Rede zur Verleihung der Luthermedaille am 31. Oktober 2010 in Nürnberg

Marga Beckstein und Günther Beckstein

Astrid Hahn (Frau Beckstein)

Es gibt eine sehr beruhigende, fast europaweit gültige Zahlenfolge für den Fall, dass man einen Unfall gehabt hat oder bestohlen worden ist. Ob in Deutschland oder Dänemark, in Schweden oder Spanien, in Finnland oder Frankreich: Wer die Nummer 112 wählt, dem wird geholfen. Die 112 steht für Sicherheit und Ordnung.

Für einige Menschen ist die 112 zur Chiffre des Albtraums geworden. 112 Schüsse waren es, die der Amokläufer von Winnenden am 11. März 2009 auf Mitmenschen – Lehrer, Schüler, Polizisten, Passanten – und zuletzt auf sich selbst abfeuerte. 112 Schüsse, die 15 Tote und viele Verletzte forderten.

Schüsse, die Familien ins Unglück stürzten und eine ganze Nation in Schockstarre versetzten. Die aus einem heiteren Städtchen einen Ort der Trauer machten. Die Kinderlärm und Kinderlachen an einer Schule von einem Tag auf den anderen verstummen ließen.

An diesem Tag, dem 11. März 2009, haben sich an den schätzungsweise 40.000 Schulen in Deutschland schätzungsweise 40.000 Schulleiterinnen und Schulleiter gedacht: „Bin ich froh, dass ich dort jetzt nicht Schulleiter bin!“

Liebe Frau Hahn, Sie hätten sich das sicherlich auch gerne gedacht. Stattdessen aber waren sie mittendrin in einem Albtraum, aus dem man nicht erwachen konnte.

• Sie waren es, auf die sich das Interesse der Medien konzentriert hat. Von Null auf Hundert. Rund um die Uhr. Kameras, Blitzlicht, Mikrofone im Dutzend. Oft ging es mehr um Sensation als Information.

• Sie waren es, auf die sich die Blicke der gesamten Schulfamilie richteten. Fragend und in der Hoffnung, Orientierung zu finden, Trost und Hilfe, Leitung von der Schulleiterin.

• Und sie waren es, die bei alledem noch zuzupacken hatte: Ein Notfallprogramm wurde gebraucht. Psychologische Angebote mussten organisiert, Schüler, Eltern und Lehrer betreut werden.

Die Helden aus der Filmwelt bekämpfen ihre Feinde mit Erfolg auf der ganzen Linie. Diese Helden sind unverletzbar, geformt wie aus Stahl. Diese Helden haben auch dann noch Strahlkraft, wenn alle anderen grau sind, mutlos und erschöpft.

Eine solche Filmheldin sind Sie nicht, Frau Hahn.

• Sie haben gegen den GAU, der in Ihr und Ihrer Schulfamilie Leben so plötzlich eingetreten ist, nicht ankämpfen können.

• Sie waren machtlos. 15 Tote sind 15 Tote. Sie rangen vergeblich darum, das Unverstehbare zu verstehen. Mussten sich vorsichtig und unsicher, Schritt für Schritt wieder in Ihr Leben zurücktasten.

• Und Sie sind erschöpft: Das eine Jahr nach dem Amoklauf, sagen Sie, hat Sie so ausgezehrt wie zehn Jahre.

Gleichwohl waren von Ihnen unglaublich offene und unglaublich mutige Aussagen zu hören. Aussagen wie: „Das ist so grausam, dass einem einfach die Worte fehlen.“ Oder: „Manchmal ist auch ein Schulleiter machtlos.“ Oder „Irgendwann ist mal der Akku leer.“ Oder, für mich ganz besonders wichtig: „Wir sind eine Begleitung der Eltern bei der Erziehung, können diese aber nicht ganz übernehmen.“

Und gleichwohl haben Sie durchgehalten. Sie waren standhaft stehengeblieben in Ihrer Schule, weil Sie nicht anders konnten. Sie haben die pädagogische Weiterentwicklung der Schule angestoßen und die Planungen für den Umbau begleitet. Sie haben durchgehalten bis zu dem Zeitpunkt, zu dem Sie sie übergeben oder besser gesagt hergeben konnten, „Ihre“ Schule, „Ihre“ Schüler, „Ihre“ Lehrer.

Keine Heldin also?

