"Was gebietet der Anstand? - Zur Wiederkehr einer vernachlässigten Frage", Festvortrag beim Empfang aus Anlaß des 60. Geburtstages von Präsident Dr. Eckhart von Vietinghoff in der Neustädter Hof- und Stadtkirche

Hermann Barth

Der "Knigge" ist zum sprichwörtlichen Ausdruck für ein Benimmbuch geworden. Niedersachsen, genauer gesagt: Bredenbeck am Deister im Calenberger Land, darf sich rühmen, die Heimat des Namensgebers, des Adolph Freiherrn von Knigge, zu sein. 1788 erschien seine Schrift "Über den Umgang mit Menschen". Der Titel deutet bereits an, daß es dabei um weit mehr geht als um eine Technik des guten Benehmens. Der Ur-"Knigge" ist eine Anleitung zu praktischer Lebensklugheit. Seine Leitfrage heißt: Was sind wir uns selbst und den anderen Menschen schuldig? Wie gehen wir menschlich miteinander um?

Dazu gehören dann allerdings auch ganz konkrete Ratschläge für Situationen in Gesellschaft: Was gebietet der Anstand etwa bei einem Geburtstagsempfang wie dem heutigen? Was gebietet der Anstand dabei insbesondere dem, der eingeladen ist, den Festvortrag zu halten? Dazu lese ich beim - wie er sich selbst gern nannte - freien Herrn Knigge:

"Habe acht auf dich, daß du ... durch einen wäßrigen, weitschweifenden Vortrag nicht ermüdest! Ein gewisser Lakonismus - sofern er nicht in den Ton, nur in Sentenzen und Aphorismen zu sprechen oder jedes Wort abzuwägen, ausartet - ein gewisser Lakonismus, sage ich, das heißt: die Gabe, mit wenigen, kernigen Worten viel zu sagen und durch Weglassung kleiner, unwichtiger Details die Aufmerksamkeit wach zu erhalten, und dann wieder, zu einer andern Zeit, die Geschicklichkeit, einen nichtsbedeutenden Umstand durch die Lebhaftigkeit der Darstellung interessant zu machen - das ist die wahre Kunst der gesellschaftlichen Beredsamkeit ... Überhaupt aber rede nicht zu viel!" (insel taschenbuch 273, Frankfurt am Main 1977, S. 49)

Daran werde ich mich halten, insbesondere was die Länge angeht. "Festvortrag" klingt in dieser Hinsicht ja fast bedrohlich. Aber ich will Sie nicht ermüden, sondern, zumindest durch Kürze, erfreuen. Mein Vortrag wird neben einer Einleitung, die fast schon zu Ende ist, drei Teile haben:

I. Worum geht es beim Anstand?

II. Warum wird heute neu nach dem Anstand gefragt?

III. Was hat die evangelische Kirche mit dem Thema "Anstand" zu schaffen?

I.

Im Frühsommer erschien in der Reihe "EKD-Texte" der Band "Die Manieren und der Protestantismus. Annäherungen an ein weithin vergessenes Thema". In ihm sind die Beiträge abgedruckt, die dem Rat der EKD und den Leitenden Geistlichen der Gliedkirchen im Rahmen des Schwerpunktthemas ihrer diesjährigen Begegnungstagung präsentiert wurden. Der Band fand ein gemischtes Echo. Neben enthusiastischer Zustimmung stand leiser Spott. Die ansonsten recht lesenswerte katholische Zeitschrift "Herder-Korrespondenz" stellt ihren Kommentar unter die süffisante Überschrift: "Artig, artig". Der Autor des Kommentars tut sich mit der Thematik sichtlich schwer. Man hat den Eindruck, er gibt nicht nur das vermutete Empfinden anderer wieder, wenn er schreibt: "Hat die evangelische Kirche hierzulande keine anderen Sorgen, mag sich mancher gefragt haben." Dazu kann ich nur sagen: Wer so redet, hat die Entdeckung der gesellschaftlichen und der theologischen Bedeutung des Themas noch vor sich.

