Gottesdienst zum Thementag „anders wachsen“, Thomaskirche Leipzig (Offenbarung 3,14-22)

Margot Käßmann

Liebe Gemeinde,

Deutschland geht es gut. Griechenland mag pleite gehen, gar Frankreich Probleme haben, aber wir doch nicht. Wenn wir uns umschauen in der Welt, spielen wir in der allerersten Liga! Die Arbeitslosenzahlen sind in einem Bereich, um den uns viele Nationen beneiden. Großer technologischer Fortschritt prägt unsere Industrie. Auch in der Forschung zählt deutsche Wertarbeit. Rüstungsexporte steigen stetig! Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen halten sich in Grenzen. Streiks kennen wir selten und wenn, dann einigen sich Gewerkschaften und Unternehmer schon auf eine für alle akzeptable Art. Alles klar in Deutschland!

So ähnlich haben sich die Menschen in Laodizea vor fast 2000 Jahren gefühlt. Eine erfolgreiche Stadt, Mittelpunkt der Heilkunde. Eine stolze und unabhängige Bevölkerung. Nach einem Erdbeben im Jahr 61 weist sie römische Hilfe zurück mit den Worten: „Ich bin reich und brauche nichts“. Es ist alles gut in Laodizea. An diese stolze Stadt ist einer der sieben Briefe der Offenbarung des Johannes gerichtet, der Predigttext für den heutigen Buß- und Bettag. Es heißt in der Offenbarung des Johannes im 3. Kapitel, die Verse 14 ff.:

Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.

Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts! und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß. Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest.

Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße!

Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.

Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist der Gemeinden sagt.

Ach, so ein Brief, der könnte wohl auch an Deutschland heute geschrieben sein. Stellen wir uns das vor BILD Seite 1 oder meinetwegen auch FAZ Seite 1: Wenn du doch wenigstens warm oder kalt wärest, liebes Deutschland. Wenn du doch sehen könntest, dass du einer Selbsttäuschung unterliegst. Weißt du nicht, dass du jämmerlich und bloß bist?

  • Hinter der Fassade stehen 148 Menschen, die nach Recherchen der ZEIT zwischen 1990 und 2011 durch rechtsradikale Täter ermordet wurden!  Wo bleibt der Aufschrei?
  • Der schöne Schein verbirgt die Perspektivlosigkeit und das Elend von Kindern – jedes sechste wächst in Armut auf. Nein, das heißt nicht Armut durch physisches Verhungern. Aber Verhungern der Seele, weil keine Beteiligung möglich ist, weil die Bildungsperspektiven verdunkelt sind.
  • Verborgen wird das Elend derer, die Asyl suchen in diesem Land. Eingepfercht in Sammelunterkünfte, ohne ein Recht auf Bildung, auf Sprachunterricht, eingeschränkt in ihrer Bewegungsfreiheit und gedemütigt durch minimalste Versorgung mit Lebensmitteln, werden sie ihrer Würde beraubt. Wie ist es möglich, dass wir das hinnehmen? Weil die Politik warnt vor Menschen, die einwandern wollen in unsere Sozialsysteme“?

Der Brief an die Gemeinde in Laodizea reißt Fassaden herunter. Schonungslos legt er Missstände offen. Und zwar nicht nur Missstände der Welt, sondern auch der Kirche. Ja, gerade die Gemeinde ist angesprochen. Sie hat sich allzu gut arrangiert mit dem Vorhandenen in Laodizea und wohl auch in Deutschland. Reden wir vom Glauben? Suchen wir nach dem gnädigen Gott? Oder machen wir Gott zu einem freundlichen alten Herrn, der alle verstehenden Mutter? Wie ist das mit Schuld und Sünde und Beichte und Vergebung? Sprechen wir vom Tod in diesen doch angeblich „stillen“ Tagen zwischen Volkstrauertag und Totensonntag oder zünden wir nicht lieber ganz schnell die Weihnachtsbeleuchtung an, vor dem Ewigkeitssonntag überall in Stadt und Land?

Liebe Gemeinde, der Buß- und Bettag ist ein Tag, an dem wir das Klopfen hören können. Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Dieser Satz aus dem Predigttext ist bedenkenswert. Gottes Klopfen ist zu hören. Wenn wir denn hinhören.

Und ich bin überzeugt, unsere Gesellschaft ahnt im tiefsten Innern, dass viele Dinge falsch sind, wie sie sind. Und wenn das greifbar wird, dann entstehen ungeheure Ängste. Schöne neue Welt? Wie sieht es aus mit den Stürmen vor der New Yorker Küste in diesem Monat? Kommt die Klimakatastrophe vielleicht doch? Ist es richtig, dass wir immer schneller immer weiter fliegen und fahren können? Laufen wir damit nicht vielleicht doch auch vor unserem Leben weg?

