Rede beim Festakt „500 Jahre Reformation“ in Berlin - Präsentation Sonderpostwertzeichen und Gedenkmünzen

Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber

Sehr geehrter Herr Bundesminister, lieber Herr Schäuble,
sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Monika Grütters,
meine sehr verehrten Damen und Herren.

Als Christoph Kolumbus im Jahr 1492 versuchte, Ostasien durch die Überquerung des Atlantischen Ozeans zu erreichen, stieß er in der Karibik auf einen unerwarteten Kontinent. Aber er war nicht der erste Europäer, der dort landete. Vielmehr hatten Grönländer schon ein halbes Jahrtausend vorher das amerikanische Festland zu Gesicht bekommen. Dennoch verbindet man die Entdeckung Amerikas fest mit der Reise des Kolumbus.

Als Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine Thesen zu Ablass und Buße an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg anschlug, war das eine mutige Tat. Aber Luther war nicht der erste, der die kirchlichen Zustände des späten Mittelalters kritisierte. Andere hatten schon vor ihm die Gestalt kirchlicher Herrschaft, die Ausnutzung der Angst vor den Sündenstrafen im Fegefeuer für einträgliche Ablassgeschäfte und den Gegensatz zwischen dem geistlichen und den weltlichen Ständen kritisiert. Dennoch verbindet man das reformatorische Geschehen fest mit der Person Martin Luthers und datiert dessen Anfang auf den 31. Oktober 1517 – und dies natürlich mit gutem Grund.

Dass dies der Tag war, an dem Luther seine Thesen veröffentlicht, lässt sich nicht bestreiten. Manche zweifeln daran, dass Luther selbst den Hammer schwang, um sie an der Tür der Schlosskirche von Wittenberg auszuhängen. Ich selbst vermute, dass der Wittenberger Professor sich nicht in die Aufgaben des Pedells der Universität einmischte, dem es oblag, derartige Mitteilungen an der Tür der Schlosskirche zum Aushang zu bringen, weil sie als Schwarzes Brett der Universität diente.

Aber daran, wer den Hammer schwang, hängt es nicht. Das Datum des 31. Oktober selbst ist dadurch unzweifelhaft verbürgt, dass Luther seine Thesen an diesem Tag an seinen unmittelbaren kirchlichen Vorgesetzten, den Bischof Hieronymus Schulz in Brandenburg an der Havel schickte. Da ich heute Dechant des Doms bin, an dem jener Hieronymus Schulz residierte, liegt mir dieser Brief natürlich besonders am Herzen. Wichtiger war freilich ein zweiter Brief, den Luther am selben Tag versandte, um seine Thesen an Albrecht von Brandenburg zu schicken, den Bruder des Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg. Da ihm als dem Jüngeren das brandenburgische Kurfürstenamt versperrt war, hatte er sich zum geistlichen Stand entschlossen; in kurzer Zeit hatte er eine Reihe kirchlicher Leitungsämter übernommen und war dadurch wie sein Bruder Kurfürst, aber darüber hinaus auch Erzkanzler des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation geworden. Die nach kanonischem Recht unerlaubte Häufung geistlicher Ämter musste er der Kurie bezahlen. De Verkauf von Ablassbriefen war für ihn deshalb von großer Bedeutung. Verständlicherweise ließ er Luthers Thesen unbeantwortet und leite sie wegen des Verdachts der Ketzerei unmittelbar nach Rom weiter. Damit wurden bereits die Weichen dafür gestellt, dass Luthers Anstoß nicht zur inneren Reform der einen westlichen Kirche genutzt wurde, sondern in eine Kirchenspaltung mündete – die zweite große Kirchenspaltung des europäischen Christentums nach dem Schisma zwischen Ost und West ein halbes Jahrtausend zuvor.

Freilich sollte sich erweisen, dass damit nicht nur ein Verlust an Einheit bis hin zu konfessionellen Bürgerkriegen, sondern auch ein Pluralisierungsschub verbunden war, der sich für die kulturelle, gesellschaftliche und politische Präsenz des christlichen Glaubens als förderlich erwies. Jede Beschäftigung mit den christlichen Konfessionskulturen der Neuzeit wird die gewachsene Pluralismusfähigkeit des Christentums, den Zugewinn an Freiheit und den allmählich daraus erwachsenen Sinn für die Freiheit von Glauben und Religion zu würdigen wissen. Den Verlust an Einheit als Skandal zu brandmarken, reicht nicht zu; man muss sich vielmehr darum bemühen, Einheit so zu gewinnen, dass dabei die produktive Kraft von Verschiedenheit nicht verloren geht. Auf diese Weise eignet der Reformation ein spezifisch ökumenischer Zug.

