"Luthers Erbe und die Mission der Kirche im 21. Jahrhundert" - AMD Delegiertenkonferenz in Wittenberg

Margot Käßmann

Es gilt das gesprochene Wort.

1. 500 Jahre Thesenanschlag

Der Deutsche Bundestag hat im vergangenen Jahr festgestellt: „Der Thesenanschlag durch Martin Luther am 31. Oktober 1517 gilt als Auslöser für die Reformation. Sie hat in den vergangenen 500 Jahren nicht nur in unserem Land, sondern europaweit und weltweit eine prägende Wirkung auf Gesellschaft und Politik gehabt. Über 400 Millionen Protestanten sehen in den Thesen, die Martin Luther der Überlieferung nach an die Wittenberger Schlosskirche angeschlagen haben soll, ihre konfessionellen und wichtigen geistigen Wurzeln. Bei dem Reformationsjubiläum im Jahr 2017 handelt es sich um ein kirchliches und kulturgeschichtliches Ereignis von Weltrang.“ Wenn Sie mich fragen, ist schon diese Erklärung durch den Bundestag ein missionarisches Ereignis.

Die Stadt Wittenberg, in der Sie heute tagen, in der Sie eben Lutherstätten besichtigen konnten, sieht das Jubiläum als Chance und plant Themenjahre, Theaterstücke, Open-Air-Veranstaltungen. Die Tourismusprognose gibt der Stadt Recht: 400 Millionen Protestanten weltweit sind ein hohes Potential, allein die USA mit 156 Millionen sind ein großer Markt, die Plattform www.luther2017.de wird eine gewichtige Plattform werden. Kurioserweise sieht sich auch das brandenburgische Jüterbog mit im Boot, obwohl Luther niemals dort war, aber sehr wohl der durch den Ablasshandel bekannte Johann Tetzel. Immerhin hat der sachsen-anhaltinische Landtag den Antrag „Lutherdekade und Reformationsjubiläum als touristisches Markenzeichen für Sachsen-Anhalt und Mitteldeutschland nutzen“ als „sehr wichtig für die Region“ beschieden. Wie sagt mir Peter Hahne bei solchen Nachrichten im Rat der EKD immer: „Margot, wir stehen kurz vor einer Erweckungsbewegung...“

Und in der Tat, das ist wohl auch notwendig. Ende April durfte ich in Eisleben in der frisch renovierten Taufkirche Luthers zur Wiedereröffnung predigen. Ein eindrückliches Gebäude, das nun ein Ganzkörpertaufbecken beherbergt. In Eisleben gibt es heute noch 7% Kirchenmitglieder. Vier große evangelische Kirchen gehören einer Gemeinde von insgesamt 1200 Mitgliedern. Ein Segen, wahrhaftig. Aber eben auch eine Last. Das Jubiläum wird nun nicht gleich Glauben wecken. Aber es macht sichtbar, hörbar, erkennbar, was Reformation in diesem Landstrich bedeutet hat! Und wenn nun Luthers Geburtshaus zu besichtigen ist und Luthers Sterbehaus demnächst ein Ort ist, an dem etwas zu lernen ist über christliche Haltung zum Sterben, evangelische Bestattungskultur, so sehe ich das als große durchaus missionarische Chance.

Neueste Studien zeigen: Im Osten Deutschlands glauben weniger Menschen an Gott als in irgendeiner anderen Region der Welt. Der Schriftsteller Martin Mosebach hält das für eine Konsequenz der Reformation und erklärt, dass „der Protestantismus... mit seinem Hang zur Säkularisierung fast notwendig zur Schwächung des Glaubens geführt hat. Sonst hätte der Kommunismus den Glauben dort nicht so nachhaltig zerstören können.“ (WELT, 21.4.12) Schweres Geschütz! Und eine steile Vorlage für alle, die eine ökumenische Dimension des Reformationsjubiläums 2017 nicht sehen können, sondern sich – wie Herr Mosebach – lieber zurück vor das Zweite Vatikanische Konzil mit seinem Ökumenismusdekret begeben und lateinische Messen feiern wollen. Dort wurde die Messe in der Sprache des Volkes befürwortet - auch ein reformatorischer Einfluss auf den römisch-katholischen Zweig der Kirche... .

Einspruch! Möchte ich rufen. Gewiss, Ostdeutschland führt die Liste der glaubensleeren Regionen an. Aber Tschechien und Frankreich folgen auf dem Fuße bzw. auf Platz zwei und drei. Tschechien liegt ebenfalls im Osten und hat wie Ostdeutschland erleben müssen, wie systematisch ein Regime, das sich der kommunistischen Ideologie verpflichtet wusste, Religion als „Opium des Volkes“ austreiben wollte. Die Deutschen haben das einmal wieder offenbar mit größter Gründlichkeit getan. Es ist nachzulesen, dass Walter Ulbricht dabei soweit ging, den Export polnischer Gänse ebenso wie ein Fällen von Tannen zu verbieten, um Weihnachtsbräuche zu zerstören. Und Frankreich galt nun wahrhaftig nie als Land der Reformation. Aber mit dem Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurde eine Kirche angefragt, die sich mit der Macht verbunden hatte und sich dem Weg in Freiheit und Gleichheit verweigerte.

Ich denke, wir können eher als zentrale Leistung der Reformation sehen, dass Glaube und Vernunft beieinander bleiben. Aufklärung und Säkularisierung waren doch keine Irrwege! Es ist gut, dass Staat und Religion getrennt sind – für beide Seiten! Eine Art „Gottesstaat“ oder auch „Diktat der Religion“ fördert die Freiheit nicht. Gott sei Dank leben wir in einer freien Gesellschaft, in der Menschen Mitglied einer Religionsgemeinschaft sein können oder nicht. Das entspricht der „Freiheit eines Christenmenschen“, von der Luther sprach.