Ich war selbst zu Anfang ein wenig unsicher über das Potential des Themas. Aber als ich Ihnen, lieber Herr von Vietinghoff, vor einem knappen Jahr von der Planung für die Begegnungstagung erzählte und auf Ihre lebhafte Zustimmung stieß und als ich dann noch auf der Begegnungstagung Zeuge Ihrer engagierten Diskussionsbeiträge wurde, da gab mir das den nötigen Rückenwind: Es wird Zeit, daß auch die evangelische Kirche etwas zur Wiederkehr dieser vernachlässigten Frage beiträgt. Und so ist schließlich auch die Wahl des Themas für den Festvortrag bei Ihrem Geburtstagsempfang zustandegekommen. Es sei, so heißt es in der Presse, Ihnen "wie auf den Leib geschneidert". Lieber Herr von Vietinghoff, Sie haben sich, um im Bilde zu bleiben, schon so viele Themen "angezogen": Publizistik, Europa, Diakonie, Strukturreform usw. Die an der Wahl des heutigen Themas beteiligt waren, hatten jedenfalls die Hoffnung: Sie freuen sich daran.

Ein Hinweis aus der "Herder-Korrespondenz" verdient allerdings Beachtung. Die Schlußfrage des Kommentars lautet: "Warum muß man das alles unter dem engführenden, letztlich verzopften Begriff der Manieren diskutieren?" Der Begriff "Manieren" lenkt vielleicht tatsächlich die Aufmerksamkeit zu sehr auf die äußeren Formen und verdeckt auf diese Weise, daß es in und mit den äußeren Formen um eine innere Haltung geht und daß beides zusammen, die innere Haltung und die aus ihr fließenden Umgangsformen, einen wichtigen Beitrag zur Zivilisierung des menschlichen Verhaltens liefert. Ich habe darum für diesen Vortrag den Begriff "Anstand" in den Vordergrund gerückt.

Er hat den Vorzug, den inneren Zusammenhang deutlich zu machen, der zwischen den Umgangsformen und den ethischen Grundregeln für einen zivilisierten Umgang mit Menschen besteht. Beim Anstand geht es um die Frage: Was gehört sich? Noch deutlicher wird das bei dem Begriff "anständig". 1931 erschien ein Beitrag Thomas Manns mit dem Titel "Die Wiedergeburt der Anständigkeit". In ihm wandte er sich gegen eine Zeitgenossenschaft, der "der Begriff des menschlich Anständigen weitgehend abhanden gekommen ist und die gegen allen Menschenanstand sich Dinge erlaubt oder wieder erlaubt, die unmöglich zu machen einer kritischen Humanität mit größter Mühe gelungen war". Als in diesem Sommer eine öffentliche Debatte über die hohen Abfindungen und Gehälter von Managern stattfand, waren es gerade die Kategorien des Anstands und des Anständigen und der guten Sitten, auf die sich kritische Urteile beriefen. Friedrich Schorlemmer sagte: "Die haben das Gefühl verloren, was sich gehört und in unsere Zeit paßt." Gerade in Fragen, für die es keine rechtlichen Regelungen gibt und wohl auch nicht geben kann, braucht der Mensch einen inneren Kompaß, um richtig zu reagieren; er braucht Fingerspitzengefühl, um zu wissen, welches Verhalten ihm selbst und seinen Mitmenschen in einer gegebenen Situation zuträglich ist.

Aber der Begriff "Anstand" geht in dem, was ethisch geboten oder geraten ist, nicht auf. Vielmehr schwingt in ihm immer auch mit, daß die Regeln des ethisch Gebotenen oder Geratenen in bestimmten Umgangsformen ihren äußeren Ausdruck finden. Diese Anstandsregeln werden nicht ständig neu erfunden. Sie sind Konventionen, das heißt übersetzt: "Vereinbarungen". Sie erleichtern die Kommunikation, begründen aber zugleich Erwartungen. Unmanierliches Betragen besteht ja zunächst einfach darin, daß eine bestimmte Erwartung nicht erfüllt wird - sei es aus Unkenntnis, sei es aus Protest.

