Predigt zu Jonas, Kapitel 3: „Umkehr nach vorn“ in der Friedenskirche zu Froeschwiller

Margot Käßmann

Liebe Gemeinde,

das ist eine erstaunliche Geschichte! Der Prophet Jona führt der Stadt Ninive vor Augen, wie groß das Fehlverhalten der Menschen ist. Das ist etwa 2500 Jahre her! Aber so etwas gibt es auch in unserer Zeit. Denken wir an Berichte des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums, an Prognosen zur Veränderung des Klimas oder Vorhersagen über den demografischen Wandel.

Die Überraschung der biblischen Geschichte besteht darin, dass die Menschen von Ninive zuhören. Sie begreifen, was falsch läuft, und setzen tatsächlich alles daran, ihr Leben zu verändern. Das ist unerwartet, nicht normal, erstaunlich.

Stellen wir uns das heute mal vor:

Da kommt eine Prophetin in die nächste Stadt hier in der Nähe und sagt: Ihr Bürgerinnen und Bürger von Straßburg, seht hin, wie bitter und ungerecht die Flüchtlingspolitik Europas ist! Das Mittelmeer wird zum Grab für Tausende. Und diejenigen, die überleben, müssen in unwürdigen Unterkünften hausen. Familien werden getrennt, willkommen geheißen wird niemand. Kennen wir alles. Abgestumpft sind wir. Aber da! Straßburg erschrickt, sagt: Ja, das ist wahr! Wir müssen uns ändern, dringend! Und dann erlässt das Europaparlament neue Gesetze. Menschen werden freundlich aufgenommen in Lampedusa und Paris, alle bemühen sich, sie zu integrieren. Die Zugewanderten dürfen arbeiten, sich frei bewegen, ihre Kinder zur Schule schicken. "Wir freuen uns, dass ihr gekommen seid, heißt es. Schön, dass ihr da seid, ihr seid eine Bereicherung für Europa."

Oder: Ein Prophet tritt auf in der Stadt, in der ich lebe, in Berlin. Er sagt: Ihr Bürgerinnen und Bürger Berlins, denkt daran, es ist Antikriegstag heute! Am 1. September 1939 begann mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Habt ihr denn nichts gelernt? Wisst ihr nicht mehr um all die Toten?

Die Rüstungsexporte, die in dieser Stadt genehmigt werden, sind ein Skandal in den Augen Gottes. Es werden Milliarden ausgegeben für Waffen, die auch in die Krisenregionen dieser Welt geliefert werden. Wir beklagen die Kriege dieser Welt, aber machen guten Gewinn damit für das Bruttosozialprodukt. Das geht doch nicht! Wie können wir Panzer nach Saudi-Arabien liefern, wo wir doch wissen, dass die dortige Armee die demokratische Revolution in Bahrein niedergeschlagen hat? Zudem werden Christen in diesem Land massiv verfolgt! Stellen wir uns nur einmal vor, die Menschen in Berlin würden erschrecken und sagen: Oh, das ist wahr. Das müssen wir dringend ändern. Und die deutsche Regierung würde durch Wahlen gezwungen, keine Waffen mehr zu exportieren…

Alles Utopie? Gibt es keine Prophetie und schon gar keine Umkehr mehr heute? Ja, viele meinen, das sei naiv. So etwas gebe es nicht. Die Welt reagiere nun mal allein auf Machtinteressen. Und: Money makes the world go round. Lasst uns Realisten sein.

Liebe Gemeinde, deutsche Predigerinnen und Prediger lieben drei Punkte, ich auch. Also möchte ich Ninives Geschichte gerne aus drei Blickwinkeln betrachten:

1. Jona

Gott sagt zu Jona, er solle Ninive Strafe ankündigen für das unwürdige Verhalten der Menschen. Mit Skepsis, wie wir sie heute erleben, hat auch Jona reagiert: Ja, was soll ich denn sagen? Das ist doch unangenehm, peinlich. Jona hat versucht, mit einem Schiff zu fliehen. Er wollte kein Prophet sein - und das ist gut so. Denn selbst ernannte Propheten sind ein Problem für sich.

Gott aber will Jona zum Propheten machen. Und so gibt er ihm eine zweite Chance, nachdem er vom Schiff geworfen wurde, der Wal ihn verschluckt und später wieder ausgespuckt hatte. Denn danach wirft Jona dann doch sein ganzes Vertrauen auf Gott. Und der befiehlt ihm nochmals, nach Ninive zu gehen - Gott scheint da schon ziemlich geduldig zu sein, finde ich. Du hast Mist gebaut, aber okay, wir gehen zurück auf "Los". Zweite Chance also. Und Jona geht nun.

