Interkulturelles Weihnachtsfest: Predigt in der Matthäuskirche, Hannover

Margot Käßmann

Liebe Gemeinde,

im Lukasevangelium heißt es, „die Hirten kamen eilends und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen“. Was, denken Sie, haben die Hirten da gefunden oder gesehen? Wie stellen Sie sich die „Heilige Familie“ vor? Schließen Sie einmal kurz die Augen. Sehen Sie einen „holden Knaben im lockigen Haar“, wie es uns das Lied „Stille Nacht“ eingeprägt hat?

Letztes Jahr habe ich in einem Gottesdienst im Norddeutschen Krippenmuseum in Güstrow gepredigt. Zur Sammlung gehören 500 Krippen aus mehr als siebzig Ländern. Und da wird deutlich: Diese kleine Familie hat sich in der ganzen Welt beheimatet. Ja, Maria und Josef können schwarzhäutig sein und in einer Rundhütte sitzen. Oder sie sind sehr weiß und bewohnen ein Iglu. Sie haben bolivianische Gesichtszüge oder wir treffen sie an in einem Slum in Indonesien. Und so auch ihr Kind, Jesus – mal weiß, mal braun, mal schwarz, mal mit asiatischen Gesichtszügen, mal mit afrikanischen.

Mich fasziniert das immer wieder. Die biblischen Geschichten sind nicht kulturell gebunden, so sehr sie auch ihren Ursprung in Israel und Palästina haben. Um elementare Geschichten der Menschen geht es, um ihre Erfahrungen miteinander und mit Gott. Schon am Anfang der Bibel wird die Verführbarkeit des Menschen thematisiert – die Vertreibung aus dem Paradies verstehen Menschen in jeder Kultur. Kain und Abel, sie sind in ihrem Bruderzwist Sinnbilder für die Neigung von uns Menschen zur Gewalt. In jedem Land können wir das verstehen, bis heute! Und die Überheblichkeit des Menschen, wie sie der Turmbau zu Babel in anschauliche Bilder fasst, wir sehen sie in den Exzessen der Gier des Kapitalismus ebenso wie in den Diktaturen dieser Welt und auch in den Egomanen, die meinen, die Welt zu beherrschen, sei es durch Terror, Machtmissbrauch oder über ihren Twitteraccount.

Die biblischen Geschichten werden in aller Welt erzählt. Und sie schaffen eine Gemeinschaft der christlichen Familie in aller Welt. In den letzten Jahren war ich als Botschafterin für das Reformationsjubiläum in vielen Ländern eingeladen. Immer hat mich ein Bruder oder eine Schwester im Glauben am Flughafen abgeholt. Du weißt, Du kannst vertrauen, auch wenn Du dem oder der anderen noch nie begegnet bist. Du bist eingeladen in ihr Haus zum Essen und Schlafen, weil sie ebenso dir vertrauen. Du gehst miteinander in den Gottesdienst, du verstehst die Worte nicht, aber du hörst: „Gehtsemane“ oder „Noah“ und du weißt, wovon die Rede ist. In Tansania habe ich auf Suaheli „Ein feste Burg“ mitgesungen. Lustig war das, ich verstand nichts von den Worten, aber deutsche Missionare hatten sie übertragen und so konnte ich die Aussprache von den Buchstaben her umsetzen. Ich wusste, was gesungen wird, ohne den Text zu verstehen. Wir teilen Geschichten, Lieder und Gebete miteinander um den ganzen Globus.

Und da nun sollten wir ein Loblied auf die Missionare singen. Oja, mir ist sehr bewusst, dass es eine Schuldgeschichte der Mission gibt. Wo immer Zwang angewandt wurde, die Ureinwohner verachtet, ja getötet wurden, die Menschen schwarzer Hautfarbe als minderwertig angesehen waren, wurde das Evangelium verraten. Aber es gab und gibt auch eine Hoffnungsgeschichte. Die deutschen lutherischen Missionare haben stets versucht, zuerst die Sprache der Einheimischen zu lernen, sie dann in Buchstaben umzusetzen und schließlich die Bibel zu übersetzen. So entstand Schriftsprache ganz in der Tradition Luthers. Britische Missionare beispielsweise gingen anders vor. Sie brachten den Einheimischen Englisch bei, damit sie die englische Übersetzung der Bibel lesen konnten. Durch deutsche Missionare ist in vielen Ländern die Sprache der Ureinwohner erst in Buchstaben transkribiert und so verschriftlicht tradiert worden.

