Wie viel Glaube darf's denn sein? Spirituelles Leben und religiöse Erziehung

Margot Käßmann auf dem 34. Deutschen Evangelischen Kirchentag

Wie reich wir sind! Vielfalt der Religionen: Wie ich glaube und wie ich meinen Glauben zeige
Einführung aus christlicher Sicht

Religiöse Erziehung hat für mich als Christin zwei Komponenten: die Haltung der Erziehenden und die Vermittlung der Glaubenstradition.

Als Haltung ist für mich entscheidend: Kinder zu frei denkenden Menschen zu erziehen, die Mut haben, ihr Leben in den Höhen und Tiefen zu gestalten, weil sie von Gottvertrauen geprägt sind. Aber: Kinder wurden geschlagen, gestraft, gedemütigt – alles im Namen des Herrn Jesus Christus. Heißt es nicht auch im Buch der Sprüche: „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.“ (Spr 13, 24) Aber auch im Neuen Testament wird harte Erziehung als Beispiel für die Gottesbeziehung gesehen: „Es dient zu eurer Erziehung, wenn ihr dulden müsst. Wie mit seinen Kindern geht Gott mit euch um; denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?“ (Hebräer 12,7) Und so meinten manche Eltern, Strenge, Druck, Maßregelung sei rechtes christliches Erziehen.

Was für ein Irrweg! Dass gewaltfreie Erziehung das Rückgrat stärkt, haben Studien inzwischen erwiesen. Und seit dem Jahr 2000 gibt es endlich ein Gesetz, das in Deutschland Kindern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung zugesteht.

Wie notwendig das war, welch ein langer Prozess dahinter stand, kann erahnen, wer den Film „Das weiße Band“ gesehen hat. Beklemmend, wie Kinder ihren Eltern absolut ausgeliefert sind. Bedrückend, wie auch der wohlmeinende Pfarrer und seine Frau ihre Kinder züchtigen und demütigen. Am Ende des Films heißt es, hier sei die Generation herangewachsen, die auch im Nationalsozialismus mit Gehorsam statt mit Widerstand reagiert habe. Grade klare Menschen wär´n ein schönes Ziel…

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich restriktive Erziehungsmethoden fortgesetzt. Ausgeliefert waren ihnen am schutzlosesten Kinder in Erziehungsheimen. Sie wurden aus nichtigsten Gründen dorthin verfrachtet. Demütigung, Schläge, Hunger, Gewalt bis zur Vergewaltigung mussten sie erleben. Auch in kirchlichen Heimen. Das hat mich besonders deprimiert. Wenn wir als Christen glauben, dass Gott selbst Kind war, wie kann jemand bewusst ein Kind schikanieren und erniedrigen. Ein langer bitterer Prozess der Aufarbeitung begann. Die Opfer sind bis heute verletzt. Viel zu lange durften sie ihre Geschichten nicht erzählen.

Heute wissen wir, dass Kinder, die in Freiheit aufwachsen, deren Eigenheiten respektiert werden, mutiger sind. Ich wünsche mir eine Erziehung, die Kinder als Geschöpfe Gottes sieht, die uns anvertraut sind. Das wird nicht dazu führen, dass es keine Regeln gibt, kein Ringen um Grenzen. Wie hart das ist, weiß ich als Mutter von vier Kindern sehr wohl. Aber der Respekt vor dem Kind wird es verbieten, einfach Gebote aufzustellen, ohne auch zu sagen, warum. Pünktlichkeit etwa ist ja an sich keine Tugend. Aber sie ist eine Voraussetzung für das Zusammenleben, etwa wenn Menschen miteinander essen wollen.

Erziehung zur Freiheit eines Christenmenschen – da steht für mich Luthers Satz im Hintergrund: „Der Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Eine geniale Formulierung finde ich. Kinder sollten wissen, dass sie etwas wert sind, dass sie Anspruch auf Respekt haben. Bei einem Besuch in Brasilien habe ich einmal ein christliches Kinderprojekt besucht, bei dem die Kinder uns in einer Favela ein Lied vorführten mit Bewegung: „This is my body, noone can touch it“. Drei bis Fünfjährige waren das! Mich hat das mitgenommen, weil klar wurde, in welcher Gefahr sie stehen. Aber das Selbstbewusstsein, das so mitgegeben wurde, das fand ich beeindruckend…. Eigene Würde haben, das soll vermittelt werden. Ein Wille, der nicht gebrochen wird. Und ein Ringen um Regeln, darum geht es.

Das will ich nicht weichzeichnen, es ist ein ungeheurer Kraftakt. Kinder sollten nicht Tyrannen werden, wie es Michael Winterhoff in seinem Bestseller so dramatisch vor Augen führt. Kinder sind auch nicht die besten Freunde ihrer Eltern, die Rollen müssen klar sein. Aber gegenseitiger Respekt, eine Haltung der Achtung, eine Erziehung zur Freiheit, das sind für mich Grundmaxime der Erziehung. Vertrauen scheint mir dabei die entscheidende Kategorie. Ich habe als Kind und Jugendliche durchaus Konflikte mit meinen Eltern erlebt. Aber mein Vertrauen, dass ich in jeder Lebenslage bei ihnen aus Liebe eine offene Tür finden würde, war unerschütterlich. So habe ich meine vier Kinder erzogen. Und ich erlebe heute, dass meine älteste Tochter ihrer Tochter dieses Vertrauen mitgibt.

