Predigt in Torgau

Margot Käßmann

Liebe Gemeinde,
wenn ich jetzt durch die Reihen ginge und Sie fragen würde: „Was hoffen Sie?“ Oder bei Ihnen dort vorne fragen würde: „Was glauben Sie?“ Was würden Sie antworten? Wie ginge es Ihnen damit? Einige würden vielleicht sagen: „Liebe Frau Käßmann, Sie sollen doch predigen und nicht ich!“

Wir haben es eben in der Lesung gehört, der Predigttext im ersten Petrusbrief fordert uns heraus, Verantwortung für unseren Glauben zu übernehmen, zu sagen, was wir hoffen.

Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist (1. Petr. 3, 15b).

Mit Blick auf das anstehende Reformationsjubiläum 2017 wird das auf ganz eigene Weise erwartet. Was ist eigentlich evangelisch? Nun ist mir klar, hier in Torgau könnte das jeder Mensch locker sagen, allein schon, wenn jeden Sonntag so viele Menschen zum Gottesdienst kommen!

Aber insgesamt stehen die Evangelischen im Land, ob nun lutherisch, reformiert oder freikirchlich vor der Frage, was das evangelische Profil sei. Wie können wir verantwortlich heute Rechenschaft geben von unserem Glauben, von unserer Hoffnung? Und es stellt sich die Frage nach der Ökumene: Feiern wir eine Spaltung oder eine Geschichte des Zugewinns an Freiheit? Sind die Trennungen des 16. Jahrhunderts wirklich noch relevant? Was ist denn evangelisches Profil?

Rechenschaft von der Hoffnung geben, das war zentrales Anliegen Martin Luthers. Er hat eine ungeheure innere Freiheit erfahren, als ihm klar wurde, dass weder Papst noch Kaiser, weder Sünde noch Gesetze ihn von Gott trennen können. Gott ist schon da. Gottes Hand ist schon ausgestreckt. Von der Bibel her konnte er dieses Gottesverständnis für sich begreifen. Deshalb ist für die Protestanten das „sola scriptura“, die Schrift allein, von so zentraler Bedeutung. Es geht Luther darum, nicht einen von der Kirche in Bahnen und Dogmen gelenkten Glauben zu übernehmen, sondern die Menschen mündig werden zu lassen.

„Sola fide“ – allein aus Glauben: mein Leben findet nicht Sinn, indem ich versuche, vor den Maßstäben dieser Zeit zu bestehen. Sondern es ist geschenkt, der Sinn ist mir schon zugesagt. In der Sprache der Ökonomie dieser Zeit: Unser Lebenskonto ist schon in den schwarzen Zahlen, weil Gott für uns eingezahlt hat. Und nichts, was wir sagen oder tun, kann es in die „Miesen“ bringen.

„Solus Christus“ – an ihm entscheidet sich mein Leben. Christus ist der Maßstab. Kein Führer, kein vermeintlich tausendjähriges Reich, keine Ideologie können dage-gen antreten. Mit Blick auf das Kreuz finde ich meine Lebensorientierung.

Nun werde einige sagen: wieder alles Luther, oder was? Nein. Die Reformation war eine Bewegung, die viele Jahrzehnte umfasste, aber 1517 ist ihr Symboldatum. Und die Reformation wurde von vielen Menschen in Gang gesetzt, Martin Luther ist die Symbolfigur. Sehr schön zeigt das ein Altarbild des italienischen Künstlers Gabriele Mucchi, das in der kleinen Kirche von Alt-Staaken am Rande Berlins zu sehen ist. In diesem Wandgemälde sind unter dem gekreuzigten Christus 12 historische Persön-lichkeiten versammelt, die im 16. Jahrhundert bei der Erneuerung der Kirche und des Weltbildes eine wichtige Rolle gespielt haben: Nikolaus Kopernikus, Ulrich Zwingli, Johannes Calvin, Ignatius von Loyola, Thomas Morus, Katharina von Bora, Martin Luther, Thomas Müntzer, Johannes Bugenhagen, Philipp Melanchthon, Lucas Cranach, Erasmus von Rotterdam. Das ist ein großartiges Zeichen dafür, dass es um eine breite Bewegung ging, einen enormen Aufbruch. Und ich bin froh, dass Mucchi Katharina von Bora dort versammelt hat.

