Religionsfreiheit heute - Situation und Rolle der Religion und der christlichen Kirchen in der pluralen Gesellschaft

Hermann Barth

Referat in der Veranstaltungsreihe "Dialog der Kulturen" im Bayerischen Landtag am 26. Mai 2004 in München

Der Abspann des Luther-Films, der seit dem vergangenen Herbst in den Kinos mit großem Publikumserfolg gelaufen ist, beginnt mit dem Satz: "Was in Augsburg geschah, öffnete das Tor zur Religionsfreiheit und veränderte die Welt." Das Stichwort "Augsburg" nimmt dabei konkret Bezug auf den Augsburger Reichstag von 1530, mit dem der Luther-Film schließt, und steht als Kürzel für die von Luthers Person und Werk ausgelöste reformatorische Bewegung.

Also die lutherische Reformation als Wegbereiter und Türöffner für das Menschenrecht der Religionsfreiheit? Schön wär's. Gewiß hat die Reformation die Welt, sprich: das Abendland, verändert. Sie hat, gegen ihren Willen, die innere Einheit des corpus Christianum aufgelöst und eine konfessionelle Vielfalt herbeigeführt, mit der sich konkret die Frage der Religionsfreiheit stellte. Auch hat sie, etwa durch die Berufung auf das Gewissen, gegen das "zu handeln weder sicher noch heilsam" (1) sei, Gedanken hervorgebracht, die auf die Gewährleistung von Glaubensfreiheit, Bekenntnisfreiheit und das Recht auf freie Religionsausübung, also die drei Grundelemente der Religionsfreiheit im modernen Sinne (2), drängen. Aber aktiver Wegbereiter und Türöffner für die Religionsfreiheit? Da würden sich die evangelischen Kirchen mit fremden Federn schmücken.

In einem Beitrag über das "Problem der Toleranz im 16. Jahrhundert" hat der evangelische Kirchenhistoriker Heinrich Bornkamm (3) 1961 die ernüchternde Feststellung getroffen: "Der Gedanke, daß der Glaube um seiner selbst willen dem Andersdenkenden die Freiheit für Glauben und Gottesdienst einräumen solle, war für die Zeit unvollziehbar und ist es z. T. bis heute geblieben. So war das Feld frei für die Motive einer Toleranz aus Relativismus und Skepsis ... Sie bestimmten den Weg in die Zukunft ... Freilich, die Tatsache, daß es zu einer Toleranz aus dem Zweifel kam, weil der Weg zur Toleranz aus dem Glauben nicht gefunden worden war, bedeutete nicht nur einen fürchterlichen Kurssturz für die überlieferten Glaubensformen, sondern bei vielen auch für die Religion selbst."

Was sich im 16. Jahrhundert als einer der Beweggründe für die Gewährung von Religionsfreiheit herausbildete, ist bis in die Gegenwart hinein wirksam geblieben: Relativismus, Zweifel, Indifferenz. Der religiöse Streit bleibe unentscheidbar, auf dem Feld der Religion gebe es keine Gewißheiten und Verbindlichkeiten, sie sei letztlich Privatsache, und darum könne man die, die Religion haben und zu brauchen meinen, gewähren lassen. Robert Leicht (4) hat kürzlich diese Begründung der Religionsfreiheit auf die Formel gebracht: "Laß sie doch - wenn sie wollen." Und er fährt fort: "War die Religion noch bis in die Anfänge der Bundesrepublik der kämpferischen Abwehr wert gewesen, so hätte am Ende des 20. Jahrhunderts ein Kampf gegen die Religion wie ein Kampf gegen die Flügel längst stillgelegter Windmühlen gewirkt: Mit der etablierten Religion hatte sogar der militante Atheismus an Provokanz verloren."

