Predigt am Sonntag Lätare in der Marktkirche Hannover (Jes 54, 7-10)

Margot Käßmann

Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Gemeinde,

„wie soll das weiter gehen?“, fragen sich viele. Die Bilder vom Grauen in Syrien, bombardierte Zivilisten, Zehntausende von Flüchtenden, Ertrinkende im Mittelmeer, große Unruhe in unserem Land angesichts der Frage, wie Menschen, die hier Zuflucht suchen, unser Land verändern werden. Aber das ist ja nur ein kleiner Ausschnitt von Leid und Elend in unserer Welt. Mordend zieht die Terrortruppe, die sich „Islamischer Staat“ nennt, durch die Lande im Mittleren Osten. Saudi-Arabien unterdrückt brutal die Menschenrechte. In Zentralafrika herrscht die Gewalt, in Äthiopien verhungern Menschen. In Mexiko morden Drogenkartelle und so weiter und so weiter....

Da fragen sich manche: Hat Gott uns verlassen? Gibt es denn keinen Weg nach vorn? Sind denn Frieden und Gerechtigkeit nur noch Illusionen von ein paar Träumenden? Die Frage ist nicht neu, liebe Gemeinde. Ich will zwei Beispiele geben, ein biblisches und ein historisches, um dann wieder auf unsere Situation zu schauen.

Der Predigttext, den wir eben gehört haben und den sie abgedruckt auf dem Liedblatt finden, steht beim Propheten Jesaja. Das Volk Israel fühlt sich von Gott verlassen. Der Krieg ist verloren, die Oberschicht ins babylonische Exil deportiert worden. Es gibt keine Aussicht auf Besserung meinen viele.

Bei Jesaja erinnert Gott sein Volk daran, dass in der biblischen Geschichte des Noah Gott doch erklärt habe, dass er nicht mehr zürnen und vernichten wolle. Im Zorn, so erzählt es die biblische Geschichte, hat Gott in den Wassern die Menschheit samt aller Kreatur ertränkt. Nur Noah und seine Familie wurden verschont. Am Ende der Erzählung schließt Gott einen Bund mit Noah und erklärt: Siehe, ich richte mit euch einen Bund auf und mit euren Nachkommen und mit allem lebendigen Getier bei euch, … dass hinfort keine Sintflut mehr kommen soll, die die Erde verderbe. (1. Mose 9, 9-11).
Daran erinnert der Prophet Jesaja das Volk Israel. Er sagt: Ihr habt nur den Eindruck, dass Gott euch nicht sieht, dass Gott verborgen ist. Aber das Leid kommt nicht von Gott, Gott will euch nicht böse mitspielen, sondern hat Gnade im Sinn für euch.

Denken wir 71 Jahre  zurück. Europa lag in Trümmern. Deutschland hatte einen entsetzlichen Vernichtungskrieg begonnen. Millionen Menschen wurden getötet, deportiert, auch Millionen Deutsche waren auf der Flucht.

Wenn ich die Bilder der Gräuel des so genannten „IS“ heute sehe, denke ich: So lange ist das gar nicht her. Entsetzliche Gräueltaten hat auch die deutsche Armee begangen auf ihrem Vormarsch durch Polen und in der Sowjetunion. Gegenüber Jüdinnen und Juden hat das deutsche Volk unvorstellbare Schuld auf sich geladen. Systematisch wurden Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens in Vernichtungslager deportiert und vergast. Und dann kam das Entsetzen zurück ins eigene Land. In den Trümmern der deutschen Städte war kaum ein Funken Hoffnung mehr. Wie sollte denn die Zukunft dieses Landes aussehen? Wie sollte Versöhnung wachsen angesichts einer so unvorstellbaren Schuld?