Es bleibt aber nicht bei Wittenberg oder Deutschland. Die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes hat 2010 in Deutschland getagt, um deutlich zu machen: 1517 war kein regionales oder gar provinzielles Ereignis. Nein, damals wurde in Wittenberg Weltgeschichte geschrieben! 2016 wird nun der Zentralausschuss in Wittenberg zusammenkommen, die Vollversammlung aber soll 2017 an anderem Ort tagen, um zu zeigen: es gibt inzwischen eine weltweite lutherische Kirche, die von Wittenberg aus Profil auf allen Kontinenten gewonnen hat. Und das macht gewiss Sinn. Allein der Lutherische Weltbund vertritt 61,7 Millionen Lutheraner weltweit in 136 Mitgliedskirchen. Das heißt, der lutherische Glaube wurde in alle Welt getragen. Und über den Glauben hinaus haben das Verständnis von der Freiheit eines Christenmenschen, der Rechtfertigung allein aus Glauben, der Respekt vor dem Einzelgewissen und der Bildungsgedanke der Reformation Weltgeschichte geschrieben.

Vor kurzem war ich bei einem Kongress des LWB in Augsburg, bei dem 130 Theologinnen und Theologen aus vielen Nationen zusammenkamen. Mich hat fasziniert, wie aus afrikanischer Sicht beispielsweise zurückgeblickt wird auf die Missionare. Eine Frage war, ob sie mit der Ablehnung des afrikanischen Ahnenkultes beispielsweise der Verbreitung des Evangeliums nicht geschadet habe und ob nicht der Heiligenkult der römisch-katholischen Kirche bzw. die evangelische Erinnerung an Väter und Mütter im Glauben parallel zu setzen sei. Spannende theologische Debatten! Bei allen innerdeutschen Reformüberlegungen sollten wir die weltweite Ökumene keinesfalls aus dem Blick verlieren!

In einem gemeinsam von Staat und Kirche getragenen Kuratorium wird die Vorbereitung des Reformationsjubiläums in Wittenberg koordiniert. Ein international besetzter und fächerübergreifender wissenschaftlicher Beirat wird die historischen, kulturellen, geistlichen und kulturellen Dimensionen der Reformation ausleuchten und ihre Bedeutung für die Gegenwart erschließen. Ein Lenkungsausschuss wird Fragen des „Marketing“ und auch der Restaurierung der Lutherstätten bedenken. Zudem wurde eine Luthermedaille kreiert, mit der Persönlichkeiten des Protestantismus ausgezeichnet werden. Es sind Chancen und Möglichkeiten der öffentlichen Rede über den christlichen Glauben, denn bei allen kulturellen und gesellschaftspolitischen Wirkungen ist die Reformation zuallererst ein Prozess, der durch Glaubensfragen in Gang gesetzt wurde.

Inzwischen befinden wir uns mitten in der Lutherdekade (www.luther2017.de). Es ist schon faszinierend, wie hier versucht wird, Ereignisse und Stätten der Reformation zu Themen zu bündeln auf dem Weg zum großen Jubiläum. Als Beispiele nenne ich das diesjährige Jahresthema „Reformation und Kirchenmusik“. Wie missionarisch Musik ist, wissen wir, seit Luther als Liederdichter seine Ideen in alle Welt brachte. Und seit Bach als der „fünfte Evangelist“ wahrgenommen wurde. Im kommenden Jahr lautet das Thema „Reformation und Toleranz“. Gerade mit Blick auf Mission wird das eine gewichtige Herausforderung! Sicher, nicht alle werden alles aufgreifen können. Aber als Angebot, den Weg zum Jubiläum auch in den Gemeinden vor Ort zu nutzen, werden hoffentlich viele aufgreifen. Auf dem Weg zum Jubiläum scheint sich der Protestantismus in Deutschland gemeinsamer Schwerpunkte und Themen zu besinnen. Das finde ich ungeheuer spannend.

2. Luther aktuell

Schauen wir die kommenden Jahre an, so wird es spannend sein, auch die Lutherrezeption einer kritischen Würdigung zu unterziehen. So ist interessant, zu entdecken, wie die Reformationsjubiläen jeweils von ihrer Zeit geprägt waren [1]. 1617 etwa als Jubiläum der konfessionellen Selbstvergewisserung nach all den Auseinandersetzungen, die zur Kirchenspaltung führten. 1717 als Stilisierung Luthers zum Frommen Mann der Pietisten oder des Frühaufklärers gegen mittelalterlichen Aberglauben. 1817 wird als religiös-nationale Feier inszeniert in Erinnerung der Völkerschlacht bei Leipzig 1813, Luther wird zum deutschen Nationalhelden. Der 400. Geburtstag 1883 lässt Luther zum Gründungsvater des Deutschen Reiches avancieren und 1917 wurde er schließlich mit Hindenburg gemeinsam zum Retter der Deutschen in Zeiten großer Not. 1933 umgab Luther mit der Aura des gottgesandten Führers bzw. dessen Vorboten. Und als Tröster der Deutschen wurde er an seinem 400. Todestag gesehen – 1946 als Trost bitter notwendig war. 1983 gab es eine Art Wettstreit um das Luthererbe in Ost und West. In der DDR war Luther nun nicht mehr Fürstenknecht sondern Vertreter der frühbürgerlichen Revolution.

Der Rückblick sollte uns sensibel dafür machen, dass Lutherjubiläen heikle Zeitpunkte sind. Wie werden die Generationen nach uns urteilen über unsere „Inszenierung“? Werden sie sagen, wir wollten Profil gewinnen auf Kosten anderer? Wird es heißen, es wurde versucht, die missionarische Chance zu nutzen? Was ist unsere Botschaft für die Menschen in unserem Land, die mit Kummer leben, mit Fragen nach Sinn, in Angst sind um ihre Zukunft? Was ist die Botschaft der Kirche der Reformation in einer Welt der Ungerechtigkeit, in der fast eine Milliarde Menschen hungern? Ich hoffe, dass wir Profil durch eigene klare Antworten gewinnen.

