Predigt im Gottesdienst in der Marktkirche Hannover

Margot Käßmann

Liebe Gemeinde,

in der Lesung (Joh. 3,14-21) haben wir einen Ausschnitt aus einem Text gehört, der als „Nikodemusnachtgespräch“ bezeichnet wird. Nur beim Evangelisten Johannes ist es zu finden. Wenn Sie beim Hören eben gedacht haben ‚Was ist gemeint, ist mir schwer verständlich‘, kann ich Sie beruhigen: Das fand sogar der große Theologe und Johannesexperte Rudolf Bultmann. Das ganze Gespräch atmet, so Bultmann, „die Atmosphäre des Mysteriösen[1].

Schauen wir uns die Situation zunächst näher an. Ein Mann namens Nikodemus, offenbar bekannt, von Jesus sogar als „Lehrer Israels“ angesehen (3,10), kommt zu Jesus nach Anbruch der Nacht. In der Literatur und in vielen Predigten wird das als Ängstlichkeit interpretiert: Der Mann mit einer führenden Position im Hohen Rat, wagt es nicht, sich öffentlich mit Jesus zu zeigen. Aber wovor sollte er Angst haben? Um seinen Ruf? Der Evangelist Johannes selbst sieht Nikodemus wohl als opportunistisch an. Er schreibt: Doch auch von den Oberen glaubten viele an ihn; aber um der Pharisäer willen bekannten sie es nicht, um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden. Denn sie hatten lieber Ehre bei den Menschen als Ehre bei Gott. (12,42f.) Das bedeutet wohl: Da sympathisieren einige bedeutsame Leute durchaus mit Jesus und seiner Lehre, aber outen, wie wir das heute sagen, wollen sie sich nicht. Sie könnten ja ihre Anerkennung aufs Spiel setzen.

Nikodemus taucht mehrfach auf im Johannesevangelium. Er tritt für ein faires Verfahren gegen Jesus ein (7,50f.) und er ist es, der gemeinsam mit Josef von Arimatäa später für eine würdige Bestattung Sorge tragen wird (19,39ff.). Wäre es nicht auch möglich, dass Nikodemus schlicht Interesse an der Lehre Jesu hatte, nachdenklich war und offen das Gespräch suchte? Dass es abends stattfand, ist nicht außergewöhnlich, finde ich. Die Situation könnte doch schlicht sein: Zwei Männer kommen am Abend zusammen und führen ein intensives Gespräch über die Grundfragen des Lebens und des Glaubens. Das gibt es noch heute. Auch hier in Hannover, wie ich sehr wohl weiß, und sogar mit und auch unter Frauen! Abseits von aller Geschäftigkeit des Alltags gibt ein solcher Abend Raum für Dialoge, die tasten, fragen, nicht gleich alles unter Ergebnisdruck stellen. So verstehe ich dieses Gespräch: Ringen um Antworten im Glauben, die nicht leicht zu finden sind.

Und es ist gut, wenn es solche Gespräche gibt! Allzu selten stellen wir uns diesen Glaubensfragen: Glaubst du an Auferstehung? Kann ich sagen, dass Jesus Christus für mich der Weg, die Wahrheit und das Leben ist? Was heißt Gottessohnschaft? Manchmal frage ich mich, ob wir offen genug sind für Menschen wie Nikodemus, die interessiert sind, aber sich nicht gleich als Christen verstehen. Und nehmen wir selbst uns die Zeit für solche Gespräche im Alltag, der immer wieder von den großen Fragen des Lebens und des Glaubens ablenkt? Ich denke, wir brauchen mehr Nikodemusnachtgespräche in unserer Zeit!

Aber schauen wir uns den Dialogabschnitt näher an, Sie können ihn auf dem Liedblatt verfolgen.

1. Die Schlange

Da ist zunächst der Verweis auf diese merkwürdige Schlangengeschichte. Kann denn Jesus Christus mit einer Schlange verglichen werden? Die hat bei uns doch meist negative Assoziationen - der Paradiesgarten mit Adam und Eva lässt grüßen! Bei Jesus denken wir eher an das Lamm Gottes.