Man kann den Beginn der Reformation freilich auch anders erzählen. Für diese andere Erzählung liegt der Beginn der Reformation nicht in der Publikation der 95 Thesen, sondern in einer Entdeckung, die Martin Luther beim Studium des Römerbriefs des Apostels Paulus förmlich überfiel. Es ging um den Satz: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“. Es ging um die Gerechtigkeit vor Gott, die sich allein der Gnade Gottes verdankt. In der Konzentration auf Gottes befreiende Gnade in Christus sah Luther die Mitte des Römerbriefs und der ganzen Heiligen Schrift. Nach langem Ringen gewann er die Einsicht, dass der Mensch nicht durch seine eigenen Werke, sondern durch Gottes Gnade in Jesus Christus gerecht wird. Dass der biblische Text für jeden solche Erleuchtungen bereit hält, war Luthers Überzeugung. Deshalb lag ihm das Dolmetschen der Bibel so sehr am Herzen; beinahe 25 Jahre lang widmete er sich wieder und wieder dieser Aufgabe; zur Entwicklung der deutschen Schriftsprache, zur Neuprägung von Wörtern und Begriffen trug er damit genauso bei wie zur Zugänglichkeit der Bibel für jedermann. Deshalb ist die Lutherbibel 2017 tatsächlich ein herausragender Beitrag zum Reformationsjubiläums, ja ein wichtiges Kulturereignis.

Die beiden exemplarisch skizzierten Zugangsweisen zur Reformation zeigen, dass Martin Luther keine neue Kirche gründen wollte. Wie die anderen Reformatoren vor, mit und nach ihm wollte er die existierende Kirche zu ihren Wurzeln und zu ihrem Auftrag zurückführen, nicht eine neue Kirche ins Leben rufen. Der Gang der Ereignisse führte dazu, dass die angestrebte Kirchenreform nur in einem Teil der Kirche durchgeführt wurde – und dies nur mit Hilfe der kurz zuvor durch eine Reichsreform erstarkten Fürsten und städtischen Magistrate; so entstand das Landeskirchentum. Es hat in Deutschland vier der fünf Jahrhunderte bestimmt, die seit den Anfängen der Reformation vergangen sind.

Auch wer in dieser und anderen Hinsichten den Abstand der Reformation von unserer Gegenwart betont, sollte die Züge an ihr nicht vergessen, in denen sich Neues ankündigte: in der Verknüpfung der Gnade Gottes mit der Freiheit des Christenmenschen, in der Berufung zur christlichen Verantwortung im weltlichen Handeln, im Vorrang der Gewissensbindung vor dem Obrigkeitsgehorsam, im Beharren auf der Gleichheit aller Menschen unabhängig von Amt und Stand. Auch die reformatorische Vorstellung von der radikalen Gleichheit aller Getauften gehört in diese Reihe. Es zählt zu den Paradoxien der reformatorischen Theologie, dass sie dem Priesterstand den Abschied gab, aber zugleich alle Getauften zu Priestern erklärte. Diese Paradoxie sollte Aufmerksamkeit wecken. Jeder Getaufte ist zum Glaubenszeugnis in Wort und Tat berufen. Jede ethisch zu verantwortende weltliche Aufgabe gründet ebenso in einer „Berufung“ durch Gott wie die Ordination in ein geistliches Amt.

Keiner der Reformatoren plante mit solchen Überlegungen den Übergang zu dem, was wir heute als Demokratie bezeichnen. Doch ein Bild vom Menschen bahnte sich an, das den Übergang zu demokratischen Verfassungsformen in Kirche und Staat begünstigen konnte. Dass es dazu kam, war jedoch von vielen weiteren Bedingungen abhängig. Faktisch haben sich diese Impulse zunächst außerhalb Deutschlands und des Luthertums stärker ausgewirkt als im deutschen Luthertum. Aber auch in Deutschland verbinden sich inzwischen die Impulse der Reformation auf kräftige Weise mit der Überzeugung von der gleichen Würde jedes Menschen und dem Eintreten für die rechtsstaatliche Demokratie. Der Ansporn zu aktiver Mitverantwortung gilt zu Recht als eine der wichtigen Botschaften der Reformation für unsere Gegenwart.