Aber man beachte wohl: Robert Leicht spricht über diese Situation als eine vergangene, bereits überholte. Einige "externe Schocks", wie er das in der Sprache der Ökonomie nennt, nötigen zu der Einsicht: Die Gewährung der Religionsfreiheit aus Indifferenz genügt nicht mehr, ebensowenig ein aus Indifferenz und Relativismus herauswachsender Pluralismus der Beliebigkeit.
An dieser Stelle setzen meine eigenen Überlegungen zu dem für heute abend gestellten Thema ein. Sie gliedern sich in drei Abschnitte und behandeln die Fragen,

  1. warum eine Begründung der Religionsfreiheit aus Indifferenz nicht genügt,

  2. welche Art von Pluralismus wir brauchen und wie wir mit ihm umgehen und

  3. was die evangelische Kirche und Theologie zur Begründung der Religionsfreiheit aus dem Verständnis des christlichen Glaubens selbst heraus beitragen können.

I.
Bei den diesjährigen "Essener Gesprächen zum Thema Staat und Kirche" hat sich der frühere Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof (5) dafür stark gemacht, daß der Staat des Grundgesetzes das Recht und die Pflicht habe, im Blick auf Religionsgemeinschaften und religiöse Äußerungen Unterschiede zu machen: "Gerade der Staat, der Freiheit gewährt und deswegen Unterschiede erwartet, darf sich der Bedeutung dieser Unterschiede für andere nicht verschließen ... Würde er diese Unterschiede gleich behandeln, fehlte ihm jegliche Urteilskraft ... Er würde durch Beurteilungs- und Entscheidungsschwäche seine eigene Zukunft als Verfassungsstaat gefährden."

Folgt man diesem Gedanken, so gerät man in schwierige Abwägungsprozesse zwischen der Gewährleistung des Menschenrechts der Religionsfreiheit auf der einen und der Bestimmung ihrer Grenzen auf der anderen Seite. Eine Einschränkung der Religionsfreiheit wird dabei in jedem Fall nur die ultima ratio darstellen können. Für das Grundrecht der Religionsfreiheit kennt das Grundgesetz keinen Gesetzesvorbehalt. Grenzen findet es deshalb nur dort, wo die Gewährleistung anderer Grundrechte auf dem Spiel steht. In den vergangenen Jahrzehnten fiel es der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Politik relativ leicht, sich unter Berufung auf die weltanschauliche Neutralität des Staates aus der Beurteilung religiöser Angelegenheiten herauszuhalten. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, daß in der Bundesrepublik Deutschland Religionsgemeinschaften und religiöse Äußerungen dominierten, die mit den vom Grundgesetz repräsentierten Werten weitgehend im Einklang stehen. Insofern kam man, sofern man nicht ohnehin ein positives Verhältnis zur Religion hatte, mit der bereits zitierten Formel durch: "Laß sie doch - wenn sie wollen." Mit dieser indifferenten Haltung ist es unwiderruflich vorbei. Das unkritische Sympathisieren mit der Entstehung einer multireligiösen Gesellschaft hat sich als naiv erwiesen. Die Auseinandersetzungen etwa um die sogenannte Scientology Church (6) waren wie ein erstes Wetterleuchten. Spätestens die Konfrontation mit einem fundamentalistischen Islam, der selbst Akte des Terrors religiös legitimiert, macht es unausweichlich, der Religion - und das gilt keineswegs nur für die neuen und fremden religiösen Erscheinungsformen - nicht mehr mit Indifferenz, sondern mit der Kraft zur kritischen Unterscheidung zu begegnen.

Diese Kraft zur kritischen Unterscheidung muß sich in zwei Richtungen bewähren: Staat und Gesellschaft müssen 1. wachsam sein gegenüber religiös motivierten Äußerungen, die die Grundlagen der mit dem Grundgesetz geschaffenen Ordnung ablehnen und bekämpfen. Sie haben aber zugleich 2. ein Interesse an solchen religiösen Kräften, die die Voraussetzungen schaffen und erhalten, unter denen die vom Grundgesetz intendierte Ordnung Bestand hat. Die Kraft zur kritischen Unterscheidung hat sozusagen eine negative und eine positive Stoßrichtung.