Keine schöne Aufgabe - in der Tat. Wer will schon gern Prophet sein, es sei denn, ein selbst ernannter, der sich daran aufbaut, vermeintlich alles besser zu wissen. Anderen in tiefstem Ernst unangenehme Wahrheiten sagen zu müssen, das ist nicht gerade eine ersprießliche Aufgabe. Aber Davonlaufen nützt manchmal nichts, das zeigt Jonas Geschichte.

Also geht Jona in diese riesengroße Stadt Ninive und ruft zur Umkehr. Was wird er wohl gedacht haben? Die nehmen mich sowieso nicht ernst? Hallooo, hört mich überhaupt jemand? Das ist ja wie Speakers Corner in London: Du kannst viel und laut reden, aber kaum jemand hört zu…

Doch es geschieht etwas, das Jona überhaupt nicht erwartet hat: Die Leute von Ninive nehmen seine Mahnung ernst! Das gibt es doch gar nicht! Sie erschrecken! Sie wollen Buße tun! Ja, selbst die Mächtigen sind bereit, ihren Lebenswandel zu verändern. Unfassbar…

Diese Geschichte ist für den hebräischen Teil der Bibel aus zwei Gründen von besonderer Bedeutung. Zum einen: Der "Tun-Ergehen-Zusammenhang" wird durchbrochen. Er bedeutet: Menschen handeln auf bestimmte Weise und in der Konsequenz folgen Lohn oder Strafe Gottes. Hier aber wird Umkehr möglich. Menschen, die sich von Gott abgewandt haben, wird ein Neuanfang zugetraut! Das ist wichtig, weil oft behauptet wird, das sei nur im griechischen Teil der Bibel, den wir Neues Testament nennen, der Fall. Nein, Menschen haben in ihrer Beziehung zu Gott immer schon die Freiheit, etwas zu verändern. Du kannst neu anfangen. Das ist die Botschaft, die Jesus den Menschen neu zusagen wird: Du wirst nicht festgelegt auf die Vergangenheit. Umkehr ist möglich! Gehe hin und sündige nicht mehr.

Zum anderen zeigt die Geschichte: Gott ist nicht statisch. Gott kann das eigene Wollen verändern. Gott wollte in der Geschichte Ninive strafen. Aber als Gott sieht, wie die Menschen um Veränderung ringen, reagiert er mit Veränderung der eigenen Absichten. Das ist kein starres Gottesbild, sondern Gott, der in Beziehung mit den Menschen lebt, die Ewige, die sich wandelt, der Geist, der immer neu wehen und Gnade vor Recht ergehen lassen kann.

Was interessant ist: Der Prophet selbst fühlt sich geradezu blamiert. Er hat Zerstörung vorausgesagt - sie wird aber nicht eintreffen. Jona ist später fast enttäuscht, es scheint ja, als hätte er Falsches prophezeit. Denn die Umkehr der Menschen verhindert den Untergang, weil Gott sich von dieser Umkehr beeindrucken lässt.

2. Die Reformatoren

Dass der Mensch sündig ist vor Gott und niemals ein vor Gott zu rechtfertigendes Leben zustande bringt, war eine Erkenntnis, die Martin Luther umtrieb. Er versuchte alles, um Gottes Gebote zu halten. Er hat mit seinem vielen Beichten seinen Beichtvater auf gut deutsch genervt. Und je mehr er versuchte, ein perfektes Leben zu führen, desto klarer wurde ihm, dass er daran scheitern musste. Er hatte Angst, wie so viele Menschen seiner Zeit, im Höllenfeuer zu landen, aufgrund dieses Versagens.

Der reformatorische Durchbruch kam, als Luther begriff: Nichts, was ich tue, wird mein Leben jemals rechtfertigen. Es ist allein Gottes Lebenszusage, die das möglich macht. Erst, wenn ich das begriffen habe und nicht mehr von der Angst vor Gottes Zorn oder Strafe bestimmt bin, dann finde ich die Freiheit, mein Leben zu ändern und so gut ich es vermag nach Gottes Geboten zu leben.