Doch, es gibt die Nachdenklichen im Land. Die sich nicht permanent ablenken und zulullen lassen. Wie sagte der Friedensbewegte Siegmund Schultze: Wir dürfen uns nicht in die Verantwortungslosigkeit hineinschläfern lassen!!! Jeder und jede von uns kennt zumindest diese kurzen Phasen, in denen wir denken: so kann es nicht weitergehen. Jemand muss das aufhalten. Das muss geändert werden!

Buße heißt Umkehr. Martin Luther hat gleich in der allerersten seiner 95 Thesen, deren Entstehung nun fast 500 Jahre her ist, sehr deutlich gemacht, was das bedeutet: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße‘ usw. (Matth. 4,17), hat er gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“ Buße ist also nicht ein einmaliger Akt, sondern ein steter Prozess. In unserem Leben sollen wir uns immer wieder fragen, wo wir in die Irre gegangen sind, Schuld auf uns geladen haben, wo es gilt, neue Wege zu finden. Gott traut uns solche Umkehr zu, das finde ich ungeheuer tröstlich. Buße ist auch ein Akt der Freiheit, wir können uns ändern und unsere Welt dazu. Deshalb ist Buße gerade nicht der drohend aufgerichtete Zeigefinger, sondern Lebenszusage. Weil uns in der Taufe Gottes Liebe zugesagt ist, hat Luther die Buße auch nicht als Sakrament gesehen. Die Taufe und das Abendmahl sind für ihn die entscheidenden Sakramente, weil Jesus sie selbst eingesetzt hat. Wenn wir in die Irre gegangen sind, können wir uns auf die Taufe rückbesinnen. „Baptizatus sum“, ich bin getauft, damit hat Luther sich manches Mal getröstet. Und im Abendmahl erfahren wir immer neu Gottes Zusage und Lebensbeistand.
Nein, das ist kein drohendes, sondern ein tröstliches Gottesbild.

Das begreifen schon Kinder. Es gibt die schöne Geschichte von einem Pfarrer, der sich ärgert, dass Kinder ständig die schönsten Äpfel aus seinem Garten stehlen. Also stellt er ein mahnendes Schild auf: „Gott sieht alles!“. Die Kinder aber haben offenbar begriffen, was Lebenszusage Gottes bedeutet und schreiben darunter: „Aber Gott petzt nicht!“ Ein gutes Gottesbild, finde ich. Gott weiß, was wir tun. Unsere Abgründe und Irrwege, unsere Schuld und Scham können wir vor Gott nicht verbergen. Aber Gott wird uns nicht darauf festnageln, sondern ermöglicht Buße, Umkehr, Veränderung. Es geht nicht um ein Büßen im Sinne von bestraft werden, sondern um Hinwendung zu Gott, der uns neue Anfänge gewähren will. Das ist die Erfahrung von echter Freiheit.

Bußtage gab es für die Evangelischen von Anfang an, staatlich ausgerufen oder kirchlich angeordnet, Schon 1546 findet sich in Frankfurt der Bußtag mittwochs als Predigtgottesdienst mit erweitertem Gebet. 1878 gab es in 28 deutschen Ländern 47 verschiedene Bußtage an 24 verschiedenen Tagen. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich der jährliche Bußtag, 1852 schlug schließlich die Eisenacher Konferenz den Mittwoch vor dem letzten Sonntag des Kirchenjahres vor.

Ja nun, will sie uns eine Geschichte des Bußtages liefern heute, werden sie fragen. Nein, nicht die ganze, aber sich diese Geschichte bewusst machen, das ist schon wichtig und spannend, denke ich. Wir sind heute dabei, viele Traditionen leichtfertig über Bord zu werfen. Und gleichzeitig wird gejammert, die Werte gingen verloren. Da besteht doch ein Zusammenhang. Bundesweit wurde der Bußtag als Feiertag abgeschafft im Namen des Wirtschaftswachstums und der Pflegeversicherung – ich halte das für einen großen Fehler. Glückwunsch an Sachsen, dass sie es gewagt haben, den Feiertag beizubehalten!

Der Buß- und Bettag hatte immer einen öffentlichen Anspruch. Die Kirche hat der Welt, die in der Gefahr ist, Gottes Gebot zu vergessen, die Botschaft auszurichten, dass das Leben von Staat und Volk in der Verantwortung vor Gott steht. Es geht um fürbittendes Eintreten der Kirche für die Schuld unseres Volkes vor Gott, um die Wahrnehmung des öffentlichen Wächteramtes der Kirche und um die Gewissensprüfung der Einzelnen vor Gott.

Wie könnte das konkret sein? Ich finde gut, dass Ihre Gemeinde hier in Leipzig heute die Initiative „anders wachsen“ aufgreift. Wachstum ist zum ideologischen Begriff geworden. Im Namen des Wirtschaftswachstums scheint alles legitimierbar. Da wird in Kauf genommen, dass unter menschenunwürdigen Bedingungen produziert wird, Umweltzerstörung wird ignoriert. Hauptsache Wachstum. Bei mir in Berlin um die Ecke hat kürzlich eine Kette ihre neue Filiale eröffnet – der Laden wurde geradezu gestürmt samt Absperrgittern und Sicherheitskräften. T-Shirts für 3 Euro, Jeans für 11Euro - wo soll so produziert werden? Was verdient eine Näherin? Wer fragt so….