Nach einer Erzählung des vierten Buches Mose wurde Gott zornig über die Ungeduld und all das Murren des Volkes Israel auf seinem Weg aus der Sklaverei Ägyptens durch die Wüste in das gelobte Land. Als Strafe schickte Gott Schlangen. Im vierten Buch Mose heißt es: „Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. … Und Mose bat für das Volk. Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biß, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.“

Schwer zu verstehen! Einerseits will Gott offenbar strafen und zwar ziemlich drastisch. Andererseits aber lässt sich Gott von Mose erweichen und eröffnet einen Weg zur Rettung. Wobei wichtig ist: Nicht die Schlange rettet die Menschen, auch nicht Mose, sondern das Gottvertrauen, dass die zeigen, die auf die Schlange schauen. Und da liegt der Zusammenhang: So wie Menschen Heil erlebten, wenn sie auf die Schlange schauten, so erleben sie Heil, wenn sie ihren Blick auf Jesus, den Gekreuzigten richten. Gott lenkt den Blick von Menschen in eine andere Richtung. Weg von dem, was vermeintlich so wichtig ist, hin zu dem, was lebensrettend werden kann.

Schon hier ganz zu Beginn des Johannesevangeliums wird auf das Kreuz verwiesen. Es geht dabei nicht nur um kurzfristige Hilfe, sondern eben um den Blick weit über unsere Horizonte hinaus. Die Heilung, die Israeliten durch den Blick auf die Schlange fanden, steht bildhaft für das Heil, das Jesus durch seinen Tod am Kreuz, also ebenso „erhöht“ am Kreuz sterbend, vermittelt. So schwer es zu begreifen ist, aber wer auf den Gekreuzigten blickt wie die Israeliten auf die Schlange, kann Heil erfahren. Weil uns so deutlich wird: Mitten im Leid ist Gott ja gerade nicht fern, sondern bei uns.

In meinem Studium habe ich einst gelernt, dass eine Predigt drei Aufgaben erfüllen solle: docere-lehren, movere-bewegen und delectare-erfreuen. Gelernt haben wir also schon etwas: Kreuz und Schlange können zusammen gehören. Ab und an werden Sie beide zusammen entdecken auf Bildern in Museen oder Skulpturen in Kirchen...

Aber was bewegt an diesem Text? Es ist wohl die klare Rede vom Bösen.

2. Das Böse

Uns alle bewegt in diesen Tagen das Böse. Manchmal wird ja gelacht darüber, dass Martin Luther angeblich ein Tintenfass nach dem Teufel geworfen hat. Vielleicht haben wir manchmal gedacht, das sei überwunden, die Welt sollte im 21. Jahrhundert doch wohl auf dem Weg zum Guten sein. Vor 25 Jahren wurde die Mauer durch eine friedliche Revolution zu Fall gebracht. Da war die Hoffnung groß, dass Friedenszeiten anbrechen, die Raum geben, damit alle Menschen Lebensperspektiven haben.

Heute ist das Böse offenbar wieder allgegenwärtig und sehr dominant. Wer an die Überwindung des Bösen glaubt, gilt als naiv. Und in der Tat, allein die Bilder von so genannten „IS“-Kämpfern, die irrsinnig Menschen ermorden und Kulturdenkmäler zerstören, zeigen die Fratze des Bösen. Da hast Du das Gefühl, dem Teufel direkt ins Gesicht zu schauen und möchtest mehr als ein Tintenfass werfen.

Doch wie kommt das Böse in die Welt? Da ist Mohammed Emwazi, ein junger Mann, der in England aufwächst, in einem der besseren Viertel Londons. Inzwischen wird er Jihadi John genannt und tut sich hervor, indem er anderen jungen Männern vor laufender Kamera den Kopf im wahrsten Sinne des Wortes abschneidet. Wie kann das sein, woher kommt sein Hass? Das ist entsetzlich, brutal, kaum zu ertragen. Und ja, das ist ihr Ziel: Andere in Angst und Schrecken zu versetzen. Und da sind sie sehr erfolgreich.