Ad 1. In seinem bereits zitierten Beitrag hat Paul Kirchhof an einer Reihe von aktuellen Beispielen anschaulich gemacht, welche kritischen Fragen der Staat des Grundgesetzes heute stellen muß: ob eine religiöse Überzeugung ihren Anhängern die Teilnahme an demokratischen Wahlen empfiehlt oder untersagt; ob eine religiöse Überzeugung jedem Menschen als Ebenbild Gottes die gleiche Würde zuspricht oder den Gegner als Schädling begreift, den es zu vernichten gilt; ob eine religiöse Überzeugung die Gleichheit von Mann und Frau fordert oder von der Frau eine lebenslange Unterordnung erwartet; ob eine religiöse Überzeugung für Religionsfreiheit oder Staatsreligion, für das umfassende Gewaltverbot im Sinne der Charta der Vereinten Nationen oder die Möglichkeit "heiliger Kriege"eintritt.

Jeder kann diese Andeutungen selbst auf bestimmte Kontroversen in der öffentlichen Debatte und auf bereits entschiedene oder noch anhängige gerichtliche Verfahren beziehen. In diesen Zusammenhang gehört nicht zuletzt der Kopftuchstreit. Auch in der evangelischen Kirche hat es dazu unterschiedliche Stimmen gegeben. Ich teile die Position derer, die das Kopftuch nicht für eine harmlose Textilie halten und darum das Tragen des Kopftuchs durch eine muslimische Lehrerin nicht schon durch die Berufung auf die positive Religionsfreiheit als legitimiert ansehen. Das Kopftuch hat vielmehr neben seiner religiösen und kulturellen Bedeutung zugleich Signalcharakter für eine Sicht des Verhältnisses von Mann und Frau, die der vom Grundgesetz garantierten Gleichstellung von Mann und Frau stracks zuwiderläuft. Dem Rang der Religionsfreiheit sowohl im Grundgesetz als auch in den Menschenrechtskonventionen wird es allerdings nicht gerecht, wenn das Tragen des Kopftuchs durch eine muslimische Lehrerin pauschal als politisches Signal interpretiert und auf Verdacht hin mit einem generellen Verbot belegt wird. Vielfach wird die Gefahr unterschätzt (7), daß mit einem solchen Vorgehen das Modell des Laizismus an Boden gewinnen und im Ergebnis eine Tendenz gefördert werden könnte, die öffentliche Schule, jedenfalls was die Ausstattung des Schulgebäudes und die Äußerungen der Lehrerinnen und Lehrer angeht, von allen religiösen Bekenntnissen zu reinigen und zu einem religiös aseptischen Raum zu machen. Ich spreche mich mit anderen Worten im Kopftuchstreit für gerichtlich überprüfbare Einzelfallentscheidungen aus.

Ad 2. Auch wenn der Staat nötigenfalls einem Verhalten entgegentreten muß, obwohl es sich auf die positive Religionsfreiheit beruft, bleibt er doch auf der anderen Seite generell darauf angewiesen, die Pflege und öffentliche Artikulation religiöser Traditionen zu ermöglichen und - unter Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes - aktiv zu fördern. Denn darauf beruhen und daraus entstehen jene "Voraussetzungen", von denen "der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt" und "die er selbst nicht garantieren kann" (8).

Dieses Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde hat für viele Jahrzehnte das politische und geistige Klima in unserem Land sowohl geprägt als auch repräsentiert. In diesem Klima war es - und zwar nicht aus Gedankenlosigkeit, sondern mit starken Gründen - eine Selbstverständlichkeit, die Partnerschaft zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften zum beiderseitigen Nutzen aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln und sich vom Modell der laizistischen Trennung zwischen Staat und Kirche bewußt abzusetzen. Selbstverständlichkeiten halten nicht ewig. Das ist normal. Aber es lohnt, sich das, was sich einmal von selbst verstand, neu anzueignen.