Und dann kam das Wunder: Deutschland wurde wieder aufgebaut. Die Teilung Deutschlands wurde überwunden. Eine Nation entstand, die neu respektiert wurde in der Staatengemeinschaft. Das wohl noch größere Wunder war, dass vor gut fünfzig Jahren Beziehungen zwischen Israel und Deutschland aufgenommen wurden und Jüdinnen und Juden sich wieder in Deutschland ansiedelten, Synagogen bauten, Teil des öffentlichen Lebens wurden. Ja, ein Wunder, dass so etwas möglich ist nach derartiger Verletzung des Vertrauens. Der Titel „Woche der Brüderlichkeit“ klingt zwar etwas antiquiert. Aber wir werden diese Neuanfänge feiern gleich im Anschluss an den Gottesdienst im Theater am Aegi mit Festrede des Bundespräsidenten und Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an den Pädagogen und Philosophen Micha Brumlik. Er ist einer der Pioniere, die jüdische Positionen im intellektuellen Diskurs Deutschlands wieder hörbar gemacht haben und auch das Gespräch zwischen Christen und Juden suchten.

Wo wir von Wunder sprechen, meinen viele Menschen ja oft ihre eigenen Leistungen: Wir haben wieder aufgebaut, wir haben wieder europäische Politik gemacht, wir haben den Dialog begonnen. Menschen des Glaubens können in solchen Wundern Gottes Wirken sehen. Da tauchen dann wie bei Jesaja Begriffe auf wie „Barmherzigkeit“ und „Gnade“. In seiner Situation will Jesaja den Menschen Hoffnung machen: Das Leben wird weiter gehen, Gott hat sich nicht abgewendet. Das galt auch für Deutschland und das Verhältnis von Christen und Juden nach der Shoah: Es gibt Neuanfänge. Ja, das ist Gnade Gottes, dass wir nicht für immer auf unsere Verfehlungen festgenagelt werden. Das gilt für einzelne und auch für Völker.
Für Martin Luther war das von zentraler Bedeutung: Gott will nicht strafen, gar töten oder vernichten, sondern „sola gratia“, allein aus Gnade rechtfertigt Gott das Leben der Menschen. Ich weiß, viele sagen, das versteht doch heute niemand mehr. Das stimmt nicht. Denken wir an eine Frau, die keinen Sinn mehr sieht im Leben, weil sie keine Kinder bekommen kann. Sie fällt geradezu in eine Depression, hat den Eindruck, nichts rechtfertigt überhaupt, dass sie lebt. Wenn sie erfahren darf, dass ihr Leben so Sinn macht, wie es ist, dann kann das zutiefst befreiend, erleichternd wirken. Oder denken wir an Volker Beck und den Skandal vom vergangenen Mittwoch. Da wird dann gleich und gern gnadenlos drauf gehauen – der Begriff Gnade ist in einer solchen Diskussion sehr aktuell.

Luther erkennt: Gott wirkt bei den Menschen durch Gnade. Das ist erstaunlich in einer Welt, die auf Leistung getrimmt ist. Die vergangenen beiden Wochen war ich in Asien unterwegs und habe für das Reformationsjubiläum geworben. Für mich war bewegend, dass gerade in den chinesisch geprägten Ländern die Rechtfertigungslehre Erstaunen hervorruft. Eine Professorin erzählte, dass sie eine Getriebene war von dem Druck, perfekt zu sein. Diese theologische Erkenntnis, dass ich auch mit Fehlern und im Scheitern noch ein Mensch mit Würde bin, weil Gott mir Würde zuspricht, war für sie eine tiefe Befreiung.

Und heute? Ich denke, wir starren in der Tat zu oft auf die Probleme und werden dann von einer Gedanken- und Handlungsstarre erfasst. Wann haben denn Politikerinnen und Politiker beispielsweise Zeit, einmal in Ruhe über langfristige Perspektiven nachzudenken und langfristige, konstruktive und haltbare Lösungen zu suchen? Aber auch die so genannten besorgten Bürgerinnen und Bürger, sie starren auf ihren Wohlstand, auf das, was sie haben. Aber sie überlegen nicht, wie sie denn leben wollen in Verantwortung in einer globalisierten Welt. Sinnbild ist für mich ein Mann, der in eine Kamera brüllt: „Die kommen doch alle daher, wo wir sonst Urlaub machen!“ Ja, würde ich ihm gern sagen, denk mal nach, ob da nicht ein Problem liegen könnte. Die Habenichtse und die Habenden unterscheiden sich nicht darin, dass die einen viel leisten und die anderen wenig, sondern dass in einer Welt des Unrechts die einen das Glück hatten, in eine Wohlstands- und Friedensgesellschaft geboren zu werden, und die anderen in eine Gesellschaft von Armut und Krieg.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Evangelische Kirche in Deutschland im Stuttgarter Schuldbekenntnis ihr Versagen benannt. Ob wir eines Tages unsere Schuld bekennen müssen angesichts von Tausenden von Kindern, Frauen und Männern, die im Mittelmeer ertrinken? Angesichts von Menschen, die zu Tausenden vor verschlossenen Grenzen stehen. Angesichts von mehr als 1000 Übergriffen auf Flüchtlingsheime im vergangenen Jahr? Wieviel Scham über Versagen und furchtbare Worte wird da mitschwingen. Nein, nicht Gott wendet sich ab, wir versagen, wenn wir uns gegenüber dem Leid anderer verschließen.