Wir erleben das erste Reformationsjubiläum in der Geschichte der evangelischen Kirchen, das sich mit einem Reformationsgedenken in ökumenischer Gemeinsamkeit verbindet. Im Jahr 1999 haben sich die römisch-katholische Kirche und die lutherischen Kirchen dazu bekannt, dass die Überzeugung von der Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade die Kirchen nicht mehr voneinander trennt. Im Jahr 2007 wurde für den deutschen Bereich bekräftigt, dass die Kirchen die in ihnen stiftungsgemäß vollzogene Taufe wechselseitig anerkennen. Auch wenn im Blick auf das Sakrament des Altars ein vergleichbarer Schritt wegen gravierender Unterschiede im Amtsverständnis noch nicht vollzogen wurde, sollte man das Erreichte nicht gering schätzen. Wir haben gerade in Deutschland viel Grund dazu, die bleibenden Unterschiede als Ausdrucksformen einer tiefer liegenden Gemeinsamkeit zu betrachten und verständlich zu machen. Mit einer schon im Neuen Testament verwendeten ökumenischen Formel können die Kirchen sich gemeinsam zu dem einen Herrn, dem einen Glauben und der einen Taufe als ökumenischem Grundsakrament bekennen. Wo die Dankbarkeit dafür den ökumenischen Geist prägt, werden auch weitere Schritte möglich.                                                                          

Die Reformation hat die kulturelle Präsenz des christlichen Glaubens in unserem Land und in vielen Teilen der Welt stark beeinflusst. Die unverwechselbare Stimme dieses Teils der Christenheit wird auch in Zukunft gebraucht. Aber jede Kirche ist gut beraten, die wichtigen Merkmale ihrer jeweiligen Identität so zu verstehen und zu gestalten, dass sie das Gemeinsame stärken und fördern.

Dies ist zugleich das erste Reformationsjubiläum, das auch im evangelischen Bereich weltkirchlich geprägt ist. Nicht weil die Rede von der Globalisierung in aller Munde ist, sondern weil die Kirche Jesu Christi sich schon in den Bekenntnissen der frühen Christenheit als „katholisch“, also allumfassend versteht, kann auch ein Gedenken, das dem reformatorischen Aufbruch gilt, nicht anders als umfassend verstanden werden. Mich berührt es, mit welcher Intensität Kirchen in Lateinamerika, Afrika und Asien „Refo500“, wie es an vielen Orten heißt, aufnehmen und ökumenisch gestalten. Daran spätestens wird deutlich, dass wir über die lutherische Reformation hinaus auch die anderen Strömungen reformatorischer Kirchenbildung wahrnehmen müssen: Reformierte und Anglikaner sowieso, aber ebenso auch die täuferischen Kirchen sowie die erstaunlichen und bisweilen auch befremdlichen Entwicklungen in stark wachsenden Strömungen der Weltchristenheit wie den evangelikalen und postevangelikalen, den charismatischen und pflingstlerischen Bewegungen unserer Zeit. Nur wenn wir diese Strömungen einbeziehen, kommen wir im Blick auf die Folgen der Reformation wirklich im 21. Jahrhundert an.

Die Bundesrepublik Deutschland, die Bundesländer und eine große Zahl von Kommunen in unserem Land fördern das Reformationsjubiläum und verbinden damit die Hoffnung, dass dieses Gedenken dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft und dem Beitrag unseres Landes zum Frieden in der Welt gut tut. Auch die Kirchen nehmen an diesen Aufgaben Anteil und bringen dabei das  ihnen Eigene in die Debatte um Grundfragen des Zusammenlebens ein: das Vertrauen auf den gnädigen Gott und die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst. Dieser Beitrag der Kirchen hat hierzulande einen anerkannten öffentlichen Ort. Die Münzen und die Briefmarke, die in staatlicher Verantwortung Licht auf das Reformationsjubiläum werfen, bezeugen beides zugleich: die großartige Förderung, die das Reformationsjubiläum in diesem Jahr erfährt, und die Unterscheidung zwischen den Aufgaben von Staat und Kirche, die in unserem Land die Grundlage für eine Kooperation bilden, die hoffentlich durch das Jahr 2017 an Klarheit und Festigkeit gewinnt.