Eine gute Gelegenheit bietet der vor einem Monat hier in München in einer großen überregionalen Tageszeitung (9) erschienene Beitrag von Burkhard Müller. In einer Mischung von Stolz und Trotz verkündet er darin: Wir sind Heiden. "Europa hat die Nabelschnur zur Religion, die es durch die tausendjährige Schwangerschaft des Mittelalters getragen hat, endgültig durchtrennt." Was an diesem Beitrag so ärgerlich ist, ist die Leichtfertigkeit, mit der die möglichen Beiträge des Christentums zur persönlichen Lebensorientierung und zur Bildung eines gesellschaftlichen Grundkonsenses über das, was sich gehört, abserviert werden. Aus welchen Quellen speisen sich denn Bereitschaft und Fähigkeit, sich der Schwachen anzunehmen? Auf welchem Nährboden wächst eine Kultur der Barmherzigkeit? Wo lernt man es, den Blick für das fremde Leid zu bewahren? Welche Orte, welche Rituale und welche Texte sind es denn, die es Menschen nach einer Katastrophe wie dem 11. September oder dem Amoklauf in einem Erfurter Gymnasium erlauben, mit ihren Gefühlen zurechtzukommen, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden und vielleicht sogar neues Zukunftsvertrauen zu gewinnen? Ich behaupte nicht, die Orientierung an der christlichen oder der jüdisch-christlichen Tradition bringe verläßlich oder gar automatisch solche Resultate hervor. Ein Blick auf die deutsche Geschichte (10), aber auch auf das gegenwärtige politische Klima in den USA macht da sehr bescheiden. Ich sage auch nicht, für all die beschriebenen Anforderungen stehe nur die jüdisch-christliche Tradition zur Verfügung. Ein solcher Exklusivitätsanspruch ist von der historischen und der persönlichen Erfahrung nicht gedeckt. Aber so sehr viele geistige Ressourcen und kulturelle Kräfte, auf die wir in diesen Fällen rechnen dürfen, haben wir nicht. Darum ist es eine Geschmacklosigkeit, die behauptete Durchtrennung der Nabelschnur zum Christentum auch noch zu feiern. Europa - so Müller - sei auf diese Weise "zur Welt gekommen". Es kommt vielmehr darauf an, die Quellen, aus denen sich unsere persönliche Lebensorientierung und der gesellschaftliche Konsens speisen können, neu zu erschließen und sie wieder stärker zum Fließen zu bringen.

Welche Kraft die christliche Tradition heute und in der Zukunft entfalten wird, hängt in erster Linie davon ab, daß die Christen und die Kirchen überzeugend und selbstbewußt für ihre Sache einstehen. Aber sie bleiben auch darauf angewiesen, daß der Staat die von ihm übernommenen Verpflichtungen erfüllt und - aus dem Wissen heraus, was er als Staat daran hat - den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an den öffentlichen Schulen bewahrt, arbeitsfähige theologische Fakultäten an den Universitäten - als Ort, an dem die christliche Religion wissenschaftliche Selbstaufklärung betreibt und sich dem kritischen Dialog mit den Wissenschaften stellt - erhält oder - um ein letztes Beispiel zu nennen - die Sonn- und Feiertage "als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung" (GG Art. 140 i.V.m. WRV Art. 139) wirksam gesetzlich schützt.

II.
Es entspricht der kulturellen und gesellschaftlichen Situation Deutschlands, wenn ich den Blick immer wieder vorrangig auf die christlichen Kirchen richte. Sie sind unter den Religionsgemeinschaften hierzulande die mit Abstand wichtigste Größe. Aber die Verhältnisse beginnen sich zu ändern, zum einen, weil die Anhänger anderer Religionsgemeinschaften ins Land gekommen sind, zum anderen, weil die Mitgliederstärke der christlichen Kirchen bezogen auf die Gesamtbevölkerung abnimmt. Der religiöse und weltanschauliche Pluralismus hat deutlich zugenommen und wird sich weiter verstärken. Um so dringlicher ist die Frage: Welchen Pluralismus wollen wir, und wie gehen wir mit der Situation des Pluralismus um?

1. Die Entstehung des Pluralismus ist kein bloßer historischer Zufall. Die Zustimmung, die er findet, hängt vielmehr damit zusammen, daß er es erlaubt, der Einsicht gerecht zu werden: Die Wahrheit hat viele Seiten. Ich meine diesen Satz nicht in einem skeptischen oder zynischen Sinne. Mir geht es um die Einsicht, daß in dieser Welt keinem von uns die ganze Wahrheit zugänglich ist und wir darum in Selbstbegrenzung und Demut auch auf andere Seiten der Wahrheit zu sehen und zu hören haben. Keine einzelne Person, keine gesellschaftliche Gruppe, keine Weltanschauung, keine Konfession verfügt über die Wahrheit. Diese Einsicht hat, weil sie letztlich auf der Einschärfung des Unterschieds zwischen Mensch und Gott beruht, theologische Qualität. Darum steht es gerade den Kirchen gut an, der Sehnsucht nach der einfachen Wahrheit - und damit der fundamentalistischen Versuchung - zu widerstehen und den Pluralismus zu pflegen.