Anstand ist nur so lange eine persönlich wie gesellschaftlich wirksame Kraft, wie innere Haltung und äußere Formen beieinander gehalten und aufeinander bezogen bleiben. Der Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse kann dazu führen, daß sich ein bestimmtes Ethos überlebt und, in mehr oder minder großem Umfang, seine Revision erforderlich wird. Wenn in einem solchen Fall die äußeren Formen unverändert weitergegeben und für verbindlich erklärt werden, dann wird früher oder später die Spannung zwischen den sich bildenden neuen Wertvorstellungen und den traditionellen äußeren Formen unerträglich. Das sind die Situationen, in denen einem überlieferte Konventionen des Anstands hohl erscheinen. Das sind darum auch die Situationen, in denen, vor allem junge, Menschen gegen überlieferte Umgangsformen aufbegehren und sie - teils zu Recht, teils in bilderstürmerischem Eifer im Übermaß - niederreißen. Freilich - wenn eine solche Rebellion in der Formlosigkeit endet, ist sie noch nicht am Ziel. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, die innere Haltung genüge und die äußere Form sei belanglos. Eine innere Haltung, die sich nicht in Anstandsregeln gewissermaßen verleiblicht, also nicht in Konventionen institutionelle Gestalt annimmt, hat keine große Chance, das persönliche und das gesellschaftliche Leben auf Dauer zu prägen und zu beeinflussen. Hinzu kommt, daß der achtlose Umgang mit äußeren Formen die Kommunikation stören und blockieren kann. Der Pastor, der bei der Beerdigung unter dem Talar Turnschuhe trug - ich wähle bewußt die Vergangenheitsform -, konnte aus einer tadellosen inneren Haltung sonst alles richtig machen und sagen; aber die Angehörigen und die Gemeinde hatten bestimmte Erwartungen an die äußeren Formen, und weil sie nicht erfüllt wurden, konnten sie die innere Haltung des Pastors weder erkennen noch würdigen.

II.

Asfa-Wossen Asserate und alle, die seinem Buch über "Manieren" öffentliche Aufmerksamkeit verschafft haben, haben das bleibende Verdienst, daß die Frage nach dem, was der Anstand gebietet, nicht länger vergessen und verdrängt wird, sondern wiedergekehrt ist: wiedergekehrt in das Nachdenken über Erziehung und Schule, wiedergekehrt auch in die öffentliche Debatte über die guten Sitten in Wirtschaft und Politik. Warum diese Frage in Deutschland in besonderer Weise vernachlässigt worden ist, wäre einer gesonderten Betrachtung wert. Vermutlich hängt es insbesondere damit zusammen, daß wir in Deutschland aus historischen Gründen ein gebrochenes Verhältnis zu Tradition und Konvention haben.