Wenn wir uns Ninive anschauen, ist es ja auch nicht nur die Angst vor Gottes Strafe, sondern auch die Einsicht in die eigenen Irrwege, die zur Umkehr ruft. Allein Gottes Gnade gibt unserem Leben Sinn. Uff, werden jetzt einige von Ihnen sagen, was kann das denn heute bedeuten? Welcher Mensch fragt in unserer Zeit in Westeuropa schon nach dem gnädigen Gott? Was kann Rechtfertigung allein aus Glauben für uns heute bedeuten, sind wir doch kaum von Ängsten vor der Hölle geplagt - es sei denn, es wäre die Hölle auf Erden durch Armut, Krankheit, Hunger und Krieg? Vielleicht können wir uns der Antwort mit zwei in unserer Zeit gebräuchlichen Begriffen annähern:

Ein erster Begriff ist Liebe. Viele Menschen dürfen erleben, was es bedeutet, geliebt zu werden. Eine wunderbare Erfahrung. Jemand liebt dich, trotz deiner Schwächen, obwohl du Fehler machst. Eine junge Frau sagte kürzlich strahlend: "Dass er mich überhaupt ansieht, hätte ich niemals erwartet." Dieses Strahlen des Geliebtseins, scheinbar grundlos, aber doch zuverlässig, vertrauensvoll, bringt jedem, der es sieht, ein Lächeln ins Gesicht. So ist Liebe! Wir verstehen es nicht, aber sie trägt uns, macht uns glücklich.

Ganz ähnlich erfährt das ja auch ein Kind. Der Schriftsteller Martin Brussig sagte, überwältigt von der Erfahrung der Gefühle für seinen kleinen Sohn, er liebe ihn so sehr, dass er ihn auch lieben müsste, wenn er ein Schwerverbrecher werden würde. In genau diesem Sinne bezeichnen sich Christinnen und Christen oft als "Kinder Gottes". Wie die Liebe der Mutter oder des Vaters auch Tiefpunkte der Beziehung oder des Fehlverhaltens überdauert, so bleibt Gottes Liebe zu uns bestehen.

Wenn wir uns vorstellen, dass Gott uns so liebt, dass Gott uns überhaupt ansieht, obwohl wir so viele Schwächen und Fehler haben, löst das mehr als ein Lächeln aus. Es führt zu Lebensfreude, Glück und einer Haltung der Dankbarkeit. Wir wollen Gott dafür ein Loblied singen, die Freude mit anderen teilen - deshalb feiern wir miteinander Gottesdienst. Eine überwältigende Erfahrung von Liebe kann Dein Leben verändern. Du siehst Dich und Dein Leben plötzlich in einem ganz neuen Licht. Das Leben macht Sinn, weil Dir diese Liebe zugesagt ist.

Ein zweiter Begriff, der Luthers Erfahrung übersetzen kann, ist Anerkennung. Gott erkennt den Menschen an, unabhängig von seiner Leistung. Wie wichtig Anerkennung im Leben ist, erfährt jeder Mensch. Von anderen respektiert werden, ist ein Bedürfnis. "Respekt" ist auch in der Jugendkultur ein gewichtiger Begriff. Anerkannt zu sein, obwohl ich für diese Anerkennung nichts getan habe, sie unverdient erhalte, ist eine zwischenmenschlich seltene Erfahrung. Wo das geschieht, entsteht eine tiefe Beziehung. Begreift ein Mensch die Anerkennung durch Gott, kann das zur überwältigenden Erkenntnis werden: Ich bin anerkannt, auch wenn ich es nicht verdient habe. Einfach so. Geschenkt. Theologisch gesprochen: aus Gnade. Weil Gott mich ansieht, bin ich eine angesehene Person. Die Antwort des Menschen darauf ist, dass er sich Gott anvertraut, glaubt, alles daran setzt, nach Gottes Geboten zu leben.

3. Unsere Kirche in unserer Zeit

Aber ist da nicht wieder dieser berühmte Widerspruch: Die Leute von Ninive kehren um, deshalb wird Gott gnädig gestimmt. Luther aber sagt: Nichts, was ich tue, hat Einfluss, sondern Gottes Gnade ist entscheidend. Ein immer wiederkehrendes Dilemma zwischen Tun und Ergehen oder Handeln und rechtem Glauben.

Kürzlich schrieb mir jemand: "Aber Frau Käßmann, wenn sie sagen, dass Gottes Lebenszusage entscheidend ist, warum sollte dann irgendjemand noch nach Gottes Geboten leben, das ist doch dann völlig egal eigentlich!" Eigentlich. Doch wer im tiefsten Inneren begreift, was es bedeutet, dass Gott seinem Leben Sinn gibt, für den wird sich etwas verändern. Er wird versuchen, so zu leben, dass es vor Gott verantwortet werden kann. Sie wird alles daran setzen, die Tage aus Gottes Hand zu nehmen. Und ein Christ, eine Christin darf glauben, dass da, wo wir an unseren eigenen Ansprüchen scheitern, Gott sich nicht abwendet.