Bischof Huber sagte in seiner Festrede zur Eröffnung der Lutherdekade am 21. September 2008: „So sehr wir Luthers Beitrag zur deutschen Kultur, insbesondere die Prägekraft, mit der er die deutsche Sprache gestaltet, würdigen, so wenig Anlass haben wir, die Überlegenheitsgesten zu wiederholen, mit denen Martin Luther und ein vermeintliches „deutsches Wesen“ zusammengebracht wurden. Deutsche im Inland wie auch im Ausland wurden unter Berufung auf Luther lange Zeit dazu verführt, Patriotismus und Nationalismus miteinander zu verwechseln.“

Das ist mir wichtig: Dieses Jubiläum können wir nutzen auch für einen kritischen Blick. Nein, es wird keinen „Kult um Luther“ geben. Ich bin überzeugt, der Protestantismus in Deutschland, das Luthertum weltweit ist souverän genug, die Schattenseiten ihres großen Vorbildes nicht auszublenden. Das gilt nicht nur mit Blick auf Nationalismus, sondern auch hinsichtlich seines Verhältnisses zu den Menschen jüdischen Glaubens, das unsere lutherische Kirche nachhaltig negativ geprägt hat. Es gilt mit Blick auf die aufständischen Bauern und Luthers Verweigerung der Solidarität. Und auch hinsichtlich der Gewalt macht Luther Bemerkungen, die heute verstummen lassen.

Auf dem Weg zum Jubiläum 2017 können wir Luther kritisch rezipieren, die Geschichte rekapitulieren, auch unser eigenes Profil schärfen und ihn in ökumenischer Dimension wahrnehmen. Wir können nach einhundert Jahren ökumenischer Bewegung nicht genauso feiern wie vor 100 Jahren. In manchen Hintergrundpapieren wird großer Wert darauf gelegt, dass es sich um ein „evangelisches Datum“ handle. Es gehe um evangelische Selbstdarstellung und evangelische Selbstvergewisserung. Dass es da seitens der römisch-katholischen Kirche ein gewisses Unbehagen gibt, kann ich nachvollziehen. Wenn wir sagen, wir sind Erbin der Alten Kirche (Luther, Wider Hans Worst 1541), dann geht es ja auch um eine gemeinsame Geschichte.
Martin Luther wollte seine eigene Kirche reformieren und nicht spalten. Das kann uns vielleicht auch Maßgabe sein. Ein rein abgrenzendes Reformationsjubiläum jedenfalls halte ich nicht für sinnvoll. Weihbischof Jaschke aus Hamburg hat anlässlich des Reformationstages erklärt, Luthers 95 Thesen würden heute auch von römisch-katholischer Seite akzeptiert und gesagt, er teile Luthers Kritik am damaligen Ablasshandel [2]. Das ist doch ein spannender Ausgangspunkt für neue Gespräche.

Allerdings hat der Papstbesuch in Erfurt vergangenes Jahr keinen Hinweis erbracht, wie wir konstruktiv miteinander feiern können. Noch schwieriger ist die Aufforderung des vatikanischen Ökumene-Ministers, Kardinal Kurt Koch. Der Präsident des Päpstlichen Einheitsrates hat Anfang des Monats ein evangelisch-katholisches Schuldbekenntnis aus Anlass des Reformationsjubiläums vorgeschlagen. Es sollte zudem nicht von einem Jubiläum gesprochen werden, „sondern von einem Reformations-Gedenken, denn wir können nicht eine Sünde feiern", sagte Koch vor wenigen Tagen in Wien. Darauf können sich Evangelische nicht einlassen. Wir sehen uns als Erbin der alten Kirche, die einen eigenen Weg gegangen ist. Die ökumenische Dimension einerseits und die evangelische Klarheit andererseits – hier liegt eine enorme Herausforderung für 2017. Die Ökumenische Bewegung nahm ihren Ausgangspunkt mit der Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910, es war die Unglaubwürdigkeit auf dem Missionsfeld durch die Trennung der einen Kirche, die den Handlungsbedarf zeigt. Vom Missionsfeld her wurde der Ruf drängend, miteinander zu wirken und nicht gegeneinander, um glaubwürdig zu sein. Was, würde ich Sie bei der Delegiertenversammlung gern fragen, könnte der missionarische Aspekt für das Jubiläum austragen?

Großartig wäre doch zu entdecken, wo wir uns aufeinander zubewegt haben. Sicher, ich weiß, es gibt viele Gravamina evangelischerseits: Dominus Jesus, der Ablass zum Jahr 2000. Und es gibt Gravamina römisch-katholischerseits: keine Beteiligung an der Einheitsübersetzung, „Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis“. Und es gab Auseinandersetzungen etwa um die Passagen zu Marienverehrung und Papstverständnis in „Communio Sanctorum“. Das alles kann ich jetzt nur als Stichworte benennen, aber ich denke, es sind Indikatoren für das Spannungsfeld.

Aber: 1999 wurde in Augsburg die Gemeinsame Erklärung der Römisch-katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes zur Rechtfertigung unterzeichnet. Es wurde festgehalten: So wie die beiden Kirchen ihre Lehre heute formulieren, werden sie von den Verwerfungen des 16. Jahrhunderts nicht getroffen. Die Unterzeichnung der Gemeinsamen Offiziellen Feststellung zur Gemeinsamen Erklärung in Augsburg am 31. Oktober war ein feierliches Ereignis. Es bedeutet nicht – und das war allen Beteiligten klar -, dass nunmehr die Lehrbegriffe der unterschiedlichen Traditionen auf einem gleichen Verständnis beruhen. Aber die Unterzeichnung wurde begrüßt als ein Schritt auf einem notwendigen Weg der Annäherung.

Der Kontaktgesprächskreis zwischen Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD hat im Rahmen der Lutherdekade 2008-2017 hier ebenfalls einen Schwerpunkt angelegt: So ist eine in lutherisch-katholischer Gemeinschaft verantwortete kommentierte Ausgabe der 95 Thesen geplant sowie die Herausgabe ausgewählter Schriften Martin Luthers unter dem Arbeitstitel „Luther zum Kennen lernen“ oder „Luther als Lehrer der Kirche“, die aus evangelischer und katholischer Perspektive kommentiert und ausgelegt werden. Projekte, die am gemeinsamen Verständnis der Reformation, ihrer Ursachen und Wirkungen forschen, stehen auch auf der Tagesordnung.