Was sind die Gründe, die die Menschen jetzt für diese Frage und dieses Thema empfänglich gemacht haben? Es ist, wie es immer ist: Man merkt erst, was man an einer Sache hatte, wenn sie fehlt. Die Verlusterfahrung bringt erst zu Bewußtsein, wie achtlos und unverständig man mit einer wertvollen Sache umgegangen ist. Nehmen wir ein ganz alltägliches, fast banal erscheinendes Beispiel: Ich beobachte nur noch ganz selten, daß in einer vollbesetzten Straßenbahn ein Sitzplatz freigemacht wird für jemanden, der offenkundig oder wahrscheinlich dringender auf einen Sitzplatz angewiesen ist. "Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen und die Alten ehren" heißt es im 3. Buch Mose (19,32) - das war einmal ziemlich selbstverständlich, aber heute scheinen nicht mehr viele davon zu wissen. - Daß es mir auch nicht so ganz recht ist, wenn jemand in verständlicher, aber schmerzlicher Fehleinschätzung meines jugendlichen Alters mir einen Platz in der Straßenbahn anbietet, steht auf einem anderen Blatt. - Oder nehmen wir die Schule: Es kann kein Zweifel sein, daß die Verhältnisse in manchen Schulen und manchen Klassen äußerst schwierig und anstrengend sind. Ich rede nicht nur von Schülern, die drangsaliert werden. Ich denke auch daran, daß viele Lehrer, nämlich 94 %, lange vor der Pensionierungsgrenze mit ihren Kräften am Ende sind und vorzeitig ausscheiden. Gewiß - Benimmunterricht oder die Wiedereinführung der Kopfnoten haben etwas von einer hilflosen Geste an sich. Aber jedenfalls die Geste spricht für sich: Wir vermissen - und ich sage es noch einmal: in manchen Schulen und manchen Klassen - ein Klima der Rücksichtnahme und des Mitgefühls, eine Haltung der Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit, kurz: den nötigen Anstand. Oder nehmen wir noch die Wirtschaft, speziell das Bankwesen: Viele haben in diesem Sommer mit einer Mischung von Bewunderung und Beklemmung die ungehaltene Rede eines ungehaltenen alten Mannes gelesen. Es war hier in Hannover, daß Ludwig Poullain, der 84 Jahre alte ehemalige Chef der Westdeutschen Landesbank, über den Sittenverfall im deutschen Bankwesen sprechen wollte. "Unsere Altvorderen" - so steht in seinem Manuskript - "haben keine Standesregeln zu Papier gebracht. Wir schwören auch keine Eide. Aber dürfen wir dennoch, ohne Schamgefühl zu empfinden, ethische Grundsätze für den eigenen Gebrauch ausschließen - so, als würden diese nur für andere, etwa unsere Kreditnehmer, gelten - und uns dafür lieber der Gewinnmaximierung widmen? ... Uns in der Wirtschaft täte Demut zu empfinden, und sie mitunter auch zu zeigen, gut. Wir müssen nicht mit dem Kopf unter den Armen herumlaufen, aber ein Gespür dafür entwickeln, was in den Gemütern derer vorgeht, die nicht auf der Sonnenseite rechtssicherer Dienstverträge leben. Wir sind Pharisäer, wenn wir nur immer wieder auf den Mißbrauch sozialer Sicherungsinstrumente hinweisen, anstatt unser eigenes Tun selbstkritisch zu betrachten."

Defiziterfahrungen dieser Art sind es, die zu der verbreiteten Stimmung, mehr noch: zu dem sich verschärfenden Krisenbewußtsein führen: So kann es nicht weitergehen. So gefährdet sich eine demokratische und liberale Gesellschaft selbst. Je pluraler und inhomogener eine Gesellschaft wird, desto schwieriger - aber auch desto wichtiger! - wird es, gemeinsame Regeln des Anstands zu bewahren.

Die westlichen Gesellschaften zeichnen sich allesamt durch eine Verstärkung der pluralisierenden und individualisierenden Tendenzen aus. Das hat auch viele positive, befreiende Wirkungen. Aber es wird zur Gefahr für den Bestand dieser Gesellschaften, wenn das Widerlager intakter guter Sitten und breit akzeptierter Regeln des Anstands fehlt. Niemand hat das klarer und eindringlicher beschrieben als die Vertreter der kommunitaristischen Bewegung in den USA. Die Funktionsfähigkeit der liberalen Gesellschaft - so ist ihre Überzeugung - hängt davon ab, daß den Bürgerinnen und Bürgern die Tugenden, die zum traditionellen Kanon guten Benehmens gehören, wie Selbstdisziplin, Mäßigung, Zuverlässigkeit, Befolgung der Gesetze, Mut oder Toleranz gegenüber anderen durch Erziehung vermittelt werden. Es macht einen noch in der Erinnerung fassungslos, daß vor gut zwei Jahrzehnten ein deutscher Politiker in diesem Zusammenhang abschätzig von "Sekundärtugenden" gesprochen hat, mit denen man auch ein KZ führen könne.