Das ist politisch wichtig. Denn ohne Pluralismus gibt es keine freiheitliche Demokratie. Es ist aber auch für die Kirchen wichtig. Auseinandersetzungen über das rechte Verständnis des christlichen Glaubens und die angemessene Ordnung der Kirche sind kein Betriebsunfall, kein Unglück, das besser zu vermeiden wäre, sondern Konflikte dieser Art gehören zum Weg der Kirche durch die Geschichte untrennbar hinzu.

Die Zustimmung zum Pluralismus versteht sich, weil er so anstrengend ist, nicht von selbst. Er ist ja nicht das freundliche und nette Miteinander, bei dem man auch bei unterschiedlichen Meinungen schiedlich-friedlich miteinander umgeht. Er ist der ständig in labilem Gleichgewicht gehaltene Wettstreit gegensätzlicher Kräfte. Darum ist die Versuchung groß, sich in den sicheren Hort der einfachen Wahrheit zu flüchten. Um so mehr kommt es darauf an, daß Kräfte da sind, die den Pluralismus nicht einfach hinnehmen, sondern aus Überzeugung wollen und ihn pflegen.

2. Die anstrengenden Seiten des Pluralismus auszuhalten und seine Vorzüge und Chancen zu nutzen stellt hohe Ansprüche - Ansprüche an die Ich-Stärke, an die Konfliktfähigkeit, an geistige Beweglichkeit. Die Verunsicherung, die mit dem Zerfall des Selbstverständlichen einhergeht, läßt sich nicht leicht aushalten. Außerdem laufen diese Prozesse bei verschiedenen Menschen auch verschieden ab: Was für den einen immer noch selbstverständlich ist, ist für die andere längst erledigt und abgetan. Ich plädiere dafür, auf solche Unterschiede zwischen den Menschen, vor allem auf ihre unterschiedliche Fähigkeit, die anstrengenden Seiten des Pluralismus auszuhalten, Rücksicht zu nehmen. Es gibt einen bilderstürmerischen Eifer, die Auflösung alter Selbstverständlichkeiten gar nicht abzuwarten, sondern diese mutwillig zu zerschlagen. Das ist nicht nur ein vorwitziger Vorgriff auf Entwicklungen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt noch gar nicht absehbar sind. Es zeugt häufig auch von einem unbarmherzigen intellektuellen Hochmut, der sich selbst zum Maßstab für alle anderen macht und jede Rücksicht auf den emotionalen Haushalt gerade vieler einfacher Menschen vermissen läßt.

3. Pluralismus bedeutet nicht Grenzenlosigkeit. Das ergibt sich allein schon daraus, daß der Pluralismus eine Situation, die den Streit der Überzeugungen abschaffen und zur einfachen Wahrheit zurückkehren will, nicht akzeptieren kann. Wo die Grenzen zu ziehen sind, muß für jeden Bereich einzeln entschieden werden. Das Grundgesetz und insbesondere die darin verankerten Grundrechte bilden gewissermaßen Grenzpfähle für das, was politisch und rechtlich in unserem Gemeinwesen akzeptiert werden kann. Es gibt Grundwerte, die selbst dem Wert des Pluralismus vorgeordnet sind. Freilich haben diese Grundwerte nicht automatisch Bestand. Man muß für sie werben, für sie eintreten, notfalls für sie kämpfen. Prinzipiell nicht anders verhält es sich im kirchlichen Bereich. Auch hier gibt es Eckpunkte - in der evangelischen Kirche insbesondere die Bibel und die in einer Kirche gültigen Bekenntnisse -, die auch durch eine Berufung auf den Pluralismus nicht verrückt werden können.