Insofern plädiere ich dafür, dem Reformationsjubiläum auch eine deutlich ökumenische Dimension zu geben. Denn das ist doch glasklar: Bei aller Differenz und dem je eigenen Profil verbindet uns mehr als uns trennt. Und: In einer säkularisierten Gesellschaft ist ein gemeinsames Zeugnis der Christinnen und Christen von großem Gewicht. Die Erfahrung ist: Je stärker wir gemeinsam auftreten, desto eher werden wir gehört. Desto eher können wir auch missionarisch wirken. Gleichzeitig ist natürlich dem Theologen Ulrich Körtner zuzustimmen, der vor einer „Verzwergung“ des theologischen Erbes der Reformation warnt. Es wird um die rechte Balance gehen...

Im Folgenden möchte ich auf vier Punkte eingehen, die mir theologisch wichtig sind auf dem Weg zum Jubiläum und für eine missionarische Ausrichtung:.

3. Bibel

Die Bibel ist der zentrale Bezugspunkt der Reformation. An der Bibel entwickelt sich Luthers reformatorische Entdeckung.

Immer wieder kommt sie, diese berühmte Frage: „Welches Buch würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?“ Manchmal ist es mir fast peinlich zu sagen: Die Bibel. Bei einer Bischöfin hört sich das so an, als sei das ein berufsbedingter Reflex. Dabei bin ich schlicht als Mensch, als Christin überzeugt, dass sich dieses Buch der Bücher wahrhaftig niemals ausliest. Zum einen entdecke ich immer wieder Passagen, bei denen ich überzeugt bin: Das hast du noch nie wahrgenommen! Schifra und Puah etwa, diese beiden Hebammen zur Zeit des Pharao, habe ich erst im Rahmen einer Weltgebetstagsvorbereitung entdeckt. Dass Joseph und seine elf Brüder auch eine Schwester, Dina, hatten, ist mir eher zufällig aufgefallen. Den kleinen Vers über die Frau von Pilatus habe ich lange übersehen. Die unterschiedlichen Akzente der vier Evangelisten finde ich immer wieder überraschend. Und die Reisen des Paulus habe ich erst für einen Vortrag genauer nach seinen Briefen nachverfolgt – der erste Globalisierer sozusagen.

Der biblische Text ist die Niederschrift einer Glaubenserfahrung, die in Dialog tritt mit Glaubenden und ihrem Kontext. Er ist damit niemals ausgelesen, nie fertig, sondern immer Teil eines Dialogs. Erzählte Gotteserfahrung und erlebte Gottesexistenz treffen aufeinander. Es geht um eine Dreiecksbeziehung zwischen Gott, Mensch und Kontext, in der biblische Texte je neu reflektiert werden und relevant sind. Die Bibel ist daher niemals ausgelesen. Und die Bibel ist der Grundtext des Christentums, mit der Bibel beginnt die Mission.

Für mich ist es eine Tragödie, dass so viele Menschen in Deutschland die Bibel gar nicht mehr kennen. In diesem Land hat Martin Luther das erste Mal die Bibel in die Volkssprache übersetzt. Er wollte, dass die Menschen selbst nachlesen konnten. Schulen für Jungen und sogar für Mädchen hat er gegründet, ein Bildungsprozess unvorstellbaren Ausmaßes wurde so in Gang gesetzt. In dem Lutherfilm, der 2003 am Vorabend des Reformationstages in die deutschen Kinos kam, wurde das auf wunderbare Weise deutlich. Mit Joseph Fiennes in der Hauptrolle entsprach Luther nicht so ganz dem Cranach-Portrait, das die meisten von uns vor Augen haben, dazu ist er allein zu dünn. Aber er macht sehr gut klar: Luther hat sich nicht auf andere verlassen, nicht auf Traditionen berufen, sondern selbst gelesen, selbst versucht zu verstehen, gerungen um Wahrheit und Erkenntnis. Als ihm theologisch klar war, dass nichts und niemand sich zwischen ihn und Christus stellen kann, keine Lehre, kein Priester, keine Tradition und auch kein Papst, war das für ihn wie eine Befreiung. Darauf hat er sich dann ganz und gar verlassen: Glaube wird dem Menschen von Gott geschenkt und er kann deshalb ganz von Gottes Gnade her und frei von Angst leben. Luther hat sich daraufhin nicht geduckt, sondern in Konsequenz mutig Verantwortung in der Welt übernommen aus seinem Glauben heraus.

Für die Kirche der Reformation bleibt die Bibel von zentraler Bedeutung, um Orientierung zu finden. Die Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache war ein revolutionärer Vorgang. Heute wird das ignorant behandelt. Immer wieder erlebe ich, dass Menschen sagen, das Christentum, das sei doch nicht interessant. Und wenn ich frage, was sie denn so Abschreckendes in der Bibel gelesen haben, wo ihre Schwierigkeiten liegen, dann wird oft klar: Sie haben noch nie in der Bibel selbst gelesen. Das ist ein Trauerspiel! Heute ist die komplette Bibel in 392 Sprachen übersetzt, das Neue Testament in 1012 Sprachen. Es bedeutet manchen Menschen in der Welt ungeheuer viel, nun endlich in ihrer eigenen Sprache lesen zu können, was geschrieben steht... . Die Bibel ist weltweit für Christinnen und Christen zuallererst das grundlegende Buch unseres Glaubens, die tragende Säule, der zentrale Bezugspunkt. Mich fasziniert das oft bei internationalen kirchlichen Konferenzen, wenn eine Verständigung in bestimmten Fragen sehr einfach ist. Das Buch Jona etwa kennen alle, bei den Seligpreisungen weiß jeder und jede was gemeint ist, Gethsemane ist allen ein Begriff. Die Bibel ist daher auch ein Schlüssel zu Verständigung über kulturelle und nationale Grenzen hinweg. Sie ist Glaubenszeugnis und Quelle des Glaubens.