Die selbst ernannten Gotteskrieger stellen die Bilder ins Internet, um zu schockieren. Sie stehen für das Böse. Angst und Schrecken verbreiten – genau das wollen sie! James Foley, der selbst Videoreporter im Krieg war, trug bei seiner Ermordung orangene Kleidung wie die Häftlinge in Guantanamo. Platziert haben die Mörder das Bild auf Youtube – der Firmensitz liegt in den USA. Mit solcher inszenierten Brutalität soll gezielt Empörung ausgelöst und gleichzeitig Macht demonstriert werden. Es gibt auch einen Krieg der Bilder. Ein Medientheoretiker sagt: „Bilder sind Munition, Kameras sind Waffen“.

Aber tun wir nicht ein bisschen allzu sehr erstaunt, wenn wir erschüttert fragen: Wie kann das nur sein? Gerade erst kam eine Studie der Bertelsmann-Stiftung heraus, die zeigt: 81 Prozent der Deutschen möchten die Geschichte der Judenverfolgung "hinter sich lassen". Wohl gemerkt nur 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Auch in Auschwitz aber war das Böse greifbar. Da wurden Menschen brutal gefoltert, vergast, sie verhungerten vor dem Angesicht von Deutschen, die sich zu den Gebildeten, zur Kulturnation von Schiller und Goethe zählten. Wir dürfen nicht vergessen, wie verführbar der Mensch zum Bösen ist. Und wie lange es dauert, daraus zu lernen und Wege zum Guten, zur Versöhnung, zum Achten des Gebotes der Nächstenliebe zu finden.

Und deshalb brauchen wir offene Gespräche: Haben wir gelernt? Sind wir frei genug, uns einzulassen auf Nikodemusnachtgespräche mit Menschen anderen Glaubens oder auch ohne Glauben um der existentiellen Fragen willen? Stehen wir auf gegen Menschenverachtung und für die Würde der Flüchtlinge? Oder halten wir es wie die Amerikaner: Am dinner table weder Politik noch Religion?

Mir gefällt das Nikodemusnachtgespräch so ausgesprochen gut, weil ich denke, dass wir um Glauben und Handeln immer neu ringen müssen. Es gibt beides eben nicht ein für alle Mal und unhinterfragbar. Den Reformatoren vor 500 Jahren lag ja gerade an gebildetem Glauben, also einem, der Fragen zulässt, sich nicht einem Dogma oder einer Autorität unterordnet, sondern selbst denkt und fragt und disputiert, ringt um den richtigen Weg und manchmal hilft, die eigene Hilflosigkeit auszuhalten.

Wie aber ist das Böse zu bekämpfen, wie treten wir an gegen Menschen, die mit derartiger Brutalität vorgehen? Da scheint doch die einzige Möglichkeit: Auge um Auge. Bomben auf die Bombenleger. Aber werden wir so wirklich Ecksteine einer neuen Friedensordnung legen? Immer wieder wird klar, dass die hearts and minds, die Herzen und Überzeugungen der Menschen berührt, ja gewonnen werden müssen, wenn sich etwas ändern soll. Wie kann das aussehen?

Wir scheinen da ziemlich hilflos zurzeit. Wenn es denn wie geschätzt mehr als 50 000 IS-Kämpfer gibt, wird Frieden auch nicht entstehen, wenn sie alle erschossen werden. Wie wird Friede – das ist die große Frage und nicht erst seit heute! Ich habe keine bessere Antwort als andere. Aber mir imponiert die biblische Wegweisung, wenn der Apostel Paulus schreibt: Überwindet das Böse durch das Gute. Wie kann das gehen? Darüber und über die Frage, wie wir mit diesem Gefühl der Ohnmacht umgehen, möchte ich gern viele Nikodemusnachtgespräche führen.

Und kann uns nun auch etwas erfreuen an dem Text? Ich denke, ja, es ist der Gedanke, dass Christus gekommen ist, zu retten, statt zu richten.

3. Retten statt Richten

Gott hat die Welt geliebt – deshalb wendet Gott sich der Welt zu in Jesus von Nazareth. Der soll nicht richten, sondern retten. Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet.