Einen anderen Erfolg der Missionare hat Nelson Mandela 1998 ungefähr so in Worte gefasst: Sie haben den Gedanken mitgebracht, dass jeder Mensch Gottes Ebenbild ist und daher gleich viel wert. Ich war fast elf Jahre Vorsitzende der Hermannsburger Mission und weiß, dass es dabei auch große Fehler gab. So wurden die Missionarsfrauen beispielsweise angewiesen, ihre Kinder nicht mit schwarzen Kindern spielen zu lassen. Mich hat das beschämt im Nachhinein. Aber gegen all diese menschlichen Schwächen hat sich unter Christinnen und Christen die Überzeugung durchgesetzt: Für Rassismus ist kein Raum unter uns. Wir sind über alle nationalen und kulturellen Grenzen hinweg Kinder der einen Familie Gottes.

Gerade für uns in Deutschland war das schwer zu lernen. 1938 gründeten deutschchristliche Kirchenführer einen „Bund für deutsches Christentum“ mit einem Institut zur „Entjudung der Kirche“ in Eisenach. Dort wurde 1941 ein „entjudetes“ Volkstestament herausgegeben, in dem die Bezüge und Zitate aus dem Alten Testament getilgt waren. Es wurde ein „judenreiner“ Katechismus unter dem Titel „Deutsche mit Gott“ erarbeitet und von der „Nationalkirchlichen Einung Deutsche Christen“ ein Gesangbuch herausgegeben. Antijüdisch und nationalistisch – das war der Irrweg jener Zeit, die ignorieren wollte, dass Jesus selbst Jude war, dass Paulus schrieb: „nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“. Und ein Irrweg, der meinte, Jesus nationalistisch vereinnahmen zu können. Aber Jesus, die Heilige Familie, die Bibel, sie haben sich inkulturiert, beheimatet, auf der ganzen Welt. Und auch die deutsche Kirche ist, wie der Theologe Ernst Lange einmal schrieb, letzlich nur „eine Provinz der Weltchristenheit“. Gerade der deutschen Theologie fällt es immer noch schwer, das zu akzeptieren. Kürzlich sagte ein junger Mann aus Simbabwe, auch Karl Barth sei schließlich nur ein kontextueller Theologe und erntete prompt Stirnrunzeln bei Schweizern und Deutschen ...

Ich bin sehr dankbar, dass wir in den letzten Jahren in Deutschland gelernt haben, dass wir gern ein Teil dieser Familie der Kinder Gottes sind und es große Freude machen kann, voneinander und miteinander zu lernen. In afrikanischen Gottesdiensten beispielsweise haben alle Gemeindemitglieder ihre Bibel dabei und lesen die Texte mit. Das wäre doch interessant auch für uns. Wie gern singen viele Menschen inzwischen Gospel bei uns und drücken dabei manches mit Inbrunst aus, was sie auf Deutsch wohl kaum so direkt sagen würden: „Oh happy day, when Jesus washed my sins away“, „Welch ein glücklicher Tag, als Jesus meine Sünden abwusch“. Fremdes kann irritieren, aber hilft mir, mich zu fragen, was mein Eigenes ist und wo ich mich anregen lassen kann durch anderes. Klar ist auf jeden Fall: Nationalistisch werden wir das Reformationsjubiläum dieses Jahr nicht feiern, wie in früheren Jahrhunderten, sondern weltoffen und ökumenisch!