Gleichzeitig hat die Bibel auch unsere Kultur, die Literatur, die Musik, das Theater geprägt. Wer die Bibel nicht kennt, wird europäische Geschichte und Architektur nicht verstehen, sie ist auch ein Kulturgut. Und nur wer selbst in der Bibel liest, kann verstehen, worum es da geht, kann auch widerlegen oder befürworten, was behauptet wird. Dabei erscheint mir die so genannte historisch-kritische Methode der Bibelauslegung eher eine Hilfe denn als Abschreckung, wie manche sie ansehen. Historisch-kritisch bedeutet, dass ich nachlesen kann, in welchem Kontext und in welcher Zeit ein biblisches Buch entstanden ist, ob eine Person oder mehrere die Verfasser waren, ob es spätere Eingriffe in dieses Buch gab. Dazu muss ich nicht gleich Theologie studieren. Es gibt gut verständliche und den Stand der Forschung zusammenfassende Nachschlagewerke, die helfen können, einzelne Bücher und Autoren einzuordnen, bestimmte Begriffe zu verstehen. [3]

Mir geht es darum, dass wir in unserer Zeit von der Bibel her Orientierung suchen und auch endlich die Sprache wieder finden als evangelische Christinnen und Christen. Wir müssen von unserer eigenen Sache reden, vom Glauben an Jesus Christus, davon, dass Gott die Welt geschaffen hat, dass die Erde Gott gehört und wir Haushalterinnen und Haushalter sind, die sie verantwortlich zu bebauen und zu bewahren haben. Viele Christinnen und Christen sind darüber stumm geworden. Über alles und jedes wird gesprochen, aber nicht über den eigenen Glauben. Hier liegt eine große Herausforderung. Wie finden wir eine eigene Sprache, die nicht den formelhaften Bekenntnissen beispielsweise der amerikanischen Kultur entspricht, aber doch Glaube und Vernunft in ein Verhältnis setzt?

Es wird darauf ankommen, in der individualisierten Gesellschaft zu sagen, was ich glaube, was mich überzeugt, was mich trägt. Mir ist als missionarische Haltung diejenige am Nächsten, die erklärt: Lebe so, dass andere dich fragen, warum du so lebst! Was müssen wir als Kirche, als Christinnen und Christen tun, um in unserer Zeit Menschen nahezubringen: Du kannst dich auf Gott verlassen. Gott kann der feste Grund in deinem Leben sein, wie ein Felsen sozusagen, Jesus kann für dich ganz persönlich etwas bedeuten! Welche Sprache können wir finden, die weder verkitscht noch altertümlich oder aufdringlich ist, sondern schlicht überzeugend? Wenn heute kritisiert wird, die Kirchen dürften sich nicht den Medien anbiedern, christliche Wahrheit sei einfach nicht in einer Minute und dreißig Sekunden radiogerecht zu vermitteln, denke ich: Jedes der Gleichnisses Jesu lässt sich wahrscheinlich in einer Minute und dreißig Sekunden lesen. Das heißt, Jesus konnte Glaubenswahrheit mit einfachen Worten und lebensnahen Beispielen eindrücklich vermitteln. Ja, diese Gleichnisse sind sogar in allen Kontexten der Welt und durch 2000 Jahre hindurch für Menschen verstehbar geblieben. Der barmherzige Samariter, der verlorene Sohn, das Senfkorn als Zeichen für das Himmelreich – das ist nicht kompliziert, aber hat eine tiefe geistliche Dimension. Auch Sprache ist daher von spiritueller Bedeutung.

Vielleicht ist die schönste Sprache des Glaubens die Poesie. Poetische Texte der Bibel von den Psalmen bis 1. Korinther 13 haben die Herzen der Menschen immer besonders berührt. Gerade in unserer Zeit, in der wir oft der allzu vielen Worte überdrüssig sind, erreicht Poesie die Herzen, berührt unsere Seele.

Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum sollte ein frischer neuer Zugang zur Bibel, ein Weitererzählen der biblischen Geschichten, ein Neu-Entdecken der Poesie als Sprache des Glaubens eine Rolle spielen. Da sind wir mitten beim reformatorischen Erbe und den missionarischen Chancen des Jubiläums.

4. Beten (Spiritualität)

Mich bewegt, wie wir als evangelische Kirche in den vergangenen Jahren eine neue Liebe zur Spiritualität entdecken. Die evangelischen Kirchentage haben daran sicher einen großen Anteil. Es gibt eine neue Sehnsucht vieler in unseren Gemeinden danach, den Glauben mit allen Sinnen zu erleben.

Spiritualität ist aber auch eine Art Modethema. Alle reden drüber, aber niemand weiß offenbar so ganz genau, was das konkret sein soll! Eine kurze Definition des Begriffes ist kaum möglich [4]. Er schließt „Glaube, Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung“ zusammen und „bietet also eine Alternative zu spätprotestantischer, entweder einseitig wortorientierter oder ebenso einseitig handlungsorientierter oder ebenso einseitig stimmungsorientierter Frömmigkeit.“ [5] Fulbert Steffensky versucht, den Begriff Spiritualität als „geformte Aufmerksamkeit“ oder „Erfahrung der Einheit des Lebens“ zu fassen [6].

Im Neuen Testament ist immer wieder von Gottes Geist die Rede. Der verwendete griechische Begriff hierfür, pneuma, wird im Lateinischen mit spiritus übersetzt. So sagt Jesus im Johannesevangelium: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ (4,24). Das heißt, der Geist steht für die Dimension des Glaubens, die über diese Zeit und Welt hinausgeht, für die Innerlichkeit, für die Göttliche Gegenwart, die uns immer neu begeistert. Spiritualität ist damit die Glaubensdimension, die sich durch die dritte Person der Trinität erschließt, den heiligen Geist. Durch Gottes Geist wird unsere Gottesbeziehung erfahrbar. Sie hat ihre Mitte in Jesus Christus und sie erhält ihre Kraft durch den Geist. An dieser Stelle könnten wir einen anderen Reformator wieder entdecken, der tragisch endete und vielfach missbraucht wurde: Thomas Müntzer. Vor zwei Wochen fand in Mühlhausen eine Tagung statt, bei der deutlich wurde: er war Teil der Reformation. Mit der Auseinandersetzung mit Luther und der Verachtung für Müntzers in der Tat problematischen Weg, mit der Vereinnahmung Müntzers durch die DDR auch ging der Reformation aber etwas verloren, nämlich die Geist-Dimension oder der Erfahrungsanteil des Glaubens. Hier gibt es manches neu zu entdecken.