Ein Schlüsselbegriff vieler kommunitaristischer Autoren ist civility. Stephen L. Carter hat 1998 seiner Schrift insgesamt diesen Titel gegeben: "Civility. Manners, Morals and the Etiquette of Democracy", also: "Zivilität. Umgangsformen, gute Sitten und die Etikette der Demokratie". Zivilität wird dabei verstanden als die Summe der Opfer, die wir für das Zusammenleben erbringen müssen. Und zwar nicht nur, weil auf diese Weise das Zusammenleben leichter wird, sondern auch als Zeichen des Respekts gegenüber unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die dadurch als gleich anerkannt werden. Zivilisiert zu sein - man kann genau so gut sagen: kultiviert zu sein - bedeutet, daß sich unser Verhalten in der Gesellschaft nach bestimmten Regeln richtet, die unsere Freiheit mit Rücksicht auf die anderen beschneiden. So gesehen hat Zivilität viel gemeinsam mit dem, was in der jüdisch-christlichen Tradition unter dem Begriff der Nächstenliebe firmiert. Denn die Pflicht zur Zivilität hängt ebenso wenig wie die geforderte Nächstenliebe davon ab, ob wir die anderen mögen. Und ebenso wie das Gebot der Nächstenliebe ist das der Zivilität nicht nur negativ. Es gebietet nicht nur, den anderen nicht zu verletzen, sondern es verlangt auch, sich gut zu ihm zu verhalten.

Zivilität läßt sich nicht erzwingen. Das macht ihre Schwäche, aber zugleich ihre Stärke aus. Die Befolgung der Rechtsordnung läßt sich im Prinzip erzwingen. Aber schon seit geraumer Zeit ist eine problematische Tendenz zu beobachten, das Instrument der Rechtsordnung zu überfordern. Weil wir sonst so wenig Instrumente haben, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewährleisten, rufen wir zu schnell nach neuen Gesetzen. Anstand, Stil, gutes Benehmen - sie können, wenn sie nicht länger vernachlässigt werden, hier eine wichtige entlastende Funktion haben. Denn sie stehen für die Orientierung an gemeinsamen Werten, Tugenden und Verpflichtungen im vorrechtlichen Raum. Die Frage ist allerdings, welche Kräfte zur Verfügung stehen, um diese vorrechtlichen Instrumente funktionsfähig zu erhalten oder überhaupt erst wieder zu machen.

III.

Das führt geradewegs zum letzten Teil des Vortrags. Vor allem in zwei Hinsichten hat die evangelische Kirche mit dem Thema "Anstand" zu schaffen und etwas dazu beizutragen, daß sich Anstand bildet und er eine wirksame Kraft bleibt:

Anstand ist nicht von selbst da. Er braucht den geeigneten Nährboden, um sich zu entwickeln. Das Christentum und die von ihm geprägte Kultur haben sich als ein solcher Nährboden bewährt. Das gilt insbesondere für viele biblische Texte.

Nur zwei Beispiele: "In Demut achte einer den andern höher als sich selbst." Knapper und gehaltvoller, als es Paulus hier im Philipperbrief (2,3) tut, kann man die innere Haltung, aus der der Anstand entspringt, gar nicht mehr beschreiben. An diesem Punkt wird im übrigen auch deutlich, daß und wie Anstand mit dem Gottesverhältnis des Menschen zu tun hat: Denn nirgendwo lernen wir Demut besser als dort, wo wir uns als Geschöpf und nicht Schöpfer und als der Gnade und Vergebung bedürftig erkennen. Kürzlich hat Asfa-Wossen Asserate einem kirchlichen Magazin ein Interview gegeben (Andere Zeiten, Heft 3/2004). Dabei hat er den Kern der Manieren mit dem biblischen Begriff der Demut beschrieben: "Ein demütiger Mensch" - so sagt er - "ist jemand, der eigentlich keinen Manierenunterricht braucht. Das ist jemand, der immer den anderen in den Mittelpunkt stellt, ohne sich selbst zu vergessen."

Und natürlich darf als zweites biblisches Beispiel - jetzt folgt der von manchen sicher schon erwartete kleine "Werbeblock" für das Buch Jesus Sirach - die Weisheitsliteratur des Alten Testaments nicht fehlen. Dort werden Lebensregeln und Umgangsformen in knappe, einprägsame Formulierungen gefaßt. Ich mag ganz besonders den Satz: "Die Narren tragen ihr Herz auf der Zunge; aber die Weisen haben ihren Mund im Herzen" (Jesus Sirach 21,28), frei übersetzt: Man spricht nur mit dem Herzen gut. Frühere Generationen konnten das auswendig. Es ist zum Schaden der evangelischen Kirche und der evangelischen Frömmigkeit ausgeschlagen, daß diese Teile der Bibel so sehr im Schatten stehen oder geradezu in der Versenkung verschwunden sind. In den Vorschlägen für die tägliche Bibellese kommen die neutestamentlichen Briefe, aber auch die alttestamentlichen Geschichtsbücher ausführlich zu Wort. Wie wäre es mit etwas mehr Jesus Sirach?