Es ist wie so oft in der Geschichte: die Männer werden gesehen, gehört, gelesen. Ohne die Frauen im Hintergrund aber, könnten Sie gar nicht agieren. Und gerade die Kirchen in aller Welt leben davon, dass Frauen sie tragen, den Glauben weitergeben an die nachwachsende Generation. Von allen Frauen der Reformation nun ist Katharina von Bora die bekannteste. Wir wissen einiges von ihr, eine starke und mutige Frau war sie, hier in Torgau der ersten Station nach der Flucht aus dem Zisterzienserinnenkloster und dem Ort, an dem Katharina starb, bewahren Sie ihr Erbe. Das ist wichtig. Denn wenn wir nach „typisch evangelisch“ fragen, spielen Frauen eine entscheidende Rolle. Und das hat etwas zu tun mit der Rechenschaft über die Hoffnung, die in uns ist.

An zwei Beispielen möchte ich das zeigen.

Luther hat deutlich gemacht: Die Freiheit, von der er spricht,  berührt zuallererst Glaubensfragen, jeder Zwang wird hier abgewehrt. Daraus entsteht die Freiheit des Gewissens, die sich dann als verantwortliche Freiheit im persönlichen und öffentli-chen Leben umsetzt. Es war auch die Freiheit, sich ehelich zu binden. Am Katharinatag muss daran erinnert werden! Zölibatäres Leben galt als vor Gott ange-sehener, der gerade Weg zum Himmel sozusagen. Als Martin Luther Katharina von Bora heiratete, war es ein Zeichen, dass auch Leben in einer Familie, mit Sexualität und Kindern von Gott gesegnetes Leben ist. Für viele Reformatoren war der Schritt zur Ehe ein Signal. Die öffentliche Heirat von bisher zölibatär lebenden Priestern und Mönchen und Nonnen, war ein theologisches Signal. Die Theologin Ute Gause erklärt, sie sei eine Zeichenhandlung, die „etwas für die Reformation Elementares deutlich machen wollte: die Weltzuwendung und demonstrative Sinnlichkeit des neuen Glaubens“(1) Nun wird ja den Evangelischen im Land eher unterstellt, dass sie weniger sinnlich seien als die römischen Katholiken oder die Orthodoxie. Die Reformatoren aber wollten gerade deutlich machen: weltliches Leben ist nicht weniger wert als priesterliches oder klösterliches. Es geht darum, im Glauben zu leben im Alltag der Welt.

Luther sah von der Bibel her, etwa dem Titusbrief (1,6) die Priesterehe legitimiert und schon 1521 heiratete einer seiner Schüler, der Kemberger Priester Bartholomäus Bernhardi. Die Debatten darum zeigten: Freiheit im evangelischen Sinne ist nie der Libertinismus, mit dem Freiheit heute allzu oft verwechselt wird nach dem Motto: „Al-les egal“. Sie ist nie die Banalisierung und Trivialisierung von Werten und Standpunkten nach dem Motto: „Soll jeder machen, was er will!“ Nein, um Verantwortung geht es und um Bindung an Gottes Wort. Freiheit im evangelischen Sinne ist deshalb auch nie liberal im Sinne von absoluter Individualität, sondern sie weiß sich bezogen auf Gemeinschaft. Zölibatsbrüche hatte es in jener Zeit viele gegeben. Und so war die Ehe ein Schritt in eine ernsthafte verantwortliche Verbindung.

Leicht war das für Katharina nicht wie für die anderen Frauen. Sie wurden dafür verspottet und geschmäht, ihnen wurde prophezeit, behinderte Kinder zur Welt zu bringen. Ganz offensichtlich aber haben sie Luthers Freiheitsverständnis in aller Ernsthaftigkeit zutiefst geteilt. Katharina Zell, eine gebildete Straßburgerin, verteidigte ihre Ehe als „Bekenntnisakt im Einsatz für das Evangelium“(2). Indem Frauen respektiert werden, Sexualität als Teil des Lebens, ja als Geschenk Gottes anerkannt wird, geben die Reformatoren und ihre Frauen Rechenschaft von der Hoffnung, die in ihnen ist.

