Laudatio auf Christian Führer anlässlich der Verleihung des Wilhelmine-von-Bayreuth-Preises für Toleranz und Humanität in kultureller Vielfalt

Margot Käßmann

Kann eine Pfarrerin aus dem Westen überhaupt einen Pfarrer aus dem Osten laudatieren - die Frage habe ich mir gestellt, als Oberbürgermeisterin Brigitte Merk-Erbe mich in einem Telefonat freundlich-eindringlich bat, eben dies zu tun. Da gibt es durchaus Hürden und Schwierigkeiten, auch 25 Jahre nach der friedlichen Revolution. Die Lebenswirklichkeiten in den Pfarrhäusern Ost und West waren sehr verschieden, in der DDR nahmen viele Pfarrfamilien viele Entbehrungen und Schikanen auf sich, angefangen beim geringen Gehalt bis hin zur Konsequenz, dass die eigenen Kinder nicht studieren durften. Pfarrer im Westen dagegen hatten ein Gehalt von A 13, gute Absicherung und gesellschaftliche Anerkennung.

Und als 1989 die friedliche Revolution tatsächlich die Mauer zu Fall gebracht und das SED Regime abgesetzt hatte, wollten viele Pfarrer und Engagierte im Osten eine andere DDR, bei der Vereinigung doch wenigstens eine Berücksichtigung ihrer Anfragen mit Blick auf das westdeutsche Kirchensteuersystem, den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und die Militärseelsorge. Am Ende wurden die westdeutschen Gegebenheiten auf die neu entstehende Evangelische Kirche in Deutschland insgesamt übertragen, das hat zu manchen Enttäuschungen geführt.

Es gab und gibt aber eine Verbundenheit in der Sache - vor der friedlichen Revolution und nach der friedlichen Revolution. Ich denke, sie hängt mit der Friedensdekade zusammen, die ab dem Jahr 1980 aus einem Impuls aus den Niederlanden in Gemeinden in Ost- und Westdeutschland gefeiert wurde. Zehn Tage im November, die Volkstrauertag, Buß- und Bettag sowie Toten- bzw. Ewigkeitssonntag einschließen, in denen das Friedensthema eine besondere Rolle spielte. Aus dieser Friedensdekade heraus entwickelte sich in Leipzig der Wunsch, nicht nur in diesen Tagen, sondern regelmäßig die Friedensfrage zu thematisieren. So kam es am 20. September 1982 zum ersten Friedensgebet in der Nikolaikirche, das seitdem jeden Montag stattfindet, bis heute.

Ich bin überzeugt, dass diese Dekade eine der zentralen Brücken für die evangelische Kirche zwischen Ost und West gebaut hat. Gewiss, es gab Begegnungen des Rates der EKD mit dem Bund Evangelischer Kirchen in der DDR, die beiden Kirchentagspräsidien standen in regelmäßigem Kontakt und auch Gemeindepartnerschaften wurden gepflegt. Bei der Dekade war das Besondere, dass es um ein gemeinsames Thema ging. Das Bedrohungspotential durch die Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland Ost und West wurde deutlich wahrgenommen. Und es war eine Bewegung der Basis, vor allem die Jugendpfarrämter hatten das Thema zunächst aufgegriffen. Mit der Vollversammlung in Vancouver 1983 wurde die Dekade ausgeweitet auf die Themen Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Das Zeugnis von Martin Luther King, der Anti-Apartheidskampf in Südafrika, die Umweltzerstörung im Namen des Wirtschaftswachstums - es waren gemeinsame Themen, so verschieden der Kontext auch war. Der Kirchentag 1983 hat das symbolisch deutlich gemacht. In der DDR hieß das Motto der verschiedenen Regionalkirchentage: "Vertrauen wagen!" Symbolisch wurde in Wittenberg ein Schwert umgearbeitet in einen Pflug und ein Zitat des Propheten Micha, Schwerter zu Pflugscharen wurde zur Provokation für die SED. In Westdeutschland stand der große Kirchentag in Hannover unter der Losung "Umkehr zum Leben". Er war geprägt von Tausenden von Menschen, die gegen den ausdrücklichen Willen von Kirchenleitung und Kirchentagsleitung beim Schlussgottesdienst ein lila Tuch trugen, auf dem stand: "Ein Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungsmitteln." Aus dieser Zeit stammen viele unserer Verbindungen. Wir haben uns positiv wahrgenommen gegenseitig und konnten nach der friedlichen Revolution anknüpfen an die gemeinsame Tradition im konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung.

Nun aber zu Christian Führer persönlich, der heute von mir zu laudatieren ist. Er stammt aus einer regelrechten Pfarrerdynastie: Vater, Großvater und Urgroßvater waren Pfarrer, und seine Kinder Katharina und Sebastian sind es nun auch. Die Bindung an den Leipziger Thomanerchor hat in der Familie eine lange Tradition, nur Christians Generation gehörte nicht zu den Thomanern, sehr wohl aber der Vater, zwei seiner Söhne und heute sein Enkel Ansgar als neunter aus der Familie. Und so ist es passend, dass er heute hier singt. Bei Christian Führer und seiner Familie ist damit auch die Bindung an Johann Sebastian Bach ganz besonders ausgeprägt. Was das bedeutet, ist für Außenstehende nur schwer zu begreifen, denke ich. Für viele Evangelische ist Bach in der Tat "der fünfte Evangelist", seine Kantaten klingen in unseren Ohren, wenn wir biblische Texte lesen. Kardinal Lehmann hat mich einmal gefragt, ob wir wirklich so sehr an der Lutherübersetzung hängen und ich habe deutlich gemacht, dass auch Bach dafür verantwortlich ist. Die Worte haben sich tief einprägt gerade auch durch die Musik.

So hat es mich nicht verwundert, in Christian Führers Autobiografie unter dem schönen Titel "Und wir sind dabei gewesen" zu lesen, dass seine Frau an einen möglichen Partner zwei klare Ansprüche hatte: "Wer Johann Sebastian Bach nicht kannte und nichts von Jesus hielt, der fiel sofort durchs Raster." [1] Wer einmal Monika und Christian Führer zusammen erlebt hat, konnte spüren, dass diese Grundlage von Gemeinsamkeit sie getragen hat durch all die Jahre ihrer Ehe. Sie wussten, wo sie Halt und Orientierung finden konnten in guten und in schweren Zeiten. Daher ist nachzuempfinden, wie schwer Christian der Verlust von Monika im vergangenen Jahr getroffen haben muss. Wie wunderbar, dass sie vier so großartige Kinder haben, das ist ein Segen, ein Geschenk. Schön auch, dass ihr heute hier seid und für Euren erkrankten Vater den Preis entgegennehmt. Unsere herzlichen Segenswünsche begleiten ihn!

Christian hat einmal gesagt, dass es nicht selbstverständlich ist, dass seine Kinder in diesem Glauben verwurzelt sind; Glaube lässt sich nicht einfach vererben. Manche Kinder haben ja auch gehadert mit dem Pfarrhausdasein, nicht für alle war es eine Idylle. Wie heißt es so schön: "Pfarrers Kinder, Müllers Vieh, gedeihen selten oder nie." Vor einigen Jahren aber habe ich die Fortsetzung kennen gelernt: "Wenn sie aber wohl geraten, spricht die Welt von ihren Taten!" Auf jeden Fall der Vater findet, dass Katharina, Sebastian, Martin und Georg sehr wohl geraten sind und freut sich an ihnen und den Enkeln. Das kann ich sehr gut nachempfinden. Es ist ein großes Glück, ja ein Segen, Kinder zu haben.

Nun ist eine Laudatio nicht der Ort, das Leben eines Menschen nachzuerzählen, sonst hätte jemand heute schlicht aus seiner Autobiografie vorlesen können. Zudem hat er sich selbst bei seinem letzten Gottesdienst vorgenommen, sich nicht "in Aufzählungen über die Vergangenheit zu verlieren." [2] Drei Punkte will ich aber doch ansprechen, bevor ich auf einen grundsätzlichen Gedanken zu sprechen komme:

Zuerst: Der kleine, vierjährige Christian Führer musste am Ende des Zweiten Weltkrieges erleben, wie erst amerikanische, dann sowjetische Panzer durch sein Dorf rollten. Dort, so schreibt er, habe sich wohl "eine frühkindliche Abneigung gegen das Militär" begründet. Die schwere Zeit der Mutter allein im Pfarrhaus ohne Einkommen mit drei Kindern, Heimkehr des Vaters aus der Gefangenschaft, das war prägend - wir wissen heute aus der Elementarpädagogik, wie sehr die ersten sechs Lebensjahre für das ganze Leben Weichen stellen. Sodann: In seiner Autobiografie schildert Christian Führer eindrücklich den Alltag eines Pfarrers in der DDR, zunächst zwölf Jahre auf dem Dorf in Lastau und Colditz, ab 1980 dann an der Nikolaikirche in Leipzig. Im Grunde sieht er mit der Sprengung der Universitätskirche in Leipzig 1968 und den anhaltenden Protesten eine Linie bis hin zur gewaltfreien Revolution des Jahres 1989. Viele kleine und größere Linien werden aufgezeigt, die Diskussion über den Wehrdienst in der Jungen Gemeinde etwa oder 1972 auch über das neue Abtreibungsrecht etwa in der Dorfgemeinde von Lastau und Colditz, bei der sich die Kirche bereits als Ort erwies, an dem kontrovers über strittige Fragen debattiert werden konnte. Das setzte sich fort in Leipzig, wo vor allem die Junge Gemeinde sich mit ihrem Pfarrer an kontroverse Fragen wagte, etwa die Diskriminierung Homosexueller. Und schließlich: In Erich Loests Roman "Nikolaikirche" ist Christian Führer als "der Pfarrer mit der Jeansweste" bekannt geworden. Viele von uns haben sicher Bilder im Kopf mit Ulrich Mühe in der Rolle des Pfarrers Ohlbaum Führer und Otto Sander als Superintendent. Die beiden leider inzwischen verstorbenen Schauspieler haben der Geschichte ein würdiges Denkmal gesetzt. Die Sache mit der Jeans aber geht zurück auf 1958 habe ich aus seinem Buch gelernt, als seine Schwester ihm eine solche Hose vom Frankfurter Kirchentag mitbrachte. Er schreibt: "Seitdem trage ich Jeans." [3] Allerdings ist Christian Führer natürlich im Gottesdienst im Talar zu sehen, beim Empfang des Bundespräsidenten etwa auch anständig im dunklen Anzug und leider - nach meinem Geschmack - auch in diesem "clerical collar", mit dem sich evangelische Pfarrer neuerdings kenntlich machen. Entschuldigung, ein kleiner Seitenhieb muss sein, ich halte das für ein sehr römisch-katholisches Gebaren, das der evangelischen Überzeugung vom Priestertum aller Getauften nicht entspricht. Da scheint mir eine Jeans in der Tat passender, an die in DDR-Zeiten allerdings nicht jeder so leicht kommen konnte.

Ach ja, mit Helden haben wir Protestanten es nicht so ganz einfach. Und deshalb muss ich neben der subjektiven Randbemerkung auch erwähnen, dass Christian Führer durchaus auch nerven konnte! Klar, so einer kann seine Vorgesetzten in Verzweiflung stürzen, die sich fragen, ob das, was sich da zusammenbraut in der Nikolaikirche, nicht Schaden bringen kann für die kleinen Freiräume, die sich der Bund Evangelischer Kirchen im SED Staat erkämpft hatte. Mancher Kollege fand auch, aller Ruhm auf Christian Führer, ist das nicht ein bisschen too much? Führer mit Roman Herzog, Führer mit Gerhard Schröder, Führer mit Salman Rushdie, Führer mit Kurt Biedenkopf - kleine neidvolle Seufzer gab es da schon (die natürlich alle sofort gebeichtet wurden, um zum geschwisterlichen Miteinander überzugehen!). Ich selbst habe das auch einmal erlebt, als ich als Generalsekretärin für den Deutschen Evangelischen Kirchentag in Leipzig 1997 zuständig war. Westkirchentage lebten davon, dass Pfadfinder einen immensen Freiwilligenbeitrag leisteten von Einlasskontrolle bis Essensausgabe. Christian Führer erklärte, im Umkreis von 100 Metern um die Nikolaikirche dürften keine Uniformierten auftreten. Ich hab gesagt, hör mal, das sind Pfadfinder, keine Bundeswehr und keine NVA Truppen. Es war nichts zu machen, andere Freiwillige mussten gefunden werden, ich hatte mir den Mund fusselig geredet, hatte aber keine Chance.

Damit würde ich gern zu einer grundsätzlichen Frage kommen. Christian Führer ist immer wieder gewürdigt worden als mutig, als Einzelkämpfer, als Widerstandsgeist. Wie aber wird ein Mensch widerständig? Letztes Jahr habe ich ein Buch mit Texten von Menschen herausgegeben, die in der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand geleistet haben. Und ich habe mich gefragt: Warum diese wenigen Einzelnen? Wo waren die anderen? Warum haben die großen Kirchen als Institutionen derart versagt?

Wir schreiben das Jahr 2014. Der Beginn des Ersten Weltkrieges liegt einhundert Jahre zurück. Damals, im Kaiserreich, waren die Protestanten geradezu in einem Taumel von Kriegsbegeisterung. Vor hundert Jahren etwa sagte am 2. August der Berliner Hof- und Domprediger Bruno Doehring in einem Gottesdienst: "Ja, wenn wir nicht das Recht und das gute Gewissen auf unserer Seite hätten, wenn wir nicht - ich möchte fast sagen handgreiflich - die Nähe Gottes empfänden, der unsere Fahnen entrollt und unserm Kaiser das Schwert zum Kreuzzug, zum heiligen Krieg in die Hand drückt, dann müssten wir zittern und zagen. Nun aber geben wir die trutzig kühne Antwort, die deutscheste von allen deutschen: ‚Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt!'" [4] Bei solcher politischen Predigt graust es mir und ich habe keine Ahnung, wie der Kollege damals diese Kriegstreiberei mit der Botschaft Jesu, mit dem Neuen Testament hat in Verbindung bringen können.

Wie kann es sein, dass viele sich derart verrannt haben, andere aber kritisch, ja widerständig waren? Ich denke an den Theologen Friedrich Siegmund-Schultze. Er schrieb schon 1910: "Jesu Stellung, ganz unabhängig von der Frage des Motivs, [ist] unverkennbar die: Wer das Schwert nimmt, soll durchs Schwert umkommen. Wenn aber dies Wort Jesu für unser Verhalten gegenüber seinen Feinden gilt, wie viel mehr muss der Krieg gegen Freunde Christ verboten sein! Wenn Christus selbst gegenüber seinen Feinden den Krieg nicht leiden mag, wieviel mehr ist es widerchristlich, gegen Mitchristen Krieg zu führen!" [5] Wie kann das sein, dass der eine Theologe zum Krieg ruft, der andere aber zum Frieden?

Gehen wir weiter zur Diktatur des Nationalsozialismus. Eine der Widerstandskämpferinnen, Elisabeth Schmitz, fragt zu Recht: "Warum tut die Kirche nichts?" 1935 (!) verfasste sie ein Memorandum, in dem sie ihre Kirche aufforderte, sich für die entrechteten Jüdinnen und Juden einzusetzen. Sie schrieb: "Vor nunmehr bald 2 1/2 Jahren ist eine schwere Verfolgung hereingebrochen über einen Teil unseres Volkes um seiner Abstammung willen, auch über einen Teil unserer Gemeindeglieder. Die unsagbare äußere und wohl noch größere innere Not, die diese Verfolgung über die Betroffenen bringt, ist weithin unbekannt und damit auch die Größe der Schuld, die das deutsche Volk auf sich lädt." [6]

Das Memorandum ist ein beeindruckendes Dokument einer Frau, die hellwach frühzeitig sieht, wie der nationalsozialistische Ungeist um sich greift. So beschreibt Elisabeth Schmitz "Die Lage der Kinder": "Aber wenigstens die Kinder haben doch i.a. im ganz elementaren Empfinden der Menschen einen Anspruch auf Schutz. Und hier? In großen Städten gehen die jüdischen Kinder vielfach jetzt in jüdische Schulen. Oder die Eltern schicken sie in katholische Schulen, in denen nach allgemeiner Ansicht sie sehr viel besser geschützt sind als in evangelischen. Und die nichtarischen evangelischen Kinder? Und die jüdischen Kinder in kleinen Städten, wo es keine jüdischen Schulen gibt, und auf dem Lande? In einer kleinen Stadt werden den jüdischen Kindern von den anderen immer wieder die Hefte zerrissen, wird ihnen das Frühstücksbrot weggenommen und in den Schmutz getreten! Es sind christliche Kinder, die das tun, und christliche Eltern, Lehrer und Pfarrer, die es geschehen lassen!" [7] Im Jahr 1935 zeigt das Memorandum einen glasklaren Blick auf die Lage der Juden, auf das Verbrechen, das an ihnen begangen wurde und auf das Versagen der evangelischen Kirche. Elisabeth Schmitz sah das Unrecht, es konnte gesehen werden, das berührt mich an ihrem Text besonders. Sie schrieb ihr Memorandum drei Jahre vor der Reichspogromnacht!

Was sind die Gründe für die ausbleibende Resonanz auf das Memorandum? Lag es daran, dass es auch der Bekennenden Kirche mehr um die Rettung der Kirche ging als um die Rettung der Juden? Oder weil vermutet wurde, eine Frau, Marga Meusel, sei die Autorin und nicht ein "richtiger ordinierter Theologe"?

Aus heutiger Sicht unfassbar, ging die Mehrheit der Protestanten im wahrsten Sinne des Wortes mit wehenden Fahnen den Weg der menschenverachtenden Nazi-Ideologie. In meiner jetzigen Heimatgemeinde in Berlin predigte Pfarrer Nobiling am 2. Juli 1933: "Christus ist und bleibt der Herr der Kirche und der Herr des Staates. Er, der zuließ, dass das deutsche Volk bald dem Antichrist zum Opfer gefallen wäre, will jetzt das deutsche Volk durch den von ihm berufenen Führer zur Erneuerung seiner Volksgemeinschaft führen. Dieses Ziel wird im Staat wie in der Kirche gelingen. Die neuen Führer der Kirche sind treu im Glauben und wollen des Volkes Bestes. Dieses Werk kann aber nur gelingen, wenn das Volk, wenn das evangelische Kirchenvolk nicht abseits steht. Jede Revolution brauchte Soldaten, jede Reformation gläubige Kämpfer." [8]

Das ist beschämend, erschütternd und lässt selbstkritisch fragen: Wie kann ich predigen, was darf politisch sein in einer Predigt! Ich bin zutiefst dankbar, dass es nach 1945 eine Lerngeschichte gegeben hat: in Deutschland Ost und West, im deutschen Protestantismus. Eine Predigt darf niemals mit Ideologie verbunden sein, Hass oder Gegnerschaft schüren.

Ich selbst habe mich manches Mal gefragt, ob ich Kriegsgegnerin gewesen wäre 1914 oder den jungen Männern auch zugejubelt hätte auf ihrem Weg an die Front. Hätte ich in der Zeit des Nationalsozialismus den Mut zum Widerstand gehabt? Hätte ich mich in der DDR-Zeit nicht doch auch angepasst, vielleicht, um meinen vier Kindern den Weg zu erleichtern? Das kann niemand im Vorhinein und niemand im Nachhinein sagen, es wäre Hochmut. Aber wir können uns Versagen und Gelingen der Vergangenheit anschauen, um für Gegenwart und Zukunft zu lernen.

Das Evangelium predigt Feindesliebe, Beten für die, die uns verfolgen, das Schwert an seinen Ort stecken. Jesus sagt im Matthäusevangelium, dass wir ihm da begegnen, wo wir Hungrige speisen, Obdachlose aufnehmen, Gefangene besuchen. Das kann und darf nicht missbraucht werden durch Hetze gegen Arme, Fremde, Verfolgte!

Diese Grundhaltung ist den Predigten Christian Führers anzumerken - sowohl vor der friedlichen Revolution als auch nach der friedlichen Revolution. Er wurde ja nach dem Oktober 1989 nicht sprachlos oder ließ sich nur noch als Held der Nikolaikirche feiern. Nein, er blieb unbequem. In einer Zusammenstellung von Predigten, Vorträgen und Ansprachen nach 1989 [9] ist das sehr gut nachzulesen. Er stellt die Friedliche Revolution in eine Erfahrungskette von "Realerfahrungen mit der Bergpredigt" [10], die auch im Wirken Martin Luther Kings oder Nelson Mandelas zu finden seien.

Und doch kann eine Predigt auch den biblischen Text verlassen, wenn sie unpolitisch wird, ängstlich ausweicht, weil sie nicht Stellung beziehen will zum aktuellen Kontext. Die Mahnung des Propheten Jesaja etwa (Kapitel 58), dass Fasten Selbstzweck werden kann, wenn Fasten nicht den anderen sieht, die Not in den Blick nimmt, kann die reale Not anderer heute nicht ausblenden. Heute wird oft gesagt, die Kirche solle sich dem Eigentlichen zuwenden. Kritiker meinen damit, sie solle sich gefälligst um Gottesdienst und Seelsorge kümmern, aber nicht in die Angelegenheiten der Welt einmischen oder gar meinen, aus theologischer Sicht sei etwas zu sagen zu den realpolitischen Fragen der Zeit.

Wer so redet, kennt die Bibel schlecht. Wenn wir mit den Hungrigen das Brot brechen sollen, können wir den Hunger in der Welt, den nach Beteiligung wie den nach Brot, nicht ignorieren. Wenn wir unsere Feinde lieben sollen, können wir nicht kommentarlos mitansehen, wie Deutschland zum drittgrößten Waffenexporteur der Welt wird. Wenn wir die Welt als Gottes Schöpfung sehen, kann uns nicht gleichgültig sein, wie unsere Mitgeschöpfe zur billigen Ware degradiert werden. Ja, es muss politische Predigt geben. Aber sie wird sich stets der Versuchung bewusst sein müssen, dem Volk nicht aufs Maul zu schauen, wie Luther in seinem Sendbrief vom Dolmetschen sagte, sondern nach dem Munde zu reden. Allererstes Kriterium ist also der Maßstab der Bibel und das ist gute reformatorische Tradition.

Weitere Kriterien sind kritisches Urteilsvermögen und Standhaftigkeit. Der Kriminologe Christian Pfeiffer hat darüber geforscht, warum die einen widerständig sind und die anderen nicht. Sein zentrales Forschungsergebnis lässt sich verkürzt so zusammenfassen: Wo Kinder gewaltfrei und auf der Basis von Respekt erzogen werden, haben sie als Erwachsene genügend Widerstandskraft, nicht zum Mitläufer zu werden und Empathie mit anderen zu empfinden. Pfeiffer hat nachgewiesen, dass der Anteil der völlig gewaltfrei erzogenen Kinder in Deutschland von 1992 bis 2013 von 26 auf 52 Prozent erhöht wurde. Insgesamt, wenn wir junge Leute bis 20 Jahre rechnen, lässt sich sagen, dass inzwischen fast zwei Drittel der Kinder in Deutschland ohne Schlagen durch die Eltern groß werden. In den USA dagegen besteht das Züchtigungsrecht der Eltern landesweit fort. 2010 erklärten nur 15 Prozent der Amerikaner als Kinder eine gewaltfreie Erziehung erlebt zu haben. Pfeiffer sagt klipp und klar: "Gewalt erzeugt Gewalt" [11] und weiter: "Massiv geschlagene Kinder demonstrieren, später als Jugendliche, drei Mal häufiger rechtsextreme Überzeugungen und Verhaltensweisen als gewaltfrei erzogene Kinder." [12] Er leitet hieraus die extrem hohe Zahl von Ermordeten in den USA ab - pro 100000 Bürger das 18-fache der Mordrate in Deutschland. Noch einmal Pfeiffer: "Zudem sind geprügelte Menschen eher anfällig dafür, stark ausgeprägte Feindbilder zu entwickeln und aggressiv auf all das zu reagieren, was ihnen fremd gegenübertritt. Wer ein Volk von Kriegern braucht, der muss das Schlagen von Kindern propagieren." [13]

Für mich heißt das mit Blick auf die Widerstandskraft von Menschen gegen Feindbilder, Ideologie und Diktatur: Es gibt zwei Mittel, die sie stärken können, und das sind eine gewaltfreie respektvolle Erziehung sowie ein tiefer, im Evangelium verwurzelter Glaube.

O ja, Christian Führer ist nicht zu verstehen ohne seinen Glauben. Manche haben ihn auf seine politischen Aktivitäten und Äußerungen verkürzt. Das ist ein Missverständnis. Er schreibt: "Der Glaube ist stärker als die Angst. Der Glaube nimmt die Angst. Auch der Einsatz für andere verringert die Angst. All das waren Erfahrungen, die mein (kommendes) Handeln bestimmten." [14]

Die Frage der Angst und ihrer Überwindung ist eine zutiefst reformatorische. Für Martin Luther war es nach all seiner Angst, nicht alle Sünden gebeichtet zu haben, Fegefeuer und Hölle im Nacken, der stete Versuch, Gott gerecht zu werden mit dem eigenen Leben, eine tiefe Befreiung aus dieser Angst ausziehen zu können. Nicht was du tust ist entscheidend, sondern was Gott tut. Es ist nicht der strafende Donnergott, den wir fürchten müssen, sondern der liebende Vatergott, dem wir uns anvertrauen dürfen, von dem Jesus redet.

Christian Führer hat ja durchaus Humor. Etwa wenn er erzählt, dass 1983 das "ML-Jahr" war. ML stand in der DDR für den Marxismus-Leninismus-Lehrgang, im Volksmund "Rotlichtbestrahlung" genannt. Er schreibt: "Leider entdeckten die Genossen viel zu spät, wie kontraproduktiv [diese] Fügung der Propaganda war. Wir feierten den Geburtstag Luthers, sie gedachten des Todestages von Karl Marx." [15] In diesem Sinne lassen Sie mich Luthers Erkenntnis des neuen Gottesbildes kurz fassen: Ein Pfarrer hat einen wunderbaren Apfelbaum. Die Kinder klauen ständig die schönsten Äpfel. Er rammt ein Schild in den Boden: "Gott sieht alles!" - das ist der drohende, Angst erzeugende Donnergott so mancher Kindheit. Die Kinder aber haben ihre Lektion gelernt und schreiben darunter: "Aber Gott petzt nicht!"

Widerstand geleistet zu haben in einer Diktatur, das ist auch Gnade - nicht der späten Geburt, sondern der Kraft, zu widerstehen! Grundlage hierfür war für Christian Führer wie für viele andere in anderen Diktaturen die Beziehung zu Gott wie die Beziehung zu anderen Menschen. So schreibt er in seiner Biografie über seine Empfindungen an seinem letzten offiziellen Predigtsonntag als Pfarrer der Nikolaikirche: "Auf all das blickte ich nun zurück und spürte eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass mir Gott dies geschenkt hatte." [16]

Diese Dankbarkeit strahlt Christian Führer mit einer leisen Lebensheiterkeit aus, finde ich. Und wir teilen sie, weil wir dankbar sind für sein Zeugnis in der Zeit der DDR, aber sehr wohl auch danach. Denn wir brauchen Menschen, die widerständig sind, denen die Kraft dazu vermittelt wurde in ihrer Erziehung und geschenkt im Glauben.

In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch zu diesem Preis. Wir hoffen auf viele weitere Impulse von ihm und senden Genesungswünsche nach Leipzig!


  1. Christian Führer, Und wir sind dabei gewesen (im Folgenden: Autobiografie), Berlin 2009 (3.Aufl.), S. 64.
  2. Ebd S. 13.
  3. Ebs. S. 83.
  4. Manfred Gailus, "Ein Feld weißt und reif zu einer Geistesernte liegt vor uns!". Deutsche Protestanten im Ersten Weltkrieg. In: Johannes Lepsius - eine deutsche Ausnahme, Göttingen 2013, S. 95ff.; S. 99.
  5. Friedrich Siegmund-Schultze, Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision. Texte 1910-1969, München 1990, S.179f.
  6. Zur Lage der deutschen Nichtarier, in: Manfred Gailus (Hg.), Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung,. Konturen einer vergessenen Biografie (1893.1977), Berlin 2008, S. 192ff.; S. 193.
  7. Elisabeth Schmitz, Zur Lage der deutschen Nichtarier, aaO.; S. 199f.
  8. Zitiert nach: Gailus Habil., S. 147f.
  9. Vgl. Christian Führer, frech fromm frei. Worte, die Geschichte schrieben (im Folgenden: Predigten), Leipzig 2013.
  10. Predigten, S. 82.
  11. Ebd. S. 39.
  12. Ebd.
  13. Ebd. S.41.
  14. Ebd. S. 152.
  15. Autobiografie S. 149.
  16. Ebd. S. 12.