Heute ist ja aber die Rede von Sünde und Gericht wieder sehr beliebt. Als ich vor zwei Jahren gebeten war, dem SPIEGEL ein Interview zu geben, begann der Dialog wie folgt: „SPIEGEL: Die Sündhaftigkeit des Menschen ist eines der zentralen Themen der Bibel. Warum kommt das Wort Sünde in der evangelischen Predigt kaum noch vor?

Käßmann: Wäre es Ihnen so wichtig, dass Ihnen Ihre Sünden vorgehalten werden?

SPIEGEL: Gehört das nicht zu Ihren Aufgaben?

Käßmann: Na gut, wenn ich an das achte Gebot denke – „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ –, fällt mir bei Journalisten einiges ein. Wir könnten zum Beispiel darüber reden, was es für sie bedeutet, dass Luthers kleiner Katechismus dazu schreibt: Ihr sollt Euren Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.“

Sünde bedeutet für mich Gottesferne. Nicht umsonst kommt der deutsche Wortstamm von „sund“, das heißt Trennung. Es ist also Sünde, wenn ich glaube, Gott nicht länger zu brauchen, und stattdessen der Meinung bin, ich verdanke alles mir selbst – meinen Erfolg, mein Leben, alles, was ich bin.“

Was, frage ich mich, bringt zwei Journalisten dazu, sich so nach der Verkündigung von Sünde und einer Form von Gericht zu sehnen? Es war Martin Luthers befreiende Erkenntnis, dass der Mensch eben nicht in Angst vor dem Gericht Gottes leben muss. Es geht nicht darum, akribisch zu erforschen, welche Sünde du begangen hast. Und die musst du dann beichten. Und wehe, du vergisst eine. Danach musst du entweder zahlen, um nicht im Fegefeuer zu schmachten, oder all das tun, was die Kirche dir auferlegt, dann hast du eine Chance, nicht in die Hölle zu kommen. Genau das waren die Ängste des Mittelalters. Aber denken Sie selbst mal nach: Auf welche Sünde würden Sie kommen? Welches schuldhafte Verhalten oder Denken wäre da zu entdecken? Jeder und jede von uns würde etwas finden!

Jesus spricht davon, dass diejenigen, die an ihn glauben, ewiges Leben haben werden. Im Hebräischen bedeutet das so viel wie „Teilhaben an der kommenden Welt“. Rettung heißt also, dass mein Leben schon jetzt, schon vor dem Tod, Teilhabe an Gottes Welt ist, wenn ich glaube. Das Böse oder auch das verfehlte Leben richtet sich selbst. Wer aber Gott vertraut, wird nicht gerichtet, sondern ist gehalten. Gott will Heil für die ganze Welt, das zeigt sich in Jesus, weil paradoxerweise in seinem Sterben die Liebe Gottes erkennbar wird. Sie ist so groß, dass sie sogar das Leid mit uns teilt. Ich weiß, die Rede von der Liebe Gottes klingt manchmal so abgedroschen. Aber dass diese Liebe sich gegen alle Ohnmacht dem Bösen und dem Tod gegenüber als überlegen zeigt, dieses Paradox des christlichen Glaubens bleibt eine Provokation, auch und gerade heute.

Und die Mörder? Und diejenigen, die Gottes Lebenszusage ausschlagen? Ich weiß es nicht. Wir können versuchen, in dieser Welt Recht zu sprechen und die Mörder zur Rechenschaft zu ziehen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass sie im Innersten wissen, wie sehr sie ihr Leben verfehlen. Wer so gewalttätig ist gegen Menschen und Sachen, ist gewalttätig gegen sich selbst. Aber wie Gott sie richten wird, müssen wir Gott überlassen. Da ist er wieder, der deus absconditus, der verborgene Gott, von dem Luther spricht.

Zuletzt

Gott will retten, nicht richten, das ist für mich der zentrale Satz. Selbst im Zorn macht Gott den Weg frei zum Heil, wenn wir vertrauen. Wagen wir also Gottvertrauen. Treten wir an gegen das Böse – mit der Verteidigung des Guten. Und reden wir ruhig mal über den Glauben, im Nachtgespräch oder heute am Mittagstisch. Amen.

 

1. Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Göttingen 1978 (20. Aufl.), S.93.