Im Nachlass meiner Mutter fand ich einen Brief, den eine Freundin an meine Großmutter am 19.10.1947 schrieb: „Fritz und Gerhart (mein Großvater) sind auf dem ganzen Transport zusammen gewesen, nur in Graudenz sind sie gleich getrennt worden. Er hat ihn dann erst wieder gesehen, als er gestorben ist am 28. April. Aber auf dem Transport ist Gerhart immer getrost und ganz vergnügt gewesen, er wollte, wenn erst wieder Zuhause, ein Buch über alles schreiben. Fritz meint, Gerhart sei an Ruhr gestorben, sie haben alle darunter gelitten. Von 8000 sind 6000 verstorben …Ach Mariechen, ob wir alle noch einmal zurück können? Wir machen das erste Heimweh erst so richtig durch. Aber einmal muss doch alles wieder einen Anfang haben. Wie wunderbar wäre es, einmal wieder in einer eigenen Küche kochen zu können...“

Mein Großvater also ist getrost geblieben und meine Großmutter sang später in der kleinen Küche, die sie endlich wieder hatte: „Du meine Seele singe!“ oder „Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Das ist mir Vorbild bis heute. Denn eine solche Grundzuversicht trägt in guten und in schweren Tagen, im Leben und im Sterben, das haben meine Großeltern vorgelebt und davon bin ich zutiefst überzeugt. Dann vertraust du darauf, dass Gott dich nur einen „kleinen Augenblick verlassen“ hat und „ein wenig verborgen“, wie Jesaja das beschreibt – das ist doch tröstlich. Die Bedrängnisse einer Zeit sind nicht auf Dauer. Sie sind auf Zeit. Aber wir sollten Haltung, ja Glaubenshaltung zeigen in solchen Zeiten.

Das ist ein großer Trost auch für viele Flüchtlinge heute. Als wir vor drei Wochen mit Frauen aus Somalia gekocht haben, sagte eine von ihnen: „So in einer eigenen Küche kochen können, das wäre schön!“ Ich habe versucht, sie mit der Geschichte meiner Großmutter zu trösten.

Es ist ja nicht einfach die Verborgenheit Gottes, die sich im Elend einer Zeit zeigt. Es ist auch die Hartherzigkeit von Menschen und ihre Unfähigkeit, Frieden zu schaffen. Sehr schön zeigt das ein Youtube-Video von Ralph Ruthe, einem Cartoon. Dort bekommt Gott Gelegenheit zur Gegendarstellung und erklärt: „Alles wird auf mich geschoben, aber ich habe damit nichts zu tun. Ich habe im letzten Jahr gar nicht auf die Erde geachtet, es gibt schließlich Zillionen anderer Planeten. Kaum schau ich mal wieder auf der Erde vorbei, heißt es, ich sei schuld an dem Leid. Nein, Leute!“

In der Noah-Geschichte, auf die Jesaja verweist, ist es Gott, der erklärt, er werde die Erde nie wieder zerstören, das ist Gottes Bund des Friedens! Ein Bund meint aber immer zwei Seiten. Auch die Menschen müssen ihren Anteil am Bund des Friedens leisten. Das war so zu Jesajas Zeiten, als die Führung Israels meinte, einen Krieg gewinnen zu können. Das war so zur Zeit der Nationalsozialisten, als sich unser Volk zu Größenwahn, Gräuel und Morden hat verführen lassen. Und das ist heute so, wenn Menschen geifern gegen Flüchtlinge, während sie die Bilder von Flucht und Krieg vom Fernsehsessel aus anschauen.

