es am Boden ist, wenn es eigentlich gar nichts mehr zu hoffen hat, wenn es nur noch vertrauen kann. Die Verheißungen, aus denen doch Christus selbst hervorgegangen war, aus denen er in seinem irdischen Leben gelebt und die er mit seiner Auferstehung bezeugt hatte! Das alles – sagt Paulus – gehört dem biblischen Gottesvolk Israel!

Und doch bleibt die Differenz zwischen denen, die Christus nachfolgen und denen, die das nicht tun. Zwischen denen, die nach dem Fleisch Gottes Kinder sind, und denen, die Kinder der Verheißung sind, die in Jesus Christus seine Erfüllung findet.

Paulus könnte jetzt sagen: Wer Christus nicht nachfolgt, der fällt aus der Gottesbeziehung raus. So hat das Christentum über viele Jahrhunderte hinweg das verstanden, das missverstanden, das schrecklich missverstanden. Die Juden – so sagte man - haben den Bund mit Gott verwirkt. An die Stelle des alten Bundes ist mit Christus der neue Bund getreten und hat den alten ersetzt. Und dann ließ man den antijudaistischen Vorurteilen freien Lauf: „Die Juden haben Jesus umgebracht.“ Die Absurdität dieses Satzes fiel kaum jemandem auf. Dass Jesus selbst ein Jude war, wurde schlicht verdrängt. Und dann wurden diese Antijudaismen zum reichen Nährboden für die rassistische Ideologie des Antisemitismus mit den fürchterlichen Folgen, die wir alle kennen.

Mit Paulus hatte das alles nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun. Für ihn war klar, dass Gottes Treue zu seinem Volk ewig ist. Dass Gott seinen ewigen Bund nicht bricht. „So frage ich nun:“ – schreibt er im 11. Kapitel des Römerbriefs – „Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne! Denn ich bin auch ein Israelit, vom Geschlecht Abrahams, aus dem Stamm Benjamin. Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erwählt hat“ (Röm 11,1f).

Paulus erklärt sich das, was er vor Augen sieht, mit einer Geschichtsspekulation, in deren Zentrum Gottes planvolle Verstockung eines Teils seines Volkes steht, das er damit in Dienst nimmt für das Heil der ganzen Welt: „Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden …“ (Röm 11,25f).

Man mag über diese Geschichtsspekulation des Paulus denken, was man will. Aber für ihn ist jedenfalls glasklar, dass der ewige Bund mit seinem Volk gilt. Die bleibende Erwählung des biblischen Gottesvolkes Israel steht für ihn an keiner Stelle zur Disposition.

Und das, liebe Gemeinde, – liegt am Erbarmen. Nicht weil die Menschen Gottes Willen erfüllen, werden sie gerettet. Sondern weil Gottes Liebe nicht anders kann als retten. Weil Gottes Erbarmen keine Grenzen kennt. Weil Gott nie aufhört, Wege zu öffnen, so dass wir Menschen am Ende wieder zu ihm finden. „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen,“ – sagt Paulus, „sondern an Gottes Erbarmen.“

Weil Gott so ist, deswegen gibt es Hoffnung. Deswegen gibt es Hoffnung für Würzburg, für München, für Ansbach, für Kabul, für Bagdad, für Aleppo, für unser ganzes Land, für die ganze Welt.

Wo ist Gott in alledem? Dass er der Barmherzige ist, das wissen wir sicher. Deswegen wissen wir sicher, dass er bei denen ist, die Opfer der Gewalt geworden sind. Wie könnte er es nicht sein als der, der in Christus selbst als Gewaltopfer am Kreuz gestorben ist!? Auf Gottes Erbarmen können wir uns verlassen. Und so wie Paulus fest darauf vertraut, dass am Ende ganz Israel gerettet wird, so dürfen wir darauf vertrauen, dass sich in dieser so von Gewalt geschüttelten Welt am Ende Gottes Erbarmen durchsetzen wird, die Herzen der Menschen erreicht und Hass in Liebe wandelt.

Niemand sage, dass diese Hoffnung naiv ist. Vor 80 Jahren wurde über die Beziehung Gottes zu seinem Volk in dieser Stadt ganz anders gepredigt. Das Neue Testament wollte man „judenrein“ machen. Nach dem schlimmen Leid, das dadurch angerichtet wurde, haben wir Erfahrungen der Umkehr, der Vergebung und der Versöhnung gemacht, auf die zu hoffen kaum einer gewagt hätte. Christen und Juden verstehen sich heute als Brüder und Schwestern. Je länger, desto mehr verstehen wir, dass Gottes Bund mit seinem Volk gilt und wir Christen mit in diesen Bund hineingenommen sind. Die Erfahrung von Gottes Erbarmen hat so viel Geschwisterlichkeitsenergie freigesetzt, dass aus Hass und Unrecht nicht noch mehr Hass und Unrecht geflossen sind, sondern Freundschaft und Versöhnung. Vor allem dank der Arbeit der Arbeitskreise zwischen Christen und Juden und vieler gemeinsamer Aktivitäten wie der jährlich stattfindenden Woche der Brüderlichkeit ist die Geschwisterlichkeit zur Normalität geworden. Gemeinsam kämpfen wir heute gegen jede Form des Rassismus und Antisemitismus, die das gesellschaftliche Klima zu vergiften droht.

Es gibt keinen Grund, im Angesichte der Gewalt zu verzweifeln. Aber es gibt allen Grund, im Angesichte der Gewalt unsere Energie auf Gott zu richten, seiner Barmherzigkeit in unseren Herzen Raum zu geben und uns von dieser Barmherzigkeit inspirieren zu lassen.

Es gibt allen Grund, endlich aus dem Vertrauen zu leben!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen