Predigt über Lukas 4, 16-21 zum Themenjahr "Reformation und Politik" in der deutschsprachigen ev.-luth. Gemeinde Kopenhagen

Nikolaus Schneider

Liebe Gemeinde!

Himmel und Erde – Gottes ewiges Reich und unsere vergängliche Menschenwelt – wie hängen diese beiden Wirklichkeiten für uns Christenmenschen zusammen? Und zugespitzt gefragt: Soll unsere Kirche nur vom zukünftigen Gottesreich predigen  oder trägt sie auch politische Verantwortung für das gegenwärtige Leben? Diesen Fragen stellt sich in besonderer Weise das diesjährige Themenjahr der Lutherdekade „Reformation und Politik“. Im Bedenken des ersten öffentlichen Auftretens Jesu sollen die Fragen nach dem Verhältnis von Gottesreich und Menschenwelt und nach der politischen Verantwortung unserer Kirche im Fokus stehen.

So beschreibt der Evangelist Lukas den Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu: „Und er – Jesus – kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen. Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht (Jesaja 61, 1-2): ‚Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.‘ Und als er das Buch zutat, gab er’s dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“ (Lukas 4, 16-21)

Liebe Gemeinde, Jesus beginnt seine erste öffentliche Predigt mit einem Jesaja-Zitat. Er stellt sich damit in die prophetische Tradition seines Volkes. In dieser Tradition waren Frömmigkeit und Gerechtigkeit unzertrennliche Schwestern.

Für die Propheten Israels und für Jesus gilt: Gottes Liebe will Menschen dazu inspirieren, ihre Mitmenschen zu lieben. Wer sein Leben an Gottes Wort und Weisung bindet, dem können die Lebensbedingungen seiner Mitmenschen nicht gleichgültig sein. Fromme Menschen fragen und suchen nicht allein nach ihrer eigenen himmlischen Seligkeit. Sie fragen und suchen auch nach Lebensglück auf dieser Erde und nach irdischer Gerechtigkeit in ihren Lebensgemeinschaften.

Wonach haben die Menschen zu Jesu Lebzeiten gefragt und gesucht? Welche Hoffnungen hat Jesus in den Menschen geweckt, erfüllt oder enttäuscht? Arme hofften auf neue Lebenschancen. Kranke auf Heilung. Zerschlagene auf Barmherzigkeit. Besessene auf einen neuen Geist. Ausgegrenzte auf neues Ansehen und Akzeptanz in ihrer Gemeinschaft. Versklavte auf Freiheit. Trauernde ersehnten das Wunder des Weiterlebens ihrer Tochter, ihres Sohnes, ihres Bruders.

Aber es gab auch viele Menschen, die hofften auf eine Befreiung von der totalitären und entwürdigenden Fremdherrschaft durch die Römer. Sie fragten und suchten nach politischer und sozialer Gerechtigkeit. Sie wünschten, dass sich die Gegenwart und Nähe ihres Gottes in staatlicher Selbstständigkeit und in machtvoller Größe Israels erweisen.

Und Jesus? Jesus vertröstete Menschen in ihrer konkreten Not nicht mit dem jenseitigen Leben im Gottesreich. Er heilte Blinde und Aussätzige. Er suchte und pflegte Gesprächs- und Tischgemeinschaft mit Ausgegrenzten: mit Zöllnern, Huren und Andersgläubigen. Er vergab Sünden und schenkte neue Lebenschancen. Er befreite Menschen von Zwängen und trieb böse Geister aus. Er holte Menschen zurück aus dem Tod und schenkte ihnen weitere irdische Lebenszeit: der Tochter des Jairus, dem Sohn der Witwe aus Nain und Lazarus, dem Bruder Marias und Marthas, seinem Freund.

Jesus lehrte und zeigte, dass mit ihm – mit seinem Reden und Handeln – Gottes himmlisches Reich schon mitten in unserer irdischen Wirklichkeit angebrochen ist. Jesus ließ Menschen die Gnade Gottes gleichsam schmecken. Menschen hörten und sahen:   In Jesus Christus erfüllte sich das Gnadenjahr des Herrn vor ihren Ohren und Augen.

Aber: Jesus enttäuschte die an seine Person gebundenen politischen Hoffnungen auf Freiheit und neue staatliche Macht und Größe Israels. Ein politisches Programm zur Befreiung Israels und zur Vertreibung der Römer entfaltete er nicht. Den Weg der Gewalt und politischen Macht beschritt und bereitete er nicht. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt!“ (Johannes 18, 36a), erklärte Jesus am Ende seines irdischen Weges vor Pilatus. Mit diesem Satz wies Jesus nicht nur falsche Erwartungen – und auch falsche Anklagen - zurück. Er proklamierte mit diesem Satz den für seine Person unauflösbaren Zusammenhang des irdischen Lebens mit dem zukünftigen Gottesreich.   

Das, liebe Gemeinde, ist also als erstes festzuhalten: Himmel und Erde – Gottes ewiges Reich und unsere vergängliche Menschenwelt – diese beiden Wirklichkeiten hat Gott selbst in Jesus Christus verbunden. Ja, wir Christenmenschen können und müssen es noch radikaler denken und sagen: Gott hat sich selbst in Jesus Christus untrennbar mit der Erde und den Menschen verbunden!

Deshalb gilt für uns und für unsere Kirche: In der Bindung an Jesus Christus öffnet sich der Himmel schon für diese Erde. In der Bindung an Jesus Christus ist das Gottesreich auf dieser Erde schon angebrochen. Wir müssen angesichts der oft so erschreckenden und schrecklichen irdischen Wirklichkeit nicht zerbrechen, nicht gleichgültig oder zynisch werden. Wir können immer wieder neu Gottvertrauen wagen. Wir können wie die alten Propheten Israels und wie unser Herr Jesus Christus den Armen das Evangelium verkündigen,  den Blinden neue Einsicht schenken, den Gefangenen und Zerschlagenen neue Wege eröffnen und Gottes unsichtbares Reich in unserer vergänglichen Menschenwelt zeichenhaft erfahrbar werden lassen.

Und zum Zweiten: Die Bindung an das zukünftige Gottesreich ruft auch zur politischen Verantwortung für das gegenwärtige Leben!
Für die Propheten Israels und für Jesus galt und für unsere Kirche gilt: Wenn wir Gottes Liebe und Gottes Gerechtigkeit nur im Jenseits verankern, dann verfehlen wir unser Leben, dann missachten wir Gottes Willen und Weisung, dann leben wir nicht in der Nachfolge des Auferstandenen.

Für Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu und für unsere Kirche gilt deshalb: Wir fragen und suchen nicht allein nach himmlischer Seligkeit. Wir  fragen und suchen auch nach Lebensglück auf dieser Erde. Wir fragen und suchen nach Frieden und nach irdischer Gerechtigkeit in unseren Lebensgemeinschaften, in unseren Kommunen und Staaten. Die irdische Not der Obdachlosen, der Flüchtlinge, der Menschen mit Behinderungen, der Armen und an den Rand gedrängten Menschen fordert unser konkretes Handeln heraus. Und wir fragen und suchen dabei auch nach politischen Strukturen, die Frieden, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit befördern. In diesem Sinne weiß unsere Kirche sich in die politische Verantwortung für das Miteinander auf der Erde gerufen. Allerdings: ohne dass sie selbst nach politischer Macht und Größe strebt und ohne dass sie den Weg gewaltsamer politischer Umstürze beschreitet oder bereitet. 

In einer bis heute wegweisenden Klarheit hat die Barmer Theologische Erklärung im Mai 1934 den Unterschied der politischen Verantwortung von Staat und Kirche formuliert. So heißt es in der fünften These: Der Staat hat die Aufgabe, „…in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“ Die Aufgabe der Kirche gegenüber dem Staat ist es, „an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und der Regierten…“ zu erinnern.

Die politische Verantwortung der Kirche besteht also nicht darin, unmittelbare Parteipolitik zu machen und staatliche Gewalt auszuüben. Kirche nimmt ihre politische Verantwortung wahr, indem sie am öffentlichen Diskurs teilnimmt und Impulse  für menschenfreundliche und lebensdienliche Strukturen und Gesetze gibt. Sie tut dies aus der Kraft ihrer biblischen Tradition und zugleich auf der Höhe des Wissens ihrer Zeit.

In einer Predigt hat der frühere Minister- und Bundespräsident Johannes Rau diese politische Verantwortung unserer Kirche so beschrieben:
„Vertröstet euch nicht aufs Jenseits, sondern fangt damit schon an. Versucht jetzt schon das, was die Bergpredigt in ihrer Anstößigkeit uns als Messlatte für unser Leben vorlegt, ein Stück weit umzusetzen in die Wirklichkeit eures Lebens. Versucht zu übersetzen, dass Liebe herrschen soll, dass Hass nicht die Oberhand gewinnen darf, dass Gewalt nicht das Prinzip unserer Welt ist, dass nicht das Gegeneinanderleben, sondern das Miteinanderleben das Prinzip Jesu ist.“ (M. Schreiber, Wer hofft, kann handeln, Johannes Rau – Gott und die Welt ins Gespräch bringen, Predigten, Holzgerlingen 2006, S. 44f)

Die erste öffentliche Predigt Jesu ruft uns Christenmenschen und unsere Kirche auch zu politischer Verantwortung. Und die Geschichten der Evangelien vom Reden und Handeln Jesu geben uns vielfältige Hinweise darauf, wie diese politische Verantwortung für unser gesellschaftliches Leben wahrgenommen werden kann. Die Frage:  „Was würde Jesus dazu sagen?“ mag in manchen Ohren naiv klingen. Aber reflektierend und ernsthaft gestellt vermag sie uns und unserer Kirche Wegweisung zu geben für eine konkrete Umsetzung unserer politischen Verantwortung.  Nicht als „Navi“, um aktuelle ethische Entscheidungen unmittelbar in der Bibel zu finden, aber als Kompass, der die Richtung weist. Obwohl ich mir manchmal eine „himmlische Navi-Stimme“ wünsche, die sagt: „Wenn möglich, bitte umkehren“.
                                    
An Jesu Reden und Handeln lernen wir immer wieder neu den unauflöslichen Zusammenhang von Himmel und Erde, von Gottesliebe und Nächstenliebe, von persönlicher Frömmigkeit und politischer Verantwortung.

Lassen wir uns und unsere Kirchen in der Übernahme unserer politischen Verantwortung anstecken von der Inspiration der Theologin Dorothee Sölle, die uns zu einer tätigen Nachfolge Jesu aufruft: „Wir dürfen uns nicht von der Ohnmacht überwältigen lassen. ‚Da kann man nichts machen‘ ist ein gottloser Satz. So ist es eben, Hunger hat es immer gegeben, heißt sagen: Gott hat keine Hände. Zu denken, ich als einzelne kann sowieso nichts ändern, heißt, sich selber abzuschneiden von der Liebe Gottes.“ (D. Sölle, Den Rhythmus des Lebens spüren, Freiburg 2001, S.107)

Amen.