4. Der Pluralismus läßt sich dadurch am wirkungsvollsten pflegen, daß die Fähigkeit der Menschen gestärkt wird, abweichende Überzeugungen auszuhalten, also: Toleranz zu üben (11). Unter Toleranz verstehen manche inzwischen: alles gutheißen, jedem rechtgeben. Eine solche Haltung zu leben und Überzeugungen zu wechseln wie Modeartikel hat seinen Preis. Man wird als Chamäleon für andere undefinierbar und verleitet außerdem zur Intoleranz. Denn wo nichts ist, braucht auch nichts respektiert zu werden. Recht verstandene Toleranz ist anspruchsvoller. Sie zielt auf das Aushalten und Austragen der Differenzen. Sie erwächst aus der Demut gegenüber der Wahrheit, die kein einzelner für sich in Anspruch nehmen kann, und ist darum mit der abweichenden Überzeugung in der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit und darum auch im Streit um die Wahrheit verbunden. Vor allem aber: Toleranz kann und wird sehr wachsam und energisch sein, wenn der Toleranz und dem Pluralismus selbst der Boden unter den Füßen weggezogen zu werden droht. Pluralismus kann nichts anfangen mit einer schläfrigen, bequemen, sich gegenseitig in Ruhe lassenden Toleranz. Er braucht die wache, kämpferische Toleranz, die den Streit nicht nur möglich macht, sondern gerade austrägt.

III.
Wie aber steht es mit der Toleranz zwischen den Religionen? Wo man hinblickt: auf den Balkan, in den Nahen Osten oder nach Indien - überall scheinen sich die Konflikte aus religiösen Wurzeln zu entwickeln und zu ernähren. In dieser Situation wünschen sich die einen, Religion ganz loszuwerden - aber das ist illusionär, und die faktische Entwicklung weist gerade in die entgegengesetzte Richtung: Religion stirbt nicht ab, sondern gewinnt, mit der Ausnahme des säkularisierten Europa, neue Kraft. Andere setzen ihre Hoffnungen auf das "Projekt Weltethos" - aber damit ist das Problem nicht gelöst, wie die konkreten Religionen ihre Differenzen im Verständnis des Menschen, der Welt und Gottes so austragen können, daß der Frieden nicht gefährdet, sondern gestärkt wird. Mit der Suspendierung der Wahrheitsfrage wird dem Dialog der Kulturen und dem Dialog der Religionen letztlich nicht gedient. Es kommt vielmehr darauf an, Wege aufzuzeigen, auf denen die Religionen den Streit um die Wahrheit in gegenseitiger Achtung austragen können.

Unter dem Titel "Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen" hat die Evangelische Kirche in Deutschland im vergangenen Jahr einen von ihrer Kammer für Theologie erarbeiteten Text (12) veröffentlicht, der sich eben dieser Aufgabe stellt. Ich gebe seine wichtigsten Aussagen kurz wieder:

Wahrheit ist ein Ereignis, in dem das geschieht, worauf man sich schlechterdings verlassen kann. Nach christlichem Verständnis ereignet sich die Wahrheit in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Die Wahrheit rettet und heilt. Für sie treten Christen ein, wenn sie Menschen anderer Religionen begegnen. Würden die Kirche und die Christen darauf verzichten, dann hätten sie im Grunde aufgehört, Kirche und Christen zu sein.

Die Wahrheit als Ereignis aber wird niemals ein menschlicher Besitz. Man "hat" sie nur, weil und insofern man von ihr ergriffen wird. Sie läßt sich nicht erzwingen und nicht fordern, sondern nur in Freiheit realisieren. In dieser Hinsicht sind Christen in der gleichen Lage wie die Menschen mit anderen religiösen Grunderfahrungen. Sie sind selbst auf das Ereignis der Wahrheit angewiesen, das sie bezeugen.

