Predigt zur Eröffnung der Ökumenischen Friedensdekade, Kapelle des Ökumenischen Forums HafenCity, Hamburg

Margot Käßmann

Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Gemeinde,

eine spannende Geschichte ist da ausgewählt worden als Predigttext für die Eröffnung der Friedensdekade 2012! Schauen wir uns die Szene zunächst etwas näher an. Jesus will sich zurückziehen. Es heißt: „Er ging in ein Haus und wollte es niemanden wissen lassen und konnte doch nicht verborgen bleiben“. Wir lesen einen biblischen Text ja immer wieder mit neuen Augen. Wenn ich diesen Vers heute lese, denke ich: armer Jesus! Vielleicht ist ihm der ganze Trubel zu viel geworden. Er wollte einmal seine Ruhe haben vor all den Menschen, die ihm folgen, ihn bewundern, viel von ihm erwarten, ihn vielleicht auch beschimpfen wollen. Wie so mancher von der Boulevardpresse gejagte Promi, denkt er wohl: „Halt sie draußen!“ „Lasst mich einmal in Frieden!“ „Ein wenig Respekt vor den Grenzen des Privatlebens bitte!“ „Es gibt auch ein Recht auf Rückzug!“

Die Frau aus Syrophönizien gehört offenbar zu denen, die das nicht akzeptieren. Interessant, es wird besonders betont, dass sie selbst keine Jüdin ist, sondern Griechin. Und trotzdem erwartet sie von diesem jüdischen Rabbi Heil! Ihre offensichtliche Aufdringlichkeit ist vielleicht nur zu verstehen, wenn wir uns klar machen, was sie antreibt: die kranke Tochter! Ein krankes Kind kann eine Mutter über Grenzen gehen lassen. Sie will alles in Bewegung setzen, um jede Chance auf Heilung wahrzunehmen, nichts soll unversucht bleiben.

Jesus reagiert ungeheuer schroff auf sie: „Lass zuvor die Kinder satt werden; es ist nicht recht, dass man den Kindern das Brot wegnehme und werfe es vor die Hunde.“ Meine Güte, das ist nicht der liebevolle Heiland, den wir vor Augen haben. Das Bild von den Hunden überschreitet jede Form von würdigem Dialog. Diese Schroffheit lässt sich wohl hauptsächlich verstehen aus der Szene selbst, aus dieser Sehnsucht nach Ruhe, die gestört und unterbrochen wird. Aber wohl auch aus seiner Überzeugung, dass er mit Menschen wie dieser Frau nichts zu schaffen hat.

Die Frau aber lässt sich nicht abschrecken. Sie ist hartnäckig, ja sie nervt! Und sie tut etwas, das taktisch sehr klug ist und hilft, wenn du beleidigt wirst: Zieh dich nicht verletzt zurück, sondern nimmt die Beleidigung schlicht auf und nutze sie. „Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde unter dem Tisch von den Brosamen der Kinder.“ Das klug, ja genial. Und es entwaffnet Jesus. Er ist beeindruckt offensichtlich von der Beharrlichkeit, aber die andere Position leuchtet ihm wohl auch ein. Das Kind wird geheilt.

Ist das nun das Wunder einer Fernheilung? Das ist schwer zu begreifen. Der Evangelist Markus wollte gewiss zeigen, dass Jesus heilen kann, Heiland ist. Wichtiger aber scheint ein ganz anderer Punkt: die Frau akzeptiert die Abfuhr nicht, sondern bringt Jesus zum Zuhören. Und ganz klar ändert er seine Meinung. Er begreift, dass er nicht nur für das jüdische Volk die Botschaft Gottes zu verkündigen hat.