Diese Lernprozesse zeigen sich auch unmissverständlich im Alltag, in der Praxis. In allen Kirchengemeinden, bei denen ich in den vergangenen Jahren zu Gast war, war ein Engagement für Geflüchtete erkennbar. Da wurde Deutschunterricht angeboten, es gibt Begleitung bei Behördengängen oder gar Kirchenasyl. Und diese Gastfreundschaft macht nicht Halt beim Nachweis des christlichen Glaubens. Wenn Gastfreundschaft in der Bibel als Kennzeichen christlichen Lebens angemahnt wird, dann ist sie nicht an die Glaubensgemeinschaft gebunden, sondern gilt für alle. Wir sehen es heute als Bereicherung, dass in Deutschland Christinnen und Christen unterschiedlicher Herkunft leben. Es gibt eritreische Gemeinden und koreanische in unserem Land, Menschen aus Simbabwe bereichern eine Kirchengemeinde in Stuttgart, und ein ghanaischer Küster verändert eine Kirchengemeinde in Bonn. Wir wissen, dass wir uns als reformatorische Kirchen ständig erneuern müssen und vielleicht geschieht diese Erneuerung in unserer Zeit durch die Zuwanderung in unserem Land. Das ist doch interessant: Die Missionare brachten den christlichen Glauben aus Europa in alle Welt. Jetzt kommen Anregungen für eine Erneuerung des Glaubens aus aller Welt nach Europa zurück.

Dazu passt ein interkulturelles Weihnachtsfest sehr gut. Es bedeutet zum einen, dass Christinnen und Christen verschiedener Herkunft und Konfession zusammen feiern, sich gegenseitig anregen und bereichern. Aber zum anderen bleiben wir nicht nur unter uns, sondern zu unserem Weihnachtsfest sind auch Menschen anderen Glaubens und ohne Glauben eingeladen. Längst hat sich das Fest ja auch bei ihnen beheimatet und meint mehr als „Jingle Bells“. Ayman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime schreibt in seinem Buch „Was machen Muslime an Weihnachten?“: „Man muss kein Christ sein, um einen Weihnachtsbaum oder einen Adventskranz schön zu finden.“ (S. 182)

Für Martin Luther war klar: Die Taufe macht uns zu Mitgliedern der Familie der Kinder Gottes. Es ist ganz gleich, aus welchem Land oder welcher Kultur wir stammen, ob wir alt sind oder jung, Männer oder Frauen. Das ist ein Grundsatz, an dem wir festhalten. Und deshalb ist es unerträglich, wenn Behörden nun meinen, Christinnen und Christen, die in Deutschland getauft wurden, einem Glaubenstest unterziehen zu können. Da werden Menschen gefragt, ob sie die unterschiedliche Zählweise der Zehn Gebote bei Juden, Lutheranern und Reformierten erläutern können. Eine Behörde will so prüfen, ob ein getaufter Iraner „richtiger Christ“ ist. Viele Fragen, die da gestellt werden, könnte ein normaler in Deutschland aufgewachsener Christ nicht beantworten.

Bei mir wohnt zur Zeit eine junge Iranerin, die nach Deutschland geflohen ist, weil sie im Iran als Christin mit dem Leben bedroht wurde. Sie ist tief in ihrem Glauben verwurzelt, aber diffizilen dogmatischen Fragen eines deutschen Gerichtes würde sie wohl kaum standhalten. Es gibt eine Trennung von Kirche und Staat in Deutschland. Und über ein Taufbegehren  entscheidet ein Pfarrer, eine Pfarrerin mit ihrer Gemeinde, nicht ein staatliches Formular! Menschen, die sich entschließen, zum christlichen Glauben zu konvertieren, brauchen unsere besondere Begleitung und Unterstützung, unseren Schutz!

Aber lassen Sie uns heute feiern, dass wir in Deutschland inzwischen begriffen haben, dass der christliche Glaube keine nationalen, kulturellen und ethnischen Grenzen kennt. Ich denke, wir feiern im Reformationsjubiläumsjahr auch diesen Lernprozess. Wie deutsch-national wurden die Jubiläen vergangener Jahrhunderte ausgerichtet! Und wie weltoffen feiern wir in diesem Jahr. Die Reformation ist wahrhaftig Weltbürgerin geworden.

Martin Luther selbst blieb „von den neuen Welten unberührt“, wie sein Biograf Heinz Schilling schreibt. Aber seine aus der Bibel abgeleitete Tauftheologie, dass jeder Getaufte Priester,Bischof, Papst ist, sie hat in aller Welt Menschen bewegt. Und das tut sie bis heute. Gott sei Dank! Amen.