Das ist doch so bewegend an der Ninive-Geschichte: Gott sieht, wie die Menschen ringen und es rührt Gott offenbar an. Insofern können wir sagen, dass reformatorische Erkenntnis hier angelegt ist - schon im Alten Testament. Gott straft nicht unerbittlich, weil Menschen gesündigt haben - also einen Weg eingeschlagen haben, der sie von Gott entfernt. Denn das ist ja Sünde: zu meinen, ich habe mein Leben im Griff, ich kann gut ohne Gott Leben; Sinn schaffe ich mir schon selbst, durch Leistung, Geld oder gutes Aussehen. Sünde meint doch nicht die Verfehlungen, die in jedem Menschen immer wieder auftreten. Sie ist Gottesferne.

Wenn ich aber mein Leben aus Gottes Hand empfange, dann sehe ich sehr wohl meine eigenen Mängel, mein Versagen und Scheitern. Aber ich erlebe Gott als gnädig. Es heißt, "Gnade" versteht heute kein Mensch mehr. Doch denken Sie mal an einen Gerichtsprozess: Was es bedeutet es, wenn ein Richter Gnade zeigt gegenüber den Verfehlungen eines Angeklagten und beispielsweise die Gefängnisstrafe zur Bewährung aussetzt?

Für mich gibt eine kleine Geschichte etwas von diesem Gottesbild sehr eindrücklich wieder: Ein Pfarrer hat einen wunderbaren Apfelbaum. Aber er ärgert sich, dass Kinder ständig die Äpfel klauen. So rammt er ein Schild in den Boden: "Gott sieht alles!" Das ist er, der drohende Donnergott, vor dem Ninive Angst bekommt und vor dem auch Luther Angst hatte. Die Kinder aber haben ihre reformatorische Lektion gelernt und schreiben drunter: "Aber Gott petzt nicht!" Das finde ich großartig, denn es zeigt in einem Bild unser Verständnis von Gott. Gott sieht uns, unsere Verfehlungen, wir können nichts vertuschen oder verbergen. Aber Gott petzt nicht, Gott gibt uns immer wieder eine neue Chance.

Jesus hat, wie schon die Propheten, Bilder gezeigt für dieses Gottesverständnis: Gott ist wie ein liebender Vater, der den Sohn auch nach all seinem Versagen in die Arme nimmt. Gott ist wie ein Weinbergbesitzer, der Sorge trägt dafür, dass alle Arbeiter genug zum Leben haben. Gott ist wie eine arme Witwe, die den verlorenen Groschen sucht. Dieses Gottesbild ist prägend für Christinnen und Christen. Und sie sind überzeugt: Gott selbst kennt Leid, Sterben und Tod. Gott ist in der Tat nicht weltfremd. Der sterbende Jesus am Kreuz ist das tiefste Zeichen dafür, dass wir uns Gott im Leben und im Sterben, im Glück und im Scheitern anvertrauen können. Denn Gott kennt uns. Und Gott kennt das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen.

Schließlich: Gott kennt die Menschen in Ninive und lässt sich anrühren von ihrem Willen zur Umkehr. Das ist doch eine ungeheure Ermutigung, nicht zu resignieren und abzuwinken: Was können wir schon tun? Wir brauchen Hoffnung und Visionen! Vor 50 Jahren sagte Martin Luther King: Ich habe einen Traum! Und dieser Traum hat Menschen in aller Welt bewegt, gegen Rassismus und für Gerechtigkeit einzutreten. Oh ja, wir können etwas tun, auch wenn wir manchmal scheitern. Wir können etwas verändern, auch wenn es nicht immer große Anerkennung bringt. Die Lebenszusage Gottes ist eine Ermutigung zu handeln mitten in der Welt, auch wenn es aussichtslos scheint. Wir können sehen, was geschieht in der Welt, und unseren kleinen Beitrag dazu leisten, dass diese Welt etwas ausstrahlt von der Lebenszusage Gottes. Große Propheten sind wir nicht gleich. Aber wir dürfen wissen: Veränderung, ja, Umkehr ist möglich. Yes we can! Nicht resignieren, sondern die kleinen Schritte gehen, die uns möglich sind, darum geht es. In Straßburg, in Berlin und überall, wo Christinnen und Christen als Familie der Kinder Gottes leben.

Dazu ermutigt uns die alte Geschichte des Propheten Jona in der Stadt Ninive.

Amen.