Jesus von Nazareth, der auferstandene Christus steht gerade für die ungeheuerliche Weitung, dass Menschen aus allen Völkern Zugang zum Gott Israels finden können. Der Gott, den Jesus mit „Abba, lieber Vater“ anspricht, verschließt sich nicht vor der Frau, die Griechin ist. Letzten Endes ist das eine Schlüsselszene: Gott will sich allen Menschen zuwenden.
Vor vielen Jahren habe ich in einer Predigt zu diesem Text einmal gesagt: die Frau wird zur Lehrerin für Jesus. Darauf erhielt ich einen zornigen Brief: „Unser Herr Jesus war vollkommen, der brauchte keine Lehrerin!“ O doch! Jesus war „wahrer Mensch und wahrer Gott“, wie es das Konzil ausdrückte. Er musste lernen wie jedes Kind und den Horizont erweitern wie jeder Mensch. Er konnte offensichtlich geradezu bissig reagieren, aber hatte die Größe, neue Sichtweisen anzunehmen. Jesus kann den Blick anderer verändern und auch seinen eigenen Blick. Das macht ihn über all die Jahrhunderte hinweg nahbar.

Die entscheidende Botschaft von Markus ist weniger die Heilung als die Klärung: Du musst nicht Jude oder Jüdin sein, oder werden, um an den Gott zu glauben, von dem Jesus spricht. In den ersten Gemeinden, in der Zeit, als Markus schreibt war das sehr umstritten. Deutlich wird: Der Gott Israels verschließt sich nicht. Durch den Glauben an Jesus Christus gibt es einen Weg zu Gott für alle Menschen vollkommen unabhängig von Herkunft, Rasse, Kultur oder Geschlecht.

Theologisch hat das Konsequenzen: zuerst einmal gibt es keine Voraussetzungen, zu Gott zu finden. Deshalb taufen wir Säuglinge. Wir sind überzeugt: Ohne jede Vorleistung wendet sich Gott den Menschen zu. Allein der Glaube ist der Zugang. Für Martin Luther war die Taufe daher so entscheidend. Sie ist ein für alle Mal Lebenszusage. Nichts was ich tue, kein Scheitern an den Geboten Gottes oder eigenen Ansprüchen kann das je wieder in Frage stellen. „Baptizatus sum“ – das hat sich Luther in Zeiten von Zweifel und Anfechtung oft gesagt. „Ich bin getauft!“ Und weil ihm das so entscheidend war, hat er auch geklärt: ein Bußsakrament ist nicht notwendig. Weil Gott die Lebenszusage der Taufe nicht zurücknimmt, wenn wir versagen. Das können wir Gnade nennen, ein Leben aus Gnade, aus der unwiderruflichen Zusage: du bist Kind Gottes.

Die Taufe ist zum zweiten auch Grundlage unseres ökumenischen Miteinanders. Auch wenn wir das Abendmahl leider nicht offiziell teilen können, getauft sind wir alle in die eine geglaubte Kirche. Es ist die Kirche, die verborgen ist hinter all unseren Konfessionen und Differenzen, die Kirche, die wir im Glaubensbekenntnis bekennen. Die Taufe auch, die jede Überheblichkeit ausschließt. Die Hermannsburger Missionare sind bei den weißen Landbesitzern im Südafrika der Apartheid auf Widerstand gestoßen, wenn sie Menschen schwarzer Hautfarbe taufen wollten. Sie sagten: Sind sie getauft, sind sie ja wie wir. Und in der Tat, sie hatten Recht…

Die Taufe hat diese Konsequenz: Wer getauft ist, ist gleich. „Alles, was aus der Taufe gekrochen ist, ist Priester, Bischof, Papst“, sagt Luther. Deshalb gibt es in den evangelischen Kirchen keine Hierarchie zwischen Ordinierten und nicht Ordinierten. Und deshalb – auch wenn die Kirchen der Reformation mehr als 400 Jahre gebraucht haben, um es zu begreifen – gibt es auch keine Hierarchie zwischen den Geschlechtern und Frauen können alle Ämter wahrnehmen. Das ist keine Anpassung an den Zeitgeist, sondern Konsequenz aus theologischer Überzeugung. Selbst Paulus, der ja angeblich den Frauen sagte, sie sollten schweigen in der Gemeinde, weiß das, wenn er schreibt: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,28)

Was kann das nun alles für die Ökumenische Friedensdekade bedeuten, die wir heute unter dem Leitwort „Mutig für Menschenwürde“ eröffnen? Drei Beispiele will ich nennen:
Erstens: Diese Frau aus Syrophönizien klagt ihre Menschenwürde ein. Und zwar beharrlich! Selbst als sie brutal abgewiesen und erniedrigt wird, gibt sie nicht auf. Sie hat eine eigene innere Würde und weiß: Niemand ist „Hund“ und ausgeschlossen. Jeder Mensch hat vor Gott die gleiche Würde, allein schon, weil jeder Mensch, so glauben wir, Geschöpf Gottes ist, nach Gottes Ebenbild geschaffen.