Nun sind wir allerdings zunehmend mit der Behauptung konfrontiert, das Christentum habe seine Wirkungsmacht eingebüßt. "Europa" - so hieß es unlängst in einem Feuilletonbeitrag einer großen deutschen Tageszeitung - "hat die Nabelschnur zur Religion, die es durch die tausendjährige Schwangerschaft des Mittelalters getragen hat, endgültig durchtrennt." Was an diesem Beitrag so ärgerlich ist, ist die Leichtfertigkeit, mit der die Beiträge des Christentums zur persönlichen Lebensorientierung und zur Bildung eines gesellschaftlichen Grundkonsenses über das, was sich gehört, abserviert werden. Aus welchen Quellen speisen sich denn Bereitschaft und Fähigkeit, sich der Schwachen anzunehmen? Auf welchem Nährboden wächst eine Kultur der Barmherzigkeit? Wo lernt man es, den Blick für das fremde Leid zu bewahren? Ich behaupte nicht, die Orientierung an der christlichen oder der jüdisch-christlichen Tradition bringe verläßlich oder gar automatisch solche Resultate hervor. Ein Blick auf die deutsche Geschichte, aber auch auf das gegenwärtige politische Klima in den USA macht da sehr bescheiden. Ich sage auch nicht, für all die beschriebenen Anforderungen stehe nur die jüdisch-christliche Tradition zur Verfügung. Ein solcher Exklusivitätsanspruch ist weder von der historischen noch von der persönlichen Erfahrung gedeckt. Aber so sehr viele geistige Ressourcen und kulturelle Kräfte, auf die wir in diesen Fällen rechnen dürfen, haben wir nicht. Deshalb kommt es darauf an, die Quellen, aus denen sich unsere persönliche Lebensorientierung und der gesellschaftliche Konsens speisen können, neu zu erschließen und sie wieder stärker zum Fließen zu bringen.

Das beschreibt - und das ist die zweite Hinsicht, unter der die evangelische Kirche mit dem Thema "Anstand" zu schaffen hat - eine wichtige Aufgabe kirchlicher und christlicher Bildungsarbeit. Dabei müssen alle Ebenen des Bildungsgeschehens im Blick sein: die Familie, die Orientierung an Vorbildern und Beispielen, der Gottesdienst, die orientierende Wirkung öffentlicher Äußerungen und, nicht zuletzt, der Unterricht im engeren Sinne. In jüngerer Zeit ist mehrfach hervorgehoben worden, daß die kirchliche und christliche Bildungsarbeit insbesondere Orientierungswissen vermitteln kann und soll. Das Thema des Anstands ist dafür ein vorzügliches Bewährungsfeld.

Vielleicht kann der eine oder die andere den Zweifel nicht ganz unterdrücken, ob diese Bildungsaufgabe, zumal bei den begrenzten Kräften der Kirche, eine Chance auf Erfolg hat. Asfa-Wossen Asserate hat in dem bereits erwähnten Interview eine ermutigende Erfahrung weitergegeben: "Wenn ich jetzt" - so sagt er - "in deutschen Städten aus meinem Buch vorlese, wissen Sie, was mich da am meisten freut? Dass ein beachtlicher Teil meiner Hörer Jugendliche sind. Ich höre aus den Fragen der neuen Generation, dass sie, auf gut deutsch gesagt, die Nase voll hat von dem, was wir ihnen in all diesen Jahren vorgemacht haben. Sie wollen einen besseren Umgang mit ihren Mitmenschen, der nicht auf Herzenskälte basiert. Sie suchen eine neue Orientierung. Diese Art der Gesinnung ist noch ein kleines Pflänzchen. Ich sehe es aber wachsen. Und es ist unsere Aufgabe, es zu hegen, zu pflegen und zu bewässern, damit es eines Tages zu einem starken Baum wird."