An die neue Begeisterung für Spiritualität gibt es auch kritische Fragen: Ist das nicht katholisch oder vor-reformatorisch? Ist Spiritualität ein Modebegriff, der die Protestanten abbringt vom gesellschaftlichen Engagement? Dürfen Protestanten meditieren? Ist da nicht Esoterik drin? Wo bleiben Vernunft und Aufklärung? Wollen die Katholiken wieder zur Mystik tendieren? Geht es zurück hinter das Zweite Vatikanische Konzil etwa mit lateinischen Gesängen? Wie ordnen wir die Ikonenverehrung der Orthodoxie ein im Rahmen einer Theologie nach der Aufklärung? Und müssen wir uns nicht klarer abgrenzen, etwa vom ZEN-Buddhismus? Ist Yoga integrierbar ins Christentum? Darf sinnliche Erfahrung im christlichen Glauben eine derartige Rolle spielen?

Das Beten gilt als das „Herzstück christlicher Spiritualität“ [7]. Und es ist wohl auch der einfachste Zugang zu Spiritualität, da bedarf es keiner langwierigen Unterweisung, es betet sich sozusagen von selbst. Und das sollten wir auch nicht verkomplizieren. Martin Luther hat einmal an seinen Barbier Meister Peter über „Eine einfältige Weise zu beten“ geschrieben und ihm Mut gemacht, ganz schlicht das Vaterunser zu sprechen. Nicht allzu viel Brimborium solle gemacht werden, sondern in diesem Gebet sei alles aufgehoben, wenn sich das Herz dafür erwärme. Luther schreibt: „Und ich habe so auch oft mehr in einem Gebet gelernt als ich aus viel Lesen und Nachsinnen hätte kriegen können. Darum kommt es am meisten darauf an, dass sich das Herz zum Gebet frei und geneigt mache ... Was ist‘s anders als Gott versuchen, wenn das Maul plappert und das Herz anderswo zerstreut ist?“ [8]

Ja, Gebet ist auch Konzentration. Es ist gut, einen eigenen Ort für das Gebet zu haben oder eine feste Zeit. Es gibt das gemeinsame Gebet im Gottesdienst, aber vor allem auch das persönliche Gebet im Tagesablauf. Gebet ist auch Einübung einer gewissen Routine. Auf diese Weise kann das Gespräch mit Gott Teil unseres Alltags werden. Wir beginnen unseren Gesprächsfaden mit einem festen Ritual. Und dann wird das Gespräch auch hier und da an anderen Punkten im Alltag oder im Urlaub, in Krisensituationen oder in Zeiten überschäumenden Glücks Teil unseres Lebens sein.

Kraftvoll soll vor allem das „Amen“ gesprochen werden, so Luther, damit wir den Zweifel bekämpfen und fest zu unserem Glauben stehen. Luther hat den Zweifel nie unter den Tisch gekehrt, das ist mir wichtig. Niemand steht so fest im Glauben, dass er oder sie nicht auch wanken würde. Vor allem der Anblick oder die Erfahrung von Leiden bringt uns die drängenden Fragen: Gibt es Gott? Und wenn es Gott gibt, wie kann Gott das zulassen? Warum wurde mein Gebet nicht erhört?

Mich beeindruckt an der Gebetserfahrung unserer Mütter und Väter im Glauben, dass dieser Zweifel immer wieder hineingenommen wurde in das Gebet. Es gibt eine Geschichte, in der fromme Juden über Gott zu Gericht sitzen. Angesichts der Weltlage kommen sie zu dem Schluss, dass Gott nicht existieren kann bei so viel Unrecht und Leid. Nachdem das geklärt ist, sagt einer von ihnen: Nun lasst uns gehen und zu Gott beten. Vielleicht kann so eine Geschichte am besten die Spannung zwischen Glauben und Zweifel beschreiben. Natürlich hadern wir. Und wir hören auch den Stachel, der uns immer wieder anbohrt, etwa: Sollte Gott die Welt geschaffen haben? Das lässt sich doch alles wunderbar anders erklären! Dieser Zweifel, all die Fragen gilt es, mit hineinzunehmen in das Gespräch mit Gott. Aber schon indem wir beten, glauben wir ja die Existenz Gottes.

Besonders gut gefällt mir, dass Luther betont, wir würden ja nicht allein beten, sondern mit der ganzen Christenheit. Dieser Gedanke, dass ein Gebet um die ganze Welt geht, ist besonders bewegend. Wir stehen in einer Erdumkreisung des Gesprächs mit Gott sozusagen. Auch so ist Gott präsent auf der ganzen Welt. Dass wir auch füreinander beten um die ganze Erde herum, stellt uns in eine Gemeinschaft. Oft gibt es Unglücke, die uns bewegen, wir können nicht direkt helfen, aber füreinander beten. In meiner Zeit als Bischöfin wurde in einigen Gemeinden und Klöstern für mich gebetet. Das berührt mich oft sehr. Einem anderen zu sagen: Ich bete für dich, kann Trost schenken, Belastung verteilen auf mehr Schultern, es ermutigt in schweren Zeiten, weil ich weiß, ich bin nicht allein gelassen. Auch habe ich in Gesprächen immer wieder erfahren, wie Menschen in anderen Ländern sich gestärkt fühlen durch die Fürbitte, weil sie so erfahren: Ich bin nicht vergessen, andere kümmert mein Leid. Es gibt einen ökumenischen Fürbittkalender, mit dem wir Woche für Woche für Christinnen und Christen in einer bestimmten Region der Erde beten. [9] So ist Beten nicht nur Teil meiner Gottesbeziehung, sondern auch Element unserer Gemeinschaft. Und wenn wir fragen, ob Beten Wirkung erzielt, so beginnt die Wirkung ja schon, indem wir uns zu Gott wenden und für andere einstehen.