Es sollte Jahrhunderte dauern, bis daraus die Grundüberzeugung von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen abgeleitet wurde, endlich die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte deklariert wurde. Ganz offensichtlich sind diese Grundüberzeugungen aber nicht ein für alle Mal wie ein Monument in die Herzen und Hirne der Menschen eingebrannt. Sie müssen immer wieder neu errungen werden. Und das nicht nur in den Diktaturen und Unrechtsregimen dieser Welt. Die Ermordung von Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü und sieben anderen Menschen in unserem Land, die vor gut einem Jahr als Mordserie aufgedeckt wurde, macht deutlich, wie ideologisches Gedankengut in den Köpfen spukt.

Gestern vor 20 Jahren, am 8.11.1982, gab es eine große Demonstration mit 350 000 Teilnehmenden in Berlin gegen Ausländerhass und Fremdenfeindlichkeit unter dem Motto "Die Würde des Menschen ist unantastbar". "Deutschland, den Deutschen, Ausländer raus" – das waren die Parolen jener Tage. In Rostock-Lichtenhagen wurde 1992 gar ein Flüchtlingsheim unter dem Beifall hunderter Schaulustiger in Brand gesteckt. Aber offensichtlich haben wir verdrängt, dass sich seitdem leider gar nicht viel geändert hat. Nach Recherchen der ZEIT wurden zwischen 1990 und 2011 148 Menschen durch rechtsradikale Täter ermordet!(1) Wo bleibt der Aufschrei?

Unsere Verfassung sagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und nicht: „Die Würde des Deutschen ist unantastbar“! Deshalb gilt es, in Auseinandersetzung mit einer Partei zu treten, die diese Würde in Frage stellt mit Hetzparolen. Die Plakate im Wahlkampf einsetzen kann auf denen steht „Gas geben“ oder „Gute Heimreise“ und das finanziert mit Steuermitteln.
Am 9. November erinnern wir in Deutschland daran, dass an diesem  Datum vor 74 Jahren Synagogen brannten. Erst wurden die Gotteshäuser vernichtet, dann die Menschen, die dort ihren jüdischen Glauben lebten. Und ja, wir bekennen Mitschuld als Christinnen und Christen, Jüdinnen und Juden nicht geschützt zu haben. Da fällt auch ein Schatten auf den Reformator Martin Luther, der mit seinem Antijudaismus die Kirche, die sich nach ihm benannte, auf einen fatalen Irrweg geschickt hat. Dass aber eine Partei, die im Erbe einer Ideologie steht, die ein Gedankengut verbreitete, das derartiges Zerstören und Morden bis hin zum Holocaust möglich machte, heute nicht verboten wird, ist mir unbegreiflich.

Zweitens: Wenn jeder Mensch die gleiche Würde hat, gilt es, allem entgegenzutreten, was diese Würde in Frage stellt. Und das geschieht zuallererst im Krieg. Die Friedensdekade ist entstanden in den Zeiten des Kalten Krieges in den Niederlanden. 1980 wurde sie von Friedensgruppen und Kirchengemeinden in Ost- und Westdeutschland aufgenommen. Damals wurde deutlich, wie absurd es ist, dass in den beiden deutschen Staaten mit allergrößter Dichte Waffen aufeinander gerichtet werden. Und das sollte dem Frieden dienen?

„Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“, hatten die Kirchen der Welt 1948 erklärt. Und doch sehen wir, dass Kriege weiter geführt werden, und solche Kriege immer im Gepäck führen, dass Menschenwürde mit Füßen getreten wird, selbst wenn sie als „Intervention aus humanitären Gründen“ gemeint sind. Und so ist es gut, dass die Friedensdekade in diesem Jahr verknüpft ist mit der „Aktion Aufschrei gegen Waffenhandel“. Es dient der Würde des Menschen nicht, wenn Deutschland heute auf den unrühmlichen dritten Platz der Weltwaffenexporteure aufgerückt ist. Und es ist nicht im Sinne dieses Jesus, der uns in der Geschichte begegnet, der lernfähig ist, der darauf verzichtet, Waffengewalt anzuwenden selbst bei seiner Verhaftung im Garten Gethsemane. Der uns auf den Weg gegeben hat: Selig sind, die Frieden stiften.