Das hat viele Konsequenzen. Eine ist beispielsweise, dass in den ersten Kirchenordnungen der Reformatoren Hebammen aufgewertet werden als Kirchendienerinnen. Eine Frau, die geboren hat, wird nicht mehr als unrein angesehen, sondern sie soll umsorgt und betreut werden. Die Hebammenordnungen der Reformationszeit sind ein Zeichen dafür.(3)

Katharina selbst hat sechs Kinder geboren, von denen zwei früh starben. Sie führte „einen erfolgreichen kleinen Familienbetrieb“, gab Studenten Unterkunft, bewirtete Gäste, stellte Arzneien her. Wenn Luther sie „Herr Käthe“ nannte, dann klingt das respektvoll und liebevoll zugleich.

Luthers Freiheitsbegriff hat in der Weiterentwicklung zu mancher Freiheit heute ge-führt. „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ als Schlagwort der französischen Revolution haben im Gedanken der Freiheit eines Christenmenschen durchaus Wurzeln. Dass in Frankreich prompt die Schwestern unter den Tisch fielen, zeigt, wie langsam sich Erkenntnisse umsetzen. Die Frauen aber in aller Welt haben immer wieder erkannt, welche Hoffnung in der Lebenszusage des Evangeliums liegt und wie sehr diese Hoffnung im reformatorischen Wirken sichtbar wird. Die Frage wird sein, ob Christinnen und Christen sich ihres Erbes bewusst genug sind, um energisch für die Freiheit einzutreten – für die eigene, aber vor allem auch für die Freiheit des und der Anderen. Es geht zuallererst um die Freiheit, die uns Christus schenkt. In der Konsequenz geht es immer auch um Freiheit des Gewissens, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit.

Als zweites Beispiel will ich die Taufe nennen.

Für Martin Luther wurde immer klarer: die Taufe ist das zentrale Ereignis und Sakra-ment. Hier sagt Gott einem Menschen Gnade, Liebe, Zuwendung, Lebenssinn zu. Und alles Scheitern, alle Irrwege des Lebens können das nicht rückgängig machen. Gehen wir zur Taufe zurück, brauchen wir keine Buße, kein Bußsakrament: wir sind erlöst, wir sind längst Kinder Gottes. „Baptizatus sum“ – ich bin getauft. In den schwersten Stunden seines Lebens hat Martin Luther sich das gesagt und daran Halt gefunden.

Jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, ist Priester, Bischof, Papst, hat Luther erklärt. Deshalb hatte die BILD Zeitung auch sehr recht, als sie titelte: „Wir sind Papst!“ Von da her hat Luther auch den Respekt gegenüber Frauen entwickelt. Sie sind getauft und damit stehen sie auf gleicher Stufe. Das war in seiner Zeit eine ungeheuerliche Position! Frauen galten als unrein, wenn sie nicht Jungfrau waren, Hexenwahn grassierte – von dem sich Luther leider allerdings nicht entschieden distanzierte. Erst nach langen Debatten wurde Frauen überhaupt eine unsterbliche Seele zugestanden. Da zu sagen: Wir sind getauft und damit vor Gott gleich, war ein theologischer Durchbruch und zugleich eine gesellschaftliche Revolution.

Luther konnte dabei übrigens ungeheuer modern sein. Es geht darum, ob gestande-ne Mannsbilder sich lächerlich machen, wenn sie Windeln waschen. Hören wir also mal kurz original Martin Luther:

„Wenn ein Mann herginge und wüsche die Windeln oder täte sonst an Kindern ein verachtet Werk, und jedermann spottete seiner und hielte ihn für einen Maulaffen und Frauenmann, obwohl ers doch in …. Christlichem(n) Glauben täte; Lieber, sage, wer spottet hier des anderen am feinsten? Gott lacht mit allen Engeln und Kreaturen, nicht, weil er die Windeln wäscht, sondern weil ers im Glauben tut. Jener Spötter aber, die nur das Werk sehen und den Glauben nicht sehen, spottet Gott mit aller Kreatur als der größten Narren auf Erden; ja sie spotten nur ihrer selbst und sind des Teufels Maulaffen mit ihrer Klugheit.“(4)
 