Das ist auch so, wenn der Wille zum Frieden schwach ist, der Wille zu Macht und das Verdienen an Waffenexporten aber groß. Da sind Krieg und Leid nicht Zeichen der Abwesenheit Gottes. Sondern Gott muss verzweifeln daran, dass wir unseren Anteil am Bund des Friedens nicht einhalten. Wir können das Leid unserer Tage nicht bequem auf andere abwälzen. Wir alles sind gefordert, in kleinen Schritten und in großen den Bund des Friedens aufrecht zu erhalten. Das kann bedeuten, gegen Rassisten und Hetzer die Stimme zu erheben. Oder Geflüchtete zum Essen einzuladen, ihnen zu helfen, Deutsch zu lernen, sie in der Kirchengemeinde aufzunehmen. Das kann bedeuten, über Grenzen zu gehen, um für Frieden zu sorgen.
Getrost dürfen wir dabei sein. Dann es gibt die Erfahrung, dass Böses, Krieg und Leid überwunden werden können und Barmherzigkeit, Frieden und Gnade das letzte Wort haben. Darauf dürfen wir vertrauen. Und ich freue mich, wie viele Menschen in unseren Kirchengemeinden diese Haltung der Barmherzigkeit in die Tat umsetzen. Das sind Hoffnungszeichen.

Das Festhalten an Gottvertrauen in schwerer Zeit vermittelt eindrücklich ein Lied, das der jüdische Theologe Schalom Ben-Chorin gedichtet hat. Von den Nazis bedrängt, verließ Fritz Rosenthal 1935 mit 22 Jahren Deutschland und ging nach Jerusalem. Er änderte seinen Namen in Schalom Ben-Chorin: Friede, Sohn der Freiheit. 1942, während die Shoah tobt, dichtet er:

Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht in Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?
Dass das Leben nicht verging, so viel Blut auch schreit,
achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.
Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht.
Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt,
das bleibt mir ein Fingerzeig für des Lebens Sieg.

Beim Propheten Jeremia steht der Mandelbaum als Zeichen dafür, dass Gott über seine Schöpfung wacht. Angesichts des Massenmordes an den europäischen Juden erscheint das Lied naiv, weltfremd, als ob es das Leid ignoriere. Aber das tut es eben nicht. Es zeigt die trotzige Hoffnung, dass Gott nicht abwesend ist, sein Volk nicht verlassen hat, auch wenn der Anschein so sein mag.

Liebe Gemeinde,

der Predigttext bei Jesaja ist tröstlich. Gott hat sich nicht abgewendet. Wir können uns getrost den Herausforderungen zuwenden. Und wir können zeigen, dass die Liebe bliebt auch in der trübsten Zeit, wann immer wir die abwertenden Reden über Menschen auf der Flucht zurückweisen, wann immer wir Türen öffnen für Menschen in Not, wann immer wir im Gebet an diejenigen denken, die großes Leid erdulden müssen. Gott ist da, bei den Menschen in ihrer Not, das hat uns Jesus gelehrt. Und wo wir uns ihnen zuwenden, sie aufnehmen, da nehmen wir Christus selbst auf. Da wird der Bund des Friedens erkennbar für die Menschen und erkennbar als Zeugnis für die Welt.

So wünsche ich uns Gottvertrauen, Haltung und Tatkraft wo immer wir angesichts der Herausforderung zu verzagen drohen, wo immer Menschen gnadenlos abgewertet werden, wo immer ein Eintreten für die Schwachen gefordert ist. Gott ist vielleicht nicht unmittelbar zu erkennen und zu spüren, aber hat uns doch höchstens einen kleinen Augenblick verlassen und ist allenfalls ein wenig verborgen. Barmherzigkeit und Gnade sind es, mit denen Gott uns zum Leben ermutigt. Da ist Jesaja auch heute tröstlich und aktuell. Amen.