Schauen wir in die Bibel: Die Helden der Bibel sind gar nicht so unverletzbar, gar nicht so strahlend, wie wir das immer meinen. Der Apostel Paulus zum Beispiel schreibt in seinen Briefen oft über persönliches Leid. Er sieht sich Bedrohung, Hass und Gewalt ausgesetzt. Im 2. Brief an die Korinther spricht er von einem „Stachel im Fleisch“. Er stellt sich nicht strahlend in den Vordergrund. Er, der Apostel der Völker, tritt hinter seinen Herrn zurück, hinter die Sache des Glaubens.

Natürlich eine Heldin!Stachel im Fleisch. Persönliches Leid. Wirken im Hintergrund: für die Menschen, für ein übergeordnetes Ziel, bis an den Rand des psychischen und physischen Zusammenbruches. Vorbild sein durch Präsenz, als Pädagogin in einem ganzheitlichen Sinne. Als Brückenbauerin dort, wo niemand sich jemals wieder auch nur einen schmalen Steg, geschweige denn eine Brücke hätte vorstellen können. Als eine, die Kraft hat – weil sie eine starke Frau ist, weil sie fest verwurzelt ist in ihrem christlichen Glauben.

Frau Hahn, für mich sind Sie eine Heldin. Eine Heldin, vor der ich mich verneige mit tiefem Respekt. Herzlichen Glückwunsch zur Martin-Luther-Medaille.

Barbara Lambrecht-Schadeberg (Frau Beckstein)

Ganzheitlich ist auch Ihr Wirken, sehr geehrte Frau Lambrecht-Schadeberg. Die Kultur, für die Sie sich im Siegerland engagieren, wünschen Sie sich nicht nur als eine Kultur für die Sieger, sondern für die Siegerländer – für alle Menschen in Ihrer Heimat also, für die Jungen und Alten ebenso wie für die Armen und Reichen, für die Gebildeten und weniger Gebildeten.

Dass Sie bei Ihrer Fördertätigkeit regelrecht auch eine curriculare Ganzheitlichkeit an den Tag legen, erfreut mein Pädagogenherz:

• Das Sprechen findet seinen Schwerpunkt beim Apollo-Theater, das Sie unterstützen.

• Zu hören gibt es das Feinste vom Feinen bei der Philharmonie Südwestfalen, für die Sie sich seit vielen Jahren ebenso leidenschaftlich wie erfolgreich stark machen.

• Und das Sehen kommt auf seine Kosten im Museum für Gegenwartskunst, dessen Mäzenin Sie sind. Die Art, wie man Sie für dieses Mäzenatentum gewonnen hat, haben Sie biblisch beschrieben mit dem Bild des Fischernetzes. Ich zitiere Sie: „Ich habe mich schnell im Fischernetz der Protagonisten aus Verwaltung und Universität einfangen lassen.“ [Online-Bericht vom 29.10.2009, Portal der WAZ-Mediengruppe]. Das Bild passt gut, Frau Lambrecht-Schadeberg: Denn in der Tat sind Sie als Mäzenin ein großer Fisch! Jeder normale Kultur- und Bildungsverantwortliche muss versuchen, einen solchen Fisch in sein Netz zu bekommen – alles andere wäre fahrlässig!

Das Bild vom Fischernetz passt aber auch in einem anderen Zusammenhang.

1994 haben Sie die Barbara-Schadeberg-Stiftung errichtet, deren Stiftungszweck es ist, eine im Evangelium begründete Bildung und Erziehung unserer Kinder und Jugendlichen zu fördern. Bildung wird hier nicht nur als eine Angelegenheit der Lehrerinnen und Lehrer begriffen, sondern als etwas, was alle Bürgerinnen und Bürger angeht, als das gesamtgesellschaftliche Megathema unserer Gegenwart überhaupt. Die Mittel, die diese Stiftung bundesweit ausschüttet, kommen evangelischen Schulen und Schulprojekten zugute, der Lehrerfortbildung und der wissenschaftlichen Forschung. Regelmäßig finden Barbara-Schadeberg-Vorlesungen statt, in denen es um Bildungsthemen und das protestantische Bildungsverständnis geht.

Dieses Bildungsverständnis berührt das Bild vom Fischernetz: Im Netz des Fischers finden sich alle möglichen Fische – große, kleine, schimmernde, matte, schmale, runde. So wie das Netz die verschiedensten Meereskreaturen sammelt, so unterschiedlich sind auch die Kinder und Jugendlichen, die unser Bildungswesen durchlaufen. Jeder junge Mensch sieht anders aus, denkt und fühlt anders, kommt aus einer anderen Familie.

Bei jedem einzelnen jungen Menschen ist es die Aufgabe der Bildungsverantwortlichen, das Netz immer wieder neu auszuwerfen – auf der Suche nach den individuellen Begabungen, Talenten und Interessen. Wenn jeder Mensch Ebenbild Gottes ist, dann sind wir es ihm alleine aus unserem Glauben heraus schuldig, ihn in seiner Individualität, mit seinen individuellen Stärken zu begreifen und zu würdigen.