Aber wachsen an sich ist noch kein Wert. Wie wollen wir wachsen? Was ist denn entscheidend im Leben. Gibt es nicht auch eine Ethik des Genug? Gut, dass das heute in Leipzig in vielen Veranstaltungen diskutiert wird.

Und dann die Frage: Können wir überhaupt etwas tun? Ja, wir können. Auf der Homepage von anders wachsen sind viele Beispiele von der Abschaffung des Autos über Einkaufsverhalten bis hin zu Geldanlagen. Es ist schon klar, manche werden das jetzt wieder abqualifizieren mit diesem Begriff „Weltverbesserer“. Aber offen gestanden, ich will die Welt verbessern! Wir können uns doch nicht einfach abfinden. Und noch immer gilt das afrikanische Sprichwort: „Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte gehen, können das Gesicht der Welt verändern.“

Es tut uns gut, eine „Ethik des Genug“ zu kennen. All das Rasen nach „Mehr“ macht ja nicht glücklicher. Und das Geiz „geil“ sein soll, ist ein grandioser Irrtum. Wer sagt denn: „Schatz, ich liebe dich, weil du so wunderbar geizig bist?“ Martin Luther hat ja einmal gesagt, woran wir unser Herz hängen, das sei unser Gott. Heute hängt das Herz der meisten Menschen anscheinend am Geld, am Haben. Konsum wird da zur großen Religion: Ich konsumiere, also bin ich. Wie hohl dieser Gott allerdings ist, merke ich spätestens, wenn ich kein Geld mehr habe, um zu konsumieren.

Und woran das Herz unserer Gesellschaft hängt, begreifen wir, wenn wir uns bewusst machen, dass wir täglich, manchmal stündlich informiert werden über die Börsenkurse. Ob es dem DAX gut geht, oder schlecht, das scheint das allein entscheidende Kriterium zu sein. Ein schönes Gegenbeispiel ist Bhutan. Der König von Bhutan wurde 1979 von einem indischen Journalisten nach dem Bruttoinlandsprodukt seines Landes gefragt. Er sagte, dass das Bruttonationalglück entscheidender sei. Er fühle sich einer Wirtschaftsentwicklung verpflichtet, die Bhutans einzigartiger Kultur und ihren Werten gerecht werde. Statt Wachstum in den Vordergrund zu stellen, soll nachhaltige Entwicklung und der Blick auf die Lebenssituation der Menschen im Vordergrund politischer Entscheidungen stehen.

Liebe Gemeinde, der Buß- und Bettag ist wichtig für unser Land. Wir müssen hinter die Fassaden gucken. Das Gute wollen wir zugestehen. Das ist keine Frage: Es gibt viel Gutes in unserem Land, aber die Probleme dürfen wir nicht ignorieren. Luther hat gesagt, dass wir unser Christsein vor Ort leben, im Alltag. Da wo wir leben und arbeiten. Bei unserer Familie, in unserem Wohnheim, in unserem Betrieb, in der Schule. Da sind wir gehalten hinter die Fassaden zu blicken, nachzufragen, uns einzumischen. Nicht Wegseher sollen wir sein, sondern Hingucker, nicht Zuschauer, sondern Einmischer. Klar in unserem Glauben an Jesus Christus, Sohn Gottes, des Auferstandenen, der uns Leben zusagt und Umkehr ermöglicht.

Eines will ich zuletzt hervorheben: der Buß- und Bettag wäre völlig falsch verstanden, wenn wir deprimiert im Büßergewand von dannen gehen. Nein, Umkehr ist ein wunderbares Angebot. Unser evangelischer Glaube sagt uns: Wir sind eingeladen. Zu allererst steht Gottes Angebot. Im Abendmahl können wir das nachher feiern als Fest des Lebens. Und das kennen Sie doch auch: Wir kommen von einer Einladung zurück, einem schönen Fest und fühlen uns ermutigt, gestärkt, da liegt ein Strahlen, ein Lachen auf dem Gesicht. Im grauen Alltag ist ein Fest gewesen, das bestärkt für farbige Zukunft. Genau das ist das Angebot des Evangeliums. Gott sieht dich. Dein Leben macht Sinn. Du hast die Kraft, kalt oder warm zu sein. Gott gibt dir den Mut Missstände anzuprangern und auch auszuhalten, wenn du selber scheiterst.

Das ganze Leben der Christen soll eine Buße sein. Sie sollen sich zu dieser Umkehr stellen in dem Wissen, dass es zuallererst Gott selbst ist, der sich uns zuwendet, unser Leben trägt. Keine zerknirschten Bußübungen, nein, dem Leben zugewandt offen legen, was faul ist in unserem Land. Oder wie der Predigttext sagt: „Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße!“ Fröhlichen Buß- und Bettag also!

Amen.