Das heißt: Es kommt nicht auf das Geschwätz der Leute an. Es kommt darauf an, dass ich weiß, wer ich bin, dass ich mein Leben vor Gott und in Gottvertrauen lebe und damit Rechenschaft gebe von der Hoffnung, die in mir ist. Und: es ist Teil der Schöpfung Gottes, Kinder groß zu ziehen, es ist Teil der Existenz von Mann und Frau. Oder: „An der Art, wie beide im Vollzug täglicher Aufgaben miteinander umge-hen, zeigt sich, ob sie glauben, was sie bekennen.“(5)

Es hat allerdings noch ein paar Jahrhunderte gedauert, bis die Kirche der Reformati-on begriffen hat, was Priestertum aller Getauften meint. Nämlich, dass Frauen auch de facto Pfarrerin und Bischöfin werden können. Aber wie sagten die Reformatoren: Die Kirche der Reformation muss sich beständig weiter reformieren. Heute ist jeden-falls Kennzeichen der evangelischen Kirche fast überall auf der Welt bis auf wenige Ausnahmen, dass Frauen Pfarrerin sein können und auch Bischöfin. Wer das Ringen in manchen Kirchen und Ländern sieht und liest kann eigentlich nur sagen: schaut noch einmal auf die Reformation und gebt Rechenschaft von der Hoffnung, die sie bewegt hat.

Rechenschaft von der Hoffnung heißt also: im Alltag unseren Glauben leben. Da wo wir stehen, da wo Gott uns hingestellt hat, als Mann oder Frau, in der Familie und Nachbarschaft, in Schule und Beruf. Und: Wir alle stehen hierarchisch auf einer Stufe, sind Teil der Familie der Kinder Gottes, weil wir getauft sind.

Für mich drückt das alles Luthers Haltung in Worms vor weltlicher und kirchlicher Macht: Ich stehe hier, ich kann nicht anders. Das ist die Haltung der Freiheit eines Christenmenschen. Sie ist immer wieder aktuell geworden, mit ihr haben Christinnen und Christen vor Ideologien und brutaler Unterdrückung immer wieder ihre Freiheit bewahrt, auch in der DDR.

Diese Haltung haben seine reformatorischen Mitstreiter und eben auch die Frauen der Reformation eingenommen. Es ist eine innere Haltung, die sich vor Gott verant-wortet, die eigene Gewissensentscheidungen an der Bibel misst und sie dann konsequent umsetzt.

Übrigens: Kinder begreifen recht gut, was diese reformatorische Erkenntnis bedeutet. Als ein Pfarrer sich ärgerte, dass Kinder ständig die Früchte von seinem Apfelbaum klauten, stellte er ein Schild auf: „Gott sieht alles!“ Das ist die Drohung mit dem Angst machenden, strafenden Gott, der unsere Verfehlungen anrechnet. Die Kinder aber schrieben darunter: „Aber Gott petzt nicht!“ Ich nehme fast an, das hat ihnen eine kluge Mutter wie Katharina beigebracht….

Auf jeden Fall ist es eine wunderbare Beschreibung der reformatorischen Erkenntnis. Gott petzt nicht. Gott trägt uns nicht nach, was uns nicht gelingt, wo wir seinem Anspruch an uns nicht gerecht werden. Weil wir das niemals ganz und gar durch ein noch so gutes Leben schaffen würden. Aber wir können aufrechten Hauptes Rechenschaft geben, von der Hoffnung des Glaubens, die uns hält und trägt.

Dazu gebe Gott uns Weisheit, Mut und Segen. Amen.

Fußnoten:

1 Ute Gause, Ehe als reformatorische Inszenierung, Ritual und Skandal. Antrittsvorlesung Bochum 21. Mai 2008, unveröffentlichtes Manuskript, S. 2.
  Kaufmann S. 181.

2 Vgl. dazu: Ute Gause, Kirchengeschichte und Genderforschung, Tübingen 2006, S. 122f.

3  EL WA 10, 296f. (Scharffenorth. S. 219)

4 Gerta Scharffenorth, Freunde in Christus, in: „Freunde in Christus werden…“, hg.v. Gerta Scharffenorth und Klaus Thraede, Gelnhausen 1977, S. 183ff.; S. 220.