Mich beeindruckt die Geschichte von Archibald Baxter, die Paul Oestreicher bei der Friedenskonvokation in Jamaika im vergangenen Jahr erzählt hat. Baxter war neuseeländischer Landarbeiter. 1917 verweigerte er den Militärdienst. Er wurde gefoltert, in die französischen Schützengräben verschleppt, sein Wille sollte gebrochen werden. Er blieb bei seiner Überzeugung mit den Worten: „Der einzig dauerhafte Sieg, den wir über unsere Feinde erringen können, ist, sie zu unseren Freunden zu machen.“(2)  Das ist eine nachhaltige Grundüberzeugung auch heute!

Drittens: mehr als 20 Flüchtlinge sind im vergangenen Monat 600 Kilometer zu Fuß von Würzburg nach Berlin gegangen. Sie wollen auf ihre Situation aufmerksam machen und haben vor dem Brandenburger Tor demonstriert. Eingepfercht in Sammelunterkünfte, ohne ein Recht auf Bildung, auf Sprachunterricht, eingeschränkt in ihrer Bewegungsfreiheit und gedemütigt durch minimalste Versorgung mit Lebensmitteln, werden sie ihrer Würde beraubt. Wie ist es möglich, dass wir das hinnehmen? Weil die Politik warnt vor Menschen, die einwandern wollen in unsere Sozialsysteme? Da wehren sich Kommunen, Flüchtlinge aufzunehmen. Bürgerinnen und Bürger protestieren gegen Flüchtlingsunterkünfte. In einer Mitteilung heißt es, man habe Angst, dass Grund- und Immobilienpreise ihren Wert verlieren, wenn Flüchtlinge in der Nähe wohnen.

Da kommen Menschen nach Deutschland, die Verfolgung erlitten haben, in Afghanistan, Syrien, im Iran und im Irak und hoffen auf Sicherheit und Zukunft in unserem Land. Sie erleben aber Demütigung und Ausgrenzung. Eine Frau sagte, sie fühle sich wie im Käfig gehalten, versorgt mit gerade noch genug zum Überleben, aber kein Gramm mehr. Eigentlich dachte sie, sie könne hier ihr Architekturstudium beenden und arbeiten. Sie wolle etwas lesen, die Sprache lernen, arbeiten, etwas tun! So sitzt sie da, Tag für Tag und darf nichts tun, nichts lernen, sich nicht frei bewegen. Was für ein Land sind wir, wenn die Würde so angetastet wird? Wer will die Geschichten hören, die diese Flüchtlinge zu erzählen haben? Wer tritt ein für ihre Würde?
Als Christinnen und Christen sind wir gefragt. Und zwar in ökumenischer, sagen wir „getaufter“ Gemeinsamkeit. Das ist keine Politisierung der Kirche, wie uns so oft vorgeworfen wird. Nein, das ist Umsetzung des Evangeliums in den Alltag der Welt. Es geht um Heil für alle. Weil alle Würde haben und nach Gottes Ebenbild geschaffen sind. Jesus begreift das im Gespräch mit der Frau aus Syrophönizien. Wir können es jeden Tag begreifen im Gespräch mit Menschen türkischer Herkunft, die seit Generationen hier leben, mit Soldaten, die zurück kommen vom Auslandseinsatz, mit Flüchtlingen, die hier Schutz und Asyl suchen. Die Menschenwürde wird angetastet. Täglich. Auch mitten in Deutschland. Das können Christinnen und Christen nicht ignorieren. Und zwar nicht aus politischen Gründen, sondern aus Glaubensgründen. So wünschen wir alle dieser Friedensdekade von Herzen viele Gespräche, Initiativen, Ermutigung und vor allem Gottes Segen.
Amen.

Fußnoten:

1 Vgl. www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/todesopfer-rechter-gewalt.
2 Paul Oestreicher, eine neue Welt ist möglich, Ökumenische Friedenskonvokation Kingston/Jamaika, 18.5.11.