Das Vaterunser – eine Familiengeschichte

Eine Schulklasse betet das Vaterunser in vielen Sprachen und lernt Familiengeschichten kennen

Als einige Schüler einer Religionsklasse das Vaterunser für die Mitmachaktion #reformaction2017 eingesprochen haben, entdeckten sie nebenbei einen Teil ihrer eigenen Geschichte. Mechthild Vogt-Günzler ist evangelische Religionslehrerin am Gymnasium der Stadt Weingarten am Bodensee. Sie erzählt, wie es dazu kam.

Junges Mädchen betet in der Kirche
Symbolbild: Mädchen betet in einer Kirche.

Die Bergpredigt durchzunehmen, steht jedes Jahr im Lehrplan. Was war dieses Jahr anders?

Mechthild Vogt-Günzler: Dieses Jahr habe ich in der evangelischen Religionsklasse der Jahrgangsstufe zehn besonders viele Schüler mit Migrationshintergrund – neun von 16. Am Gymnasium Weingarten haben wir traditionell einen höheren Anteil, doch so viele hatte ich im evangelischen Religionsunterricht bisher noch nie. Oft ist es schwierig in die Tiefe zu gehen, wenn sich die Schüler in der deutschen Sprache nicht ganz so differenziert ausdrücken können. Aber dieses Jahr haben wir, als wir das Thema Bergpredigt schon fast abgeschlossen hatten, nochmal einen ganz besonderen Zugang gefunden.

Welcher war das?

Vogt-Günzler: Im Chrismon-Magazin habe ich den Aufruf gelesen, sich an der Mitmachaktion 500-Vaterunser zu beteiligen. Wir haben im Unterricht darüber gesprochen und die Schüler waren begeistert und sind auf die Suche nach dem Gebet in ihrer Sprache gegangen. Die Schüler haben ihre Eltern gefragt, ob sie das können. Die haben dann ihre Erfahrungen ausgepackt. Es hat sich für die Schüler eine Familienentdeckungsgeschichte entwickelt. Das fand ich das Spannende daran. Wir haben uns klargemacht, warum das Vaterunser heute auch noch wichtig ist als Verbindung zwischen den Kulturen und den Menschen. Für die Schüler war es schön zu entdecken, dass sie das Gebet nicht nur auf Deutsch, sondern auch in ihrer Zweitsprache haben. Das Vaterunser auf diese Art durchzunehmen, würdigt, dass wir eine unterschiedliche Sprache sprechen. Vom Aufwand war es zudem so, dass es innerhalb von zwei Doppelstunden machbar war. Und es hat den Schülern riesig Spaß gemacht: Sie durften kleine Audiodateien auf dem Schulgelände aufnehmen und dann haben wir ein Foto gemacht, das Foto bearbeitet und einen Text dazu geschrieben. Also diese Sache war eine gelungene Aktion und dafür will ich mich bedanken.

Erzählen Sie doch bitte die Geschichte eines Jugendlichen.

Vogt-Günzler: Der Jugendliche mit eritreischen Wurzeln spricht selbst nicht viel Tigrinya. Deswegen hat er seine Mutter befragt, die wiederum ihre Mutter gefragt hat. Und dann haben sie zu Dritt das Gebet herausgesucht. Die Mutter des Jungen hat dann zuerst das Gebet eingesprochen und das hat er in den Unterricht mitgebracht und es sich selbst angeeignet. Das fand ich eine interessante Entwicklung. Er hat also über das Vaterunser ein stückweit seine eigenen eritreischen Wurzeln gefunden.

Welche Erfahrung hat sich für die Schüler insgesamt damit verbunden?

Vogt-Günzler: Bei dieser Aktion konnten wir zeigen: Wir als Christen haben da etwas, was uns verbindet. Die Jugendlichen haben auch entdeckt, dass das Vaterunser einen eigenen, auch altertümlichen Wortlaut in der Mutter- oder Zweitsprache haben kann. Ich denke an ein Gespräch mit dem Jugendlichen mit armerikanischen Wurzeln, der sagte: 'Ach, das ist aber eigenartig, das muss ich noch korrigieren'. Weil da 'thy Kingdom come' (dein Reich komme) stand, zum Beispiel. Dann habe ich ihm gesagt, 'das brauchst du nicht zu korrigieren, das ist das alte Englisch'. Sie konnten entdecken, dass das Vaterunser sowohl aktuell ist, als auch Jahrhunderte umspannt. Und auch ihre Sprache hat eine Geschichte mit diesem Christentum. Das Vaterunser ist eingebunden in eine deutsche Tradition und auch in der jeweiligen Muttersprache gibt es Wurzeln, die lange zurückliegen. Das war sicherlich ein Punkt, der für die Schüler ein Aha-Erlebnis war. Das hat den Jugendlichen sicherlich auch Selbstvertrauen gegeben, dass ihre kulturellen Wurzeln auch in Deutschland einen Anker oder ein Gegenüber haben.

Inwiefern brauchen sie dieses Selbstbewusstsein?

Vogt-Günzler: Unser Gymnasium in Weingarten steht in Konkurrenz zu den Gymnasien Ravensburgs. Die Reichsstadt Ravensburg hat sich immer als Stadt der Bildung verstanden. Sie hatte sich einst der Reformation angeschlossen. In Weingarten konnte die Reformation jedoch nicht wurzeln. Die Stadt ist so katholisch wie kaum ein katholischer Flecken in Deutschland. Sie liegt um eine Basilika herum. Lange Zeit war es diesem kleinen Weingarten nicht möglich, ein Gymnasium einzurichten. In den 1970er Jahren hat sie dann, auch ein bisschen aus Protest gegen das übermächtige Ravensburg, ein eigenes Gymnasium gegründet. Im Vergleich zu Ravensburg haben wir einen hohen Migrationsanteil. Wir haben zwar auch einen guten Ruf und ein Sportprofil. Aber wer bildungsbürgerlich etwas auf sich hält, schickt sein Kind beispielsweise ins humanistische Spohn-Gymnasium. Das ist der soziokulturelle Hintergrund, vor dem wir hier arbeiten.

Sie arbeiten jedoch als evangelische Religionslehrerin in dieser katholischen Gegend.

Vogt-Günzler: Ja. Und am Elternabend haben mich Eltern gefragt, ob es etwas gebe, was ich mit den Kindern zum Reformationsjubiläum machen könnte. Auch vor dem Hintergrund, dass ich mit einer höheren Jahrgangsstufe zum Kirchentag 2017 fahre. Dieses kleine Projekt #reformaction2017 hat super für die zehnte Klasse gepasst. Neulich war ich auf der Jahrestagung für Religionslehrer und da habe ich gemerkt, dass das Reformationsjubiläum nicht sonderlich präsent ist im Unterricht. Deswegen fand ich die Aktion einfach schön für eine Klasse und wollte anderen Mut machen, solche kleinen Aktionen auch im Religionsunterricht zu machen, sie brauchen ja nicht viel Aufwand.

Gab es für die Jugendlichen weitere Entdeckungen?

Vogt-Günzler: Noch eine Erfahrung in diesem Zusammenhang war: Die Schüler sind mit voller Begeisterung ran und sie dachten, gerade der eritreische Jugendliche, dass er als erster dieses Vaterunser hochlädt in seinem Dialekt. Er war jedoch nicht der erste, sondern in Tigrinya war das Vaterunser schon hochgeladen. Aber es war sehr schön, dass man das hinter diesem Dialekt auch mehrfach hochladen konnte. Ich komme doch zum Zug, auch wenn es schon da ist.

Lilith Becker (evangelisch.de)