Fulbert Steffensky schreibt:

„Gott ist der erste Beter, weil er das erste Wort der Sehnsucht spricht. Wer sind wir als Betende, was ist das Gebet? Das Gebet ist die Selbstauslieferung des Menschen an das Geheimnis des Lebens. Es ist kein Mittel, etwas zu erlangen. Es ist die Selbstauslieferung des Menschen an das Geheimnis des Lebens. Im Gebet sind wir am meisten die, die wir sein sollen; die, die nicht auf sich selbst bestehen, die sich aussagen in den Grund der Welt. ... Wir erkennen unsere eigene Schönheit und Würde im Blick Gottes.... Das Gebet ist der höchste Ort der Passivität; des Verzichts darauf, sein eigener Liebhaber und Schönfinder zu sein.“ [10]

Das ist eine entscheidende Erfahrung des betenden Menschen: Ich lasse mich selbst los. Ich vertraue mich einem anderen an. Ich begebe mich in ein Gespräch mit Gott, der mehr ist als das Hier und Jetzt, der weiter und größer und tiefer ist, als ich denken kann. Diese Selbstentäußerung, dieses Loslassen, prägt eine Lebenshaltung. So erfahre ich durch das Gebet auch Freiheit von all dem Druck, unter dem ich stehe. Manches, was ausgesprochen ist, vor Gott besprochen ist, verliert seine Macht, es bedrängt uns nicht mehr so.

Gebete verändern. Mich hat immer wieder die Erfahrung der Montagsgebete in der Leipziger Nikolaikirche beeindruckt. Zu DDR-Zeiten begannen sie im kleinen Kreis. Sie wurden voller, ja überfüllt, weil hier in Freiheit ausgesprochen werden konnte, was Menschen bedrängt. In dem Roman „Nikolaikirche“ hat Erich Loest diesen Gebeten, die Pfarrer Christian Führer initiiert hatte, ein Denkmal gesetzt. Nach der Wende wurde es still um sie, aber eine kleine Gruppe hat sie weitergeführt. Und als der Golfkrieg begann, kamen wieder Tausende in ihrer Not und Angst. Danach blieb wieder ein kleinerer Kreis zurück, der jeden Montag diese Gebete aufrecht erhielt. Bei der Entführung zweier Männer aus Sachsen im Irak aber, wussten die Menschen, wohin sie gehen konnten, um ihre Sorge um sie, ihren Kummer auszudrücken. Wieder war die Nikolaikirche DER Ort der Fürbitte. Gebete haben vor mehr als 20 Jahren die Welt verändert. Wir sollten nicht von einem Fall der Mauer sprechen, sie ist nicht einfach so gefallen, durch eine friedliche Revolution, die ihren Ursprung in Gebeten hatte, wurde sie zu Fall gebracht.

Beim Reformationsjubiläum können wir an die Kraft des Betens erinnern. Es praktizieren. Das Gebet Menschen anbieten als Zugang zum Gespräch mit Gott. Wie Luther sagte: Fangt doch einfach an. Einmal am Tag das Vaterunser und ein kräftiges AMEN. Es wird sich etwas verändern in deinem Leben...

5. Bildung

Die Vorstellungen des Mittelalters hinter sich lassend ging es Luther in der Wahrnehmung der „Freiheit eines Christenmenschen“ darum, dass jede Frau und jeder Mann eigenständig den Glauben an den dreieinigen Gott bekennen kann und verstehend das Bekenntnis zu Jesus Christus bejaht. Die Voraussetzung für einen mündigen Glauben war für Luther, dass jede und jeder selbst die Bibel lesen konnte und so gebildet war, dass er den Kleinen Katechismus, das Bekenntnis für den alltäglichen Gebrauch, nicht nur auswendig kannte, sondern auch weitergeben konnte und damit sprachfähig im Glauben war. Grundlage dafür war eine Bildung für alle und nicht nur für wenige, die es sich leisten konnten oder durch den Eintritt in einen Orden die Chance zur Bildung erhielten.

Bildungsgerechtigkeit und Bildungsteilhabe - Martin Luther war der erste, der diese Themen öffentlich machte und sich vehement dafür einsetzte. Er hatte dafür insbesondere zwei theologische Gründe: Glaube war für ihn gebildeter Glaube, also ein Glaube nicht aus Konvention und nicht aus spiritueller Erfahrung allein, sondern durch die Bejahung der befreienden Botschaft des Evangeliums. Dass Glauben immer gebildeter Glauben ist, ist in seiner eigenen Biographie tief begründet. Nur durch das intensive theologische Studium der Bibel, aber auch von Augustinus-Schriften ist er zur befreienden Rechtfertigungseinsicht gelangt. Glaube ist für Luther immer eigenverantwortlicher Glauben: der einzelne Christ muss sich vor Gott verantworten und ist als einzelner von Gott geliebt. Die Kirche ist die Gemeinschaft der Getauften, aber nicht mehr die Heilsmittlerin für den Einzelnen. Glauben als gebildeter und eigenverantwortlicher Glaube sind die wesentlichen theologischen Beweggründe dafür, dass Luther sich vehement für eine öffentliche Bildung einsetzte, damit alle Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit zur Bildung erhielten. Luther verdanken wir in Deutschland die Volksschulen als „Schulen für alle“ – es ist interessant, aber von seinem theologischen Ansatz her nur konsequent, dass er sich selbstverständlich auch für die Bildung von Mädchen einsetzte.

Darin liegt der reformatorische Ursprung - dass dazu auch Melanchthon seinen Beitrag geleistet hat, muss erwähnt werden - des kirchlichen Engagements für die Bildung zum einen und für einen gebildeten Glauben zum anderen. Kindertagesstätten, Schulen mit ihrem Religionsunterricht, Konfirmandenunterricht, Bibelkreise, Glaubenskurse - Bildung ist auch heute eine missionarische Chance.

6. Bekenntnis

Wenn es um das Bekenntnis geht, denke ich persönlich zuallererst an das Apostolikum. Was für ein Bekenntnis! Seit Jahrtausenden nun wird es gesprochen als Zusammenfassung all unseres Glaubens. Immer wieder einmal erhalte ich Vorschläge, wie es denn zu aktualisieren wäre. Aber ich denke, wir können uns schlicht auch fallen lassen in die Glaubensformulierungen unserer Väter und Mütter im Glauben, ohne jeden Satz einer ständigen Überprüfung der eigenen Dignität zu unterziehen. Ständige Individualisierung macht auch nicht alles besser.