Auf diese Weise sind die Kirche und die Christen davon entlastet, den Religionen einen "Absolutheitsanspruch" entgegenzusetzen. Sie werden das in der Begegnung mit anderen Religionen so klar wie möglich machen müssen. Ihre Lehre, ihre Lebensformen und Lebensordnungen sind nicht die wahre Religion. Sie sind der Versuch, der Erfahrung der Wahrheit Gottes menschlich zu entsprechen. Die Kirche und die Christen können und wollen dementsprechend mit ihrer Religion das "Ankommen" dieser Wahrheit bei religiös anders glaubenden Menschen nicht erzwingen. Sie wollen mit ihrer Religion keine Mauer zwischen sich und den Menschen anderer Religionen aufrichten. Sie weisen, indem sie von der Wahrheit reden, darauf hin, daß sie sich nur in der Freiheit Gottes ereignen kann. Ja, sie begegnen anderen Religionen in der Erwartung, daß sich dort ebenfalls in irgendeiner Weise Erfahrungen mit dieser Wahrheit finden.

Diese Erwartung impliziert wiederum auch die kritische Frage an die Vertreter anderer Religionen, ob ihre besonderen religiösen Erfahrungen sie tatsächlich zur Offenheit für das Ereignis der Wahrheit, die mit Recht Gottes Wahrheit zu heißen verdient, befähigen. Es gehört geradezu zur Achtung vor Menschen anderer Religion, ihren Überzeugungen zu widersprechen, wenn man Grund hat, sie nicht zu teilen.

Es liegt nicht in der Hand der Christenheit, den Gegensatz der Religionen mit dem so verstandenen Bezeugen der Wahrheit aus der Welt zu schaffen. Nach evangelischem Verständnis wird vielmehr, wenn es zum interreligiösen Dialog kommt, um die Wahrheit, um die Überzeugungskraft der eigenen und der anderen religiösen Glaubenseinsicht in Freiheit zu streiten sein. Daß derartige Dialoge durch irgendeine Methodik zur religiösen Entdifferenzierung führen, ist weder zu erwarten noch sinnvollerweise anzustreben. Es geht dabei jedoch um den Abbau falscher Vorstellungen von der anderen Religion, um den Versuch des Verstehens ihres besonderen Profils und vielleicht um die Entdeckung von Dimensionen der Gemeinsamkeit.

So knapp diese Skizze ausfallen mußte - an ihr ist dennoch, so hoffe ich, deutlich geworden, wie sich die evangelische Kirche und Theologie, jedenfalls von ihrer Seite aus, ein Zusammenleben verschiedener Religionen (13) vorstellen , das den Streit um die Wahrheit nicht ausblendet und gleichwohl den Frieden bewahrt oder sogar stärkt.

Ich bin auf diese Weise zum Ausgangspunkt meines Referats zurückgekehrt. Dort hatte ich beschrieben, wie es die christlichen Kirchen am Beginn des konfessionellen Zeitalters versäumt hatten, die Religionsfreiheit aus dem Glauben heraus zu begründen und zu etablieren, und wie es deshalb zu einer Religionsfreiheit aus Relativismus und Skepsis gekommen ist. Jetzt habe ich am Beispiel eines Textes aus der evangelischen Kirche und Theologie gezeigt, daß und wie dieses Versäumnis inzwischen korrigiert und überwunden worden ist. Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Huber, hat die damit gegebenen Bedingungen und Chancen für einen Dialog der Kulturen treffend so beschrieben: Mit den Daten des 11. September 2001 und des 11. März 2004 ist "die Zeit der interreligiösen Schummelei unwiderruflich an ein Ende gekommen ... Ein durch Toleranz geprägter Dialog der Religionen dagegen ist keineswegs am Ende; er kann und muß vielmehr erst richtig beginnen. Doch er ist schwer." (14)

Fußnoten:

(1) In dieser Formulierung wird Luthers Aussage vor dem Wormser Reichstag 1521 überliefert (vgl. M. Luther, WA 7, 838,6-9). Andere Beispiele sind die sogenannte Speyerer Verantwortungsformel im Reichstagabschied des 1. Reichstags zu Speyer im Jahr 1526 sowie die Protestation der evangelischen Reichsstände auf dem 2. Reichstag zu Speyer im Jahr 1529. Der Reichstagsabschied von 1526 enthält die Übereinkunft, auf jeder Seite im Blick auf die Ausführung des Wormser Edikts "für sich so zu leben, zu regieren und [es] zu halten, wie ein jeder solches gegen Gott und die kaiserliche Majestät hofft und meint verantworten zu können." (zitiert nach: Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen. Band III: Die Kirche im Zeitalter der Reformation. Ausgewählt und kommentiert von H.A. Oberman, 1981, S. 138f). Als sich auf dem Reichstag von 1529 die Absicht abzeichnete, eben diese Übereinkunft von 1526 aufzukündigen, legten die evangelischen Reichsstände Protest ein: Ein jeder hat "in Dingen, die Gottes Ehre, das Heil unserer Seele und die Seligkeit angehen, für sich selbst vor Gott zu stehen und Rechenschaft zu geben; hier kann sich also keiner mit [Berufung auf] Verhandlung oder Beschluß einer Minderheit oder Mehrheit entschuldigen ... Wir protestieren und bezeugen hiermit öffentlich vor Gott ..., auch vor allen Menschen und Geschöpfen, daß wir ... Sachen, die gegen Gott, sein heiliges Wort, unser aller Seelenheil und gutes Gewissen, auch gegen den vorher zitierten Speyerer Reichstagsabschied vorgenommen, beschlossen und gemacht worden sind, nicht zustimmen noch einwilligen" (ebd. S. 156f).

(2) Vgl. z.B. H. Weber, Art. Religionsfreiheit, in: Evangelisches Kirchenlexikon [EKL], 3. Auflage, Bd. 3, 1992, Sp. 1549 - 1551; R. Pahud de Mortanges, Art. Religionsfreiheit, in: Theologische Realenzyklopädie [TRE], Bd. 28, 1997, S. 565-574; K. Schlaich, Art. Religionsfreiheit, in: Evangelisches Soziallexikon Neuausgabe, 2001, Sp. 1324-1328.
 
(3) Das Jahrhundert der Reformation, 1961, S. 262-291, dort 289.

(4) Vgl. seinen Vortrag aus Anlaß der Promotion zum Dr. der Theologie ehrenhalber "In Wahrheit frei. Der liberale Verfassungsstaat und die Religionen", abgedruckt in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Bd. 101, 2004, S. 86-97 (Zitat: 87).
 
(5) Vgl. die Berichterstattung von D. Deckers in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. März 2004.

(6) Für die jüngste Entwicklung in dieser Auseinandersetzung vgl. den Offenen Brief der CDU-Bundestagsabgeordneten Antje Blumenthal vom 5. Mai 2004 an Professor Dr. Dr. Gerhard Besier, den Leiter des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, und ergänzend etwa den Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 14. Mai 2004.

(7) Darauf weist - nach Ernst-Wolfgang Böckenförde und Ernst-Gottfried Mahrenholz - jetzt als dritter ehemaliger Bundesverfassungsrichter auch Ernst Benda warnend hin (in einem Interview mit dem evangelischen Magazin "chrismon plus" 05/2004, dort S. 10f).

(8) E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967, S. 93.

(9) Süddeutsche Zeitung vom 24./25. April 2004.

(10) N. Knoepffler beginnt seine in der Süddeutschen Zeitung vom 13. Mai 2004 abgedruckte Reaktion auf den Beitrag von Müller mit den Sätzen: "Das Deutsche Reich war 1933 ein zutiefst christlich geprägtes Land. Der größte Teil seiner Bevölkerung war christlich getauft. Dennoch konnten sehr viele Menschen von der nationalsozialistischen Führung dazu missbraucht werden, Verbrechen zu begehen, die dem christlichen Ethos fundamental widersprechen."

(11) Zum Folgenden vgl. R. Schröder, Getroster Sisyphus, in: Reden anläßlich des Festaktes der Lutherstadt Eisleben zum Gedenken des 450. Todestages Martin Luthers am 18. Februar 1996, hg v. J. Ohlemacher, 1996, S. 13-20.

(12) Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen. Theologische Leitlinien. Beitrag der Kammer für Theologie der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD-Texte 77, 2003, dort bes. S. 14-19.

(13) Vgl. in diesem Zusammenhang noch: Bedrohung der Religionsfreiheit. Erfahrungen von Christen in verschiedenen Ländern. Eine Arbeitshilfe, EKD-Texte 78, 2003.

(14) W. Huber, Toleranz - Umstritten und aktuell (erscheint demnächst in der Zeitschrift für Evangelische Ethik [ZEE]).