5. Tagung der 11. Synode der EKD
Timmendorfer Strand, 1. bis 7. November 2012
Das Reformationsjubiläum – ein Ereignis von Weltrang – Schlaglichter auf 2017
Dr. h.c. Peter Schmid, Vizepräsident des Rates des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, Basel
05. November 2012
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Frau Bundeskanzlerin,
Frau Präses,
Hohe Synode,
liebe Schwestern und Brüder,
Das Reformationsjubiläum – ein Ereignis von Weltrang! Sie laden mich ein, ein erstes Schlaglicht aus der Schweiz zu entfachen. Die ganze Bevölkerung fiebert in freudiger Erregung dem Reformationsjubiläum entgegen! Soweit sind wir noch nicht, aber wir arbeiten daran. Ausgangspunkt ist die gesellschaftliche Wirklichkeit, wie sie gestern vom Ratsvorsitzenden Präses Schneider trefflich beschrieben wurde. Wie gestalten wir Erinnerung in und mit einer Gesellschaft mit schleichendem kollektivem Gedächtnisschwund? Wir Reformierten pflegen die Bekenntnisfreiheit und lernen zaghaft und mühsam mit der Kenntnisfreiheit umzugehen. Es ist wie in der Schule, die Klage über die Vergesslichkeit der Lernenden schafft vorübergehend Erleichterung, erzielt aber keine nachhaltigen Ergebnisse. Dort, wo vieles in Vergessenheit geraten ist, wächst die Chance, Neues zu berichten. Für viele Menschen steht das Wort erst am Anfang. Der gestrige Abend mit der lebendigen Präsentation: "Die Themenjahre der Reformdekade" war sehr ermutigend. In der Schweiz sammelten wir 2009 Erfahrungen mit dem Calvin-Jahr, die zeigten, dass eine reformatorische Nachhilfestunde interessant, zeitgemäß, munter, ja sogar süß (Calvin Schokolade) gestaltet werden kann. Das Reformationsjubiläum bietet die hervorragende Gelegenheit, die Vielfalt und Vielgestaltigkeit der Reformation in Erinnerung zu rufen und dabei daran zu denken, dass Vielfalt und Differenz oft gewaltsam bekämpft wurden. Der Umgang mit Vielfalt und Differenz in unserer Gesellschaft ist die Herausforderung für 2017.
Im Kreuzgang des Basler Münsters wurde "Im Jahre des Heils 1542" die Reformatoren-Tafel angebracht. Das steinerne Zeugnis wirft als Ergebnis einer bewussten Gestaltung ein "Schlaglicht" auf wichtige Faktoren der Reformationszeit. Die Reformatoren-Tafel hält die Verdienste des Bürgermeisters Jakob Meyer zum Hirzen, des Theologen Johannes Oekolompad und des Gräzisten und Rektors der Universität, Simon Grynaeus, in knapper Fassung fest. Offensichtlich sahen die Zeitgenossen das Leben und Wirken der drei Männer so eng miteinander verflochten, dass man nicht jedem einzeln eine Gedenktafel errichtete, sondern die drei gemeinsam ehrte. Drei individuelle Lebensläufe waren zu schildern, aber sie sollten auf das wichtige Thema ihrer Zeit bezogen – die Reformation – eine Einheit bilden. Und dass gleich drei Verstorbene mit nur einem Grabstein gewürdigt werden konnten, mag der ausgeprägten baslerischen, protestantischen Sparsamkeit durchaus entsprochen haben.
Die Reformatoren-Tafel in Basel lehrt auf unscheinbare Weise, dass der Geschichte der Reformation mit dem Singular nicht beizukommen ist. Bereits der kleine Ausschnitt aus der lokalen Reformationsgeschichte von Basel weist auf die vielfältigen gesellschaftlichen Zusammenhänge und die Mitwirkung vieler Beteiligter hin.
Die Reformation ist das Werk herausragender Persönlichkeiten, die heute noch genannt werden, aber darüber hinaus das Verdienst vieler Unbekannter und Vergessener. Sie alle lebten und wirkten nicht ausschließlich aus sich selber heraus. Ihr Denken und Handeln war geprägt von ihrer "Vorgeschichte", von ihrer unterschiedlichen Herkunft und Ausbildung, vom Austausch mit Gleichgesinnten oder erbittert Andersdenkenden. Zudem war die politische Lage ihrer jeweiligen Aufenthaltsorte von Bedeutung. Seit dem Gedicht von Berthold Brecht, "Fragen eines lesenden Arbeiters", wissen wir einprägsam, dass Cäsar und Alexander ihre Heldentaten nicht gänzlich alleine vollbrachten, sondern wenigstens einen Koch bei sich hatten. Das war bei den Reformatoren nicht anders; hier wären die Köchinnen zu nennen, die Frauen der Reformatoren, die glücklicherweise in unserem Erinnern seit einiger Zeit einen angemessenen Platz einnehmen: Katharina von Bora (Luther), Anna Reinhart (Zwingli), Idelette de Bure (Calvin). Und nicht zu vergessen: Wibrandis Rosenblatt, die mit drei Reformatoren (Oekolompad, Capito, Butzer) verheiratet war, nicht gleichzeitig, sondern in geordneter
Reihenfolge, weil sie ihre Ehemänner überlebte.