Beim Bekenntnis denken wir als lutherische Christinnen und Christen aber natürlich vor allem an die Confessio Augustana (CA oder das Augsburger Bekenntnis/Konfession A.B.). Sie ist zuallererst das grundlegende Bekenntnis. Wenn wir sie auch heute noch zu den verbindlichen Bekenntnisschriften der lutherischen Kirchen zählen, dann zeigt das ihre orientierende Kraft.
Von entscheidender Bedeutung bleibt der siebte Artikel Von der Kirche:

„Es wird auch gelehrt, daß alle Zeit müsse eine heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden. Denn dieses ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirche, daß da einträchtig nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und es ist nicht nötig zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirche, dass allenthalben gleichförmige Zeremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden, wie Paulus spricht Eph. 4: „Ein Leib, ein Geist, wie ihr berufen seid zu einerlei Hoffnung eures Berufs, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe.“

Das ist und bleibt eine grandiose Beschreibung des lutherischen Verständnisses der Ökumene bis heute, denke ich. Kirche ist da, wo das Evangelium gepredigt und die Sakramente gefeiert werden. Wir sind Kirche. Andere haben andere Definitionen. Das mag so sein. Aber dass wir keine gleichförmigen Zeremonien benötigen, sondern vom Grundsatz des Evangeliums her Einheit verstehen in aller fröhlichen Vielfalt, das ist bis heute typisch evangelisch. Und die Leuenberger Konkordie von 1973 hat meines Erachtens genau das kreativ umgesetzt. So hoffe ich auch weiterhin, dass in der weiteren Ökumene der Gemeinschaft mit der römisch-katholischen Kirche ein solches für die Verschiedenheit offenes Verständnis von Einheit sich den Weg bahnt.

Mir ist das Bekenntnis wichtig, wir verpflichten unsere Pastorinnen und Pastoren, aber auch unsere Synodalen darauf. Was bedeutet es uns? Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum wäre wichtig, neu zu reflektieren, was das Bekenntnis uns bedeutet. Wenn wir unterscheiden müssen, Kriterien für Entscheidungen finden, haben wir hier eine Grundlage. Wenn wir gefragt werden, wer wir sind, gibt die CA eine der entscheidenden Antworten. Daran zu erinnern scheint mir wichtig!

7. Nachbemerkung

Was heißt das alles nun auf dem Weg zum Reformationsjubiläum? Vielleicht weniger, Reformpapiere zu erstellen, als aufmerksam zu schauen, wo unsere Zeit steht! Wo sehnen sich Menschen nach der frohen Botschaft des Evangeliums? In welchen Lebenslagen sind sie denn vom Gesetz heruntergedrückt und benötigen die Zusage von Gnade? Wo sind auch wir fixiert auf das Eigene und gut herausgefordert, wenn wir uns in den rechten Kontext stellen einer Welt, in der ein Viertel der Bevölkerung, 935 Millionen, hungern? Wie ist das mit der lutherischen Weltverantwortung, die aus dem Bekenntnis folgt?

Lassen Sie mich enden mit einem Aufruf zur Gelassenheit. Luther hat einmal gesagt, das Evangelium könne nur mit Humor gepredigt werden. Das hat mir schon immer gut gefallen. Prof. Dr. Werner Thiede aus Regensburg schreibt: In Luthers Humor begegnet kein weltentrücktes, immer heiteres Lächeln, sondern ein mitunter kampfeslustiges Lachen, wie es in den Auseinandersetzungen der Reformation notgedrungen seinen Ort hatte.“ [11] Da ist nicht die Komik unserer Talkshow-Welt gemeint, auch kein dralles Lachen, sondern eine Glaubensheiterkeit, die von tief innen kommt. Wir glauben an den Auferstandenen und nicht an einen Toten! Schon Nietzsche sagte, wenn die Christen etwas erlöster aussehen würden, könne er sich der Sache vielleicht annähern. Also. Strahlen wir etwas aus von diesem Bewusstsein der Rechtfertigung, des Erlöstseins, der Gnade Gottes! Ich kann Thiede nur zustimmen, wenn er folgert: „Christen sind Studenten eines im Glauben gegründeten Humors. Sie dürfen bereits hier und heute das eschatologische Gelächter einüben...“ [12]. Vielleicht ist das in missionarischer Hinsicht in der Tat vielversprechender als manches kluge Dokument.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Fußnoten:

  1. Vgl. Hartmut Lehmann, Die Deutschen und ihr Luther, FAZ 26.08.08, Nr. 199, S.7.
  2. Vgl.: Weihbischof kritisiert Ablasshandel zu Luthers Zeiten – Jaschke: Katholiken akzeptieren Luthers Thesen, in: epd Zentralausgabe 212/31.10.2008, S.11f.
  3. Als Beispiel sei genannt das Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003.
  4. Vielfältige Anregungen finden sich in Evangelischer Erwachsenenkatechismus, Gütersloh 2000 (6. Auflage), S. 739ff.
  5. Evangelische Spiritualität, Gütersloh 1979, S. 10f.
  6. Fulbert Steffensky, Schwarzbrotspiritualität, Stuttgart 2005, S. 17f.
  7. Vgl. Das Beten – Herzstück christlicher Spiritualität, hg. v. d. VELKD, Hannover 2005.
  8. Martin Luther, Eine Einfältige Weise zu beten, für einen guten Freund (1535), in: Martin Luther Deutsch, Bd. 6, S. 205ff.; 211.
  9. Vgl. Für Gottes Volk auf Erden, hg. V. Hans-Georg Link, Frankfurt 1989.
  10. Fulbert Steffensky, Die Schwachheit und die Kraft des Betens, in: Das Beten – Herzstück der Spiritualität, hg.v. VELKD. Hannover 2005, S. 9ff.;S. 12f.
  11. Werner Thiede, Luthers Humor, in: Nachrichten der ev.-luth. Kirche in Bayern 11/2008, S. 321ff.; S. 324
  12. Ebd. S. 326.