Diese individuellen Stärken dürfen wir aber nicht vereinzelt stehen lassen: So wie ein Netz voller Fische in der Sonne am Strand vor allem deswegen so schön blitzt und blinkt, weil der Fang als Ganzes ästhetisch ist, so muss individuelle Bildung immer auch Teil gesamtgesellschaftlicher Bildung sein.

Nicht nur die optimale Förderung des einzelnen Kindes und des einzelnen Jugendlichen steht im Vordergrund. Sondern auch seine Entwicklung zum wertvollen Glied in unserer Gesellschaft. Hirn und Herz gleichermaßen zu fördern – das ist Kernpunkt protestantischen Bildungsverständnisses. Für diesen Kern, sehr geehrte Frau Lambrecht-Schadeberg, setzen Sie sich mit Ihrer Stiftung ein.

Fortsetzung: Barbara Lambrecht-Schadeberg (Herr Dr. Beckstein)

Mir hat ein Satz ganz besonders gut gefallen, mit dem Sie das Selbstverständnis modernen Mäzenaten- und Stiftertums auf den Punkt gebracht haben. Sie haben gesagt: „Wir verkaufen im Siegerland nicht mehr Bier, wenn ich Geld für das Apollo-Theater, das Gegenwartskunst-Museum und die Philharmonie gebe.“ [Online-Bericht vom 29.10.2009, Portal der WAZ-Mediengruppe]

Dieser Ausspruch ist so siegerländisch-direkt wie wahr: Mäzene und Stifter stiften nicht deswegen, weil sie sich eine gute Publicity erhoffen. Es geht ihnen um ein Selbstverständnis, das weit über das Selbstverständnis des bloß wirtschaftlich Erfolgreichen hinausreicht. Das gesellschaftliche Verantwortung und gesellschaftliches Engagement als erste Bürgerpflicht begreift.

Mäzene und Stifter sind Vorbilder. Vorbilder, die im wissenschaftlichen, sozialen, künstlerischen oder sportlichen Bereich, im Bereich der Bildung oder in der Natur- und Heimatpflege aktiv sind. Vorbilder, die sich insbesondere unserer Kinder und Jugendlichen annehmen und damit einen direkten Beitrag leisten für eine gute Zukunft unseres Landes.

Der Philosoph Erich Fromm hat einmal gesagt: „Nicht wer viel besitzt ist reich, sondern wer viel gibt.“

Sie, verehrte Frau Lambrecht-Schadeberg, sind nicht nur eine reiche Frau, weil sogar wir Bayern – das sagen Sie aber jetzt nicht weiter! – gerne einmal ein Krombacher trinken. Sie sind vor allem auch vor dem Anspruch Erich Fromms eine reiche Frau. Dazu und zur Martin-Luther-Medaille gratuliere ich Ihnen von Herzen.

Cornelia Schäfer (Frau Beckstein)

Sehr geehrte Frau Schäfer, Sie verkörpern gewissermaßen die Praxis zur Theorie der protestantischen Definition von Bildung.

Seit dem letzten Jahr sind Sie Schulleiterin an der Evangelischen Grundschule Erfurt, der achten Grundschule in Thüringen, die sich in evangelischer Trägerschaft befindet. Zuvor waren Sie 14 Jahre lang Leiterin der Evangelischen Grundschule in Gotha gewesen. Gemeinsam mit Ihren Lehrerinnen und Lehrern und Erzieherinnen und Erziehern haben Sie Grundlagenarbeit geleistet. Die Betonung liegt für Sie dabei auf dem Wort „gemeinsam“: Denn es ist Ihnen wichtig, dass Sie diese Ehrung heute auch stellvertretend für diejenigen Kolleginnen und Kollegen bekommen, die ähnliche Arbeit tun wie Sie.

Das geschieht offensichtlich ausgesprochen erfolgreich: Heute, ein gutes Jahr nach der feierlichen Eröffnung Ihrer Schule, leben und lernen rund 150 Schülerinnen und Schüler dort. Und das Angebot an Plätzen reicht schon jetzt nicht mehr aus, um die Nachfrage zu befriedigen.