Wir neigen dazu, bedeutende Entwicklungen an einzelnen Persönlichkeiten und herausragenden Ereignissen festzumachen. Solche Zuspitzungen fördern die Erinnerung, verstellen zugleich den freien Blick bergen auf die Geschichte. So prägten sich der Thesenanschlag Martin Luthers und das Wurstessen im Hause Froschauer (Missachten der Fastenregeln) mit Ulrich Zwingli tief in die Erinnerungskultur ein. Das waren jedoch keine singulären Ereignisse, die aus dem Nichts heraus in die Geschichte purzelten. Da gab es bereits Pierre Valdo (Waldenser) oder Jan Hus; es gab die Mystiker und die Humanisten.
Die Schweiz pflegt heute bezüglich der Regeln Europas das politische Stilmittel des "autonomen Nachvollzuges"; war es eigentlich zur Reformationszeit schon so? Die hohe Bedeutung Luthers bleibt unbestritten. Zum Glück hatte er seine Reformation nicht patentieren lassen (nun gut, der Patentschutz wäre inzwischen abgelaufen). Weder Zwingli noch Calvin waren nur autonome Nachvollzieher. Ihr Denken und Handeln war das Ergebnis eines Prozesses. Mit guten Gründen wird das Zwingli-Jubiläum bereits 2019 gefeiert werden; zur Erinnerung an seine Zeit als Leutpriester am Grossmünster in Zürich. Dort begann er mit der fortlaufenden Auslegung des Matthäus-Evangeliums. Zu diesem Zeitpunkt war Zwingli noch nicht Reformator im engen Sinne des Wortes. Aber sein Weg folgte der eingeschlagenen Logik seines Denkens; einem Denken das durch den Humanismus und den Humanisten Erasmus von Rotterdam geprägt war. Noch zu meiner Schulzeit wurde der Beginn der Zürcher Reformation mit dem Wurstessen bei Froschauer im Jahre 1522 gleichgesetzt, was mir als Metzgerssohn sehr einleuchtete. Die neue Betrachtungsweise unterstreicht das Prozesshafte der reformatorischen Entwicklung.
Der berühmte Satz Luthers zu Zwingli: "Ihr habt einen anderen Geist als wir" – ausgesprochen am Marburger Religionsgespräch 1529 – zeigt, dass trotz hoher Übereinstimmung in vielen Fragen, die unterschiedliche Herkunft und Ausbildung in wesentlichen Punkten zum unüberwindbaren Hindernis wurden; es kam zu keiner Einigung über das Verständnis des Abendmahls und es blieb beim Bekenntnisgegensatz.
Martin Luther und Johannes Calvin hatten für die Durchsetzung und Ausgestaltung ihres Reformationswerkes rund dreißig Jahre zur Verfügung gehabt. Zwingli nur zwölf. Der Tod auf dem Schlachtfeld zu Kappel brach 1531 sein Wirken jäh ab. Dennoch bestimmte Zwingli nicht alleine die erste Epoche der Schweizer Reformation, sondern beeinflusste wesentlich die Reformatoren des süddeutschen und südwestdeutschen Raumes. Die Einflüsse Zwinglis und seiner Schüler sind in der holländischen Theologie nachweisbar wie auch im Aufbau des anglikanischen Staatskirchentums.
Die Reformation in der Schweiz hatte bereits eine jahrelange Entwicklung hinter sich als Johannes Calvin in Genf eintraf. Calvin war für die Weiterentwicklung der Reformation weit über Deutschland und die Schweiz hinaus von erheblicher Bedeutung. Noch zu seinen Lebzeiten wird Genf zum Vorort eines sich über ganz Europa ausbreitenden neuen Typus der Reformation. Nach Zwinglis Tod auf dem Schlachtfeld 1531 musste sich die Zürcher Reformation wieder neu finden und "orientieren". Das deutsche Luthertum war durch eine Vielzahl innerer Kämpfe in seiner Ausbreitungskraft behindert. Die Wirkungsgeschichte Calvins entfaltete hingegen eine ungeheure Kraft: Es sind die Hugenotten in Frankreich, die Geusen in den Niederlanden, die Puritaner in Schottland zu nennen. Sein Einfluss breitete sich in der Schweiz, in Frankreich, England, den Niederlanden, in einigen deutschen Territorien, in Ungarn und Polen aus. Die 1559 gegründete Genfer Akademie wird bald zu einer zentralen Ausbildungsstätte des Reformiertentums mit internationaler Ausstrahlung.
Dabei verfolgte Calvin nie die Absicht, eine internationale Kirche zu gründen oder das Modell der Genfer Kirche für normativ zu erklären. Es gibt von ihm den schönen Satz: "Macht aus mir kein Idol und aus Genf kein Jerusalem".
An dieser Stelle beende ich den Monolog und lade zum Dialog ein. Die EKD und der
Schweizerische Evangelische Kirchenbund führen im Oktober des kommenden Jahres auf dem Weg hin zu den Reformationsjubiläen einen gemeinsamen Kongress in Zürich durch. Das leitende Thema wurde mir gestern deutlich: "aggiornamento"! Im Namen des Rates SEK lade ich herzlich dazu ein. Es wird viel gearbeitet werden, aber für ein Nachspielen des reformatorischen Wurstessens dürfte die Zeit reichen.
Literatur:
Kurt Aland, die Reformatoren, GTB-Siebenstern, Gütersloh 1976
Der Reformation verpflichtet, Hrsg. Kirchenrat der evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt, CMS-Verlag, Basel 1979
Martin Ernst Hirzel, Martin Sallmann (Hrsg.), 1509 - Johannes Calvin - 2009 - TVZ-SEK, Zürich 2008