Meine Religion wollte ich natürlich auch weitergeben. Ich verstehe Eltern nicht, die sagen, ihr Kind solle die eigene Religion einmal selbst wählen. Wir geben unseren Kindern doch mit, was wir lieben, was uns prägt: Traditionen, Sprache, Verhaltensweisen, Werte. Warum nicht die Religion? Gewiss kann ein Kind eines Tages selbst entscheiden, ob es sich selbst in dieser Religion beheimatet. Aber es muss ja wissen, wofür oder wogegen es sich entscheidet!

Kinder brauchen Religion, denn sie haben tiefe und religiöse Fragen. Etwa: „Was macht Gott mit den bösen Menschen?“ Oder: „Warum macht Gott mich denn nicht gesund?“ „Weißt du denn, wo mein Opa jetzt ist, ich habe ihn so lieb gehabt!“ Ich finde, es ist ein Armutszeugnis, wenn sie abgebügelt werden mit einem lapidaren „Weiß nicht!“.

Mir ist wichtig, dass Kinder Geschichten, Gebete, Rituale und Lieder kennen, die sie in unserer Religion beheimaten, ihnen Halt geben für die Höhen und vor allem die Tiefen des Lebens. Deshalb gehört zur christlichen Erziehung, die biblischen Geschichten weiter zu erzählen. Und wie gerne hören Kinder zu. Die großen Erzählungen von Adam und Eva, von Kain und Abel, von Jakob und Esau, von Joseph und seinen Brüdern – es sind Erzählungen des Glaubens, aber doch auch Menschheitsgeschichten, Bildungsgeschichten. Wie gut, sie zu kennen, zu erfahren, welche Konflikte es geben kann und was Gottvertrauen als Stärkung bewirkt.

Kinder brauchen dafür auch Gebete. Wie wichtig ist es, in Angst und schweren Zeiten ein Gebet zu kennen. Das habe ich in der Seelsorge immer wieder erlebt. Es ist auch Armut, nicht beten zu können. In dem alten schwarz-weiß Film „Das doppelte Lottchen“ stehen die beiden Mädchen vor der verschlossenen Tür, hinter der die Eltern beraten. Die eine sagt: „Jetzt müssten wir beten“. Die andere sagt: „Komm Herr Jesus und sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast!“ Unpassend, ja. Aber immerhin, sie kannte noch ein Gebet, das ihrer Angst Worte und Form geben konnte. Ich denke, Beten lehren, eröffnet neue Horizonte.

Neben den Geschichten des Glaubens und dem Beten sind es für mich die Rituale, in die Kinder hineinwachsen sollten. Für Kinder haben Rituale eine große Bedeutung, ja sie lieben Rituale, und Rituale prägen sie und ihre Erinnerung an die Kindheit auch als Jugendliche. Das gilt auch und gerade für Abschied und Trauer. Wer Kinder davon ausschließt, lässt sie auch allein, etwa mit der Frage: Wo ist der Opa jetzt, was ist geschehen? Die Fantasien, die da entstehen, können sehr belastend sein. Ich finde es merkwürdig, dass Kindern in unserem Land zugemutet wird, vor ihrem 14. Lebensjahr durchschnittlich 18.000 (!) tote oder sterbende Menschen im Fernsehen zu sehen, aber dann heißt es, zu einer Beerdigung könnten sie nicht mitgenommen werden. Rituale helfen uns, der Trauer Formen zu geben, sie zu bewältigen.

Neben dem Beten gehört sicher das Singen zur christlichen Erziehung. Mit einem Lied jubeln und in Verzagtheit singen „Wer nur den lieben Gott lässt walten...“ oder „..dies Kind soll unverletzet sein!“ - das tut der Seele gut. Lieder können in uns klingen, wenn wir nicht mehr sprechen können.

Singen ist Teil von Bildung! Das Singen neu lernen sollte ein Anliegen sein, weil, wie der Musikwissenschaftler und Gesangspädagoge Karl Adamek das formuliert hat, „die Seelen verstummen“, wenn das Singen bedroht ist. Menschen, die singen, sind nachgewiesenermaßen psychisch und physisch gesünder. Ich kann dem Verband Evangelischer Kirchenchöre nur zustimmen, wenn er erklärt: „Eine Antwort auf Pisa: Singen“.

Bei alledem sind Eltern, Großeltern, Familie und Umgebung Vorbild. Wie praktizieren sie ihren Glauben. Und ein guter Religions- und Konfirmandenunterricht wird Impulse geben, auch zu fragen, kritisch zu hinterfragen, was als Norm gilt, den tradierten Glauben so zum eigenen werden zu lassen. Du darfst selbst denken! Das ist auch Maxime christlicher Erziehung für mich.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.