Die Evangelische Grundschule Erfurt, für die Sie mit Leib und Seele stehen und einstehen, ist eine besondere Schule. Ich zitiere aus Ihrer Homepage im Internet: „Gelehrt und gelernt wird an unserer Schule nach diesem Grundsatz: Jeder Mensch ist einmalig und wird mit seinen Stärken und Schwächen angenommen. […] Werte wie Toleranz, Achtung, Verantwortung und Nächstenliebe im Sinne eines friedvollen Miteinanders werden in der Gemeinschaft der Kinder, Eltern und Pädagogen mit Leben erfüllt. Auf dieser Grundhaltung basierend schließen wir Nicht-Christen und Gläubige anderer Religionen mit ein.“

In die Praxis übersetzt, heißt das: Die Evangelische Grundschule Erfurt ist eine Ganztagsschule mit reformpädagogischer Ausrichtung und jahrgangsübergreifendem Unterricht. Kinder ohne Behinderung lernen gemeinsam mit Kindern mit Behinderung. An jedes Kind wird ein individueller – und je nachdem eben auch sehr hoher – Leistungsanspruch gestellt. Dass sie dort abgeholt werden, wo sie stehen, dass sie so akzeptiert werden, wie sie sind: Dieser Wertschätzung können die Kinder an der Evangelischen Grundschule Erfurt gewiss sein.

Die christliche Auffassung von der Einmaligkeit eines jeden einzelnen Menschen ist der Kerngedanke protestantischen Bildungsverständnisses. Die eben genannten Werte – Toleranz, Achtung, Verantwortung und Nächstenliebe, darüber hinaus aber auch Tugenden wie Fleiß, Leistungsbereitschaft, Fairness und Zivilcourage – gehen alle auf diesen Kern zurück. Auf diesen Werten ruht unser gesellschaftliches Zusammenleben. Sie sind nicht nur der Kitt, wie immer wieder gesagt wird, sondern noch viel mehr: die Grundlage, das Fundament.

Diese Werte wurzeln tief in unserem europäischen Selbstverständnis, in unserem christlich-abendländischen Urgrund. Ja, sie wurzeln sogar in Christus selbst! Ich zitiere den Bibelvers über dem berühmten Cranach-Altar in der Wittenberger Stadtkirche: „Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ [1. Korinther 3,11] – Diese christlichen Werte, diese Werte in Christus haben uns nach dem Zweiten Weltkrieg geholfen, das Gedankengut des Rassismus und des Antisemitismus, des Militarismus und des Totalitarismus zu überwinden. Wir brauchen diese Werte, weil sie eine ganz wesentliche Basis unserer Demokratie und unseres friedlichen Zusammenlebens darstellen. Und wir wollen diese Werte auch, weil sie Ausdruck unserer christlichen Prägung und unseres christlichen Selbstverständnisses sind.
In Ihrer Schule, Frau Schäfer, sorgen Sie dafür, dass Raum ist für ein Erleben und Reflektieren dieser Werte. Die Integration behinderter Kinder, der Umgang mit Emotionalität, das Erleben auch von Spiritualität – das alles ist Graswurzelarbeit an einem festen Wertegerüst, das unseren Kindern eine Begleitung sein kann fürs Leben.

Ich glaube, dass Schulen in evangelischer Trägerschaft gerade im Osten Deutschlands wertvoller sind denn je. Nicht nur, weil unsere evangelischen Schulen bestens geeignet sind für die evangelischen Schülerinnen und Schüler. Und auch nicht nur, weil sie darüber hinaus offen sind für Kinder und Jugendliche aller anderen Glaubensrichtungen. Sondern auch deswegen, weil Bildungsorte, die sich in ihrem Bildungshandeln immer wieder beim christlichen Glauben rückversichern, unserer Gesellschaft insgesamt gut tun, weil sie hinausstrahlen über den Schulhof, in die Bevölkerung hinein. Weil sie das Klima mitprägen, in dem wir als Gesellschaft zusammenleben und handeln.

Ich habe vorhin Wittenberg erwähnt: Nur 10% der Bevölkerung sind dort noch protestantisch! Das muss uns sorgenvoll stimmen. Meine Überzeugung ist es, dass die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen dann besonders nachhaltig und fruchtbar ist, wenn sie nicht zuletzt auf einer religiösen Basis stattfindet. Wer Werte im sterilen Raum doziert, kann sie anschließend abfragen. Wer Werte in einer lebensnahen Umgebung vor- und mitlebt, kann sie anschließend erleben.

Dieses Vor-, Mit- und Erleben, verehrte Frau Schäfer, praktizieren Sie seit vielen Jahren mit großer Energie und mit großer Empathie, mit Herz und Hand, mit Liebe und Leidenschaft. Die Martin-Luther-Medaille sei Ihnen Dank und zugleich Anerkennung für dieses Wirken, das wertvoll ist im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich gratuliere Ihnen von Herzen zu dieser Auszeichnung.