Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung "Noch mal leben. Eine Fotoausstellung über das Sterben" in Berlin

Hermann Barth

I.

"Der Tod ist eine Lebensreifeprüfung. Die muss jeder Mensch für sich alleine bestehen." Mit diesen Worten wird in der Ausstellung Edelgard Clavey zitiert. Sie gehört zu den Menschen, die Walter Schels und Beate Lakotta auf ihrem Sterbeweg begleitet haben. Es ist wahr: Jeder stirbt seinen Tod selbst. Niemand kann sich beim Sterben vertreten lassen, und es gibt sehr unterschiedliche Einstellungen und Empfindungen gegenüber Sterben und Tod. Aber wahr ist auch: Wir können uns auf diese Lebensreifeprüfung vorbereiten. Die Ausstellung, die heute Abend eröffnet wird, ist auf ihre Weise ein Beitrag zu dieser Vorbereitung.

Worauf genau bereiten wir uns vor? Die Antwort ist nicht ganz so eindeutig, wie es zunächst scheint. Mir geht die Kindheitserinnerung nicht aus dem Sinn, die die Schweizer Schriftstellerin Silja Walter (Der Wolkenbaum. Meine Kindheit im alten Haus, 1991, S. 178) aufgezeichnet hat:

Wenn aber die Leut weinen und zu ihm sagen: Herr Domkaplan, bitte, Herr Domkaplan, bereiten Sie meinen sterbenden Vater, oder wen immer, bereiten Sie ihn auf den Tod vor. Dann schaut er sie an, mit blitzenden Augen, sagen sie dann, wenn sie es erzählen, mit blitzenden Augen - Was? ruft er aus im Sterbezimmer, auf den Tod vorbereiten? Ich bereite keinen auf den Tod vor, aufs Leben bereite ich ihn vor! Und dann ist es, als wäre das ewige Leben schon zur Türe hereingekommen.

Die Ausstellung führt uns ins Nachdenken: über uns selbst, über Gott und die Welt, über unsere Hoffnungen, auch unsere Ängste, im Blick auf unser Sterben und unser Leben. Sie ruft Fragen wach, aber sie drängt keine Antworten auf. Das gilt insbesondere dann, wenn man sich auf die Begegnung mit den Fotografien konzentriert. Bilder sind vieldeutig. Unterschiedliche Menschen lesen Unterschiedliches aus ihnen heraus. Eine Fotoausstellung kann so angelegt werden, dass sie mit ihren Bildern lediglich illustriert, was als Botschaft längst feststeht. Das ist bei dieser Ausstellung anders, und das macht ihre Stärke aus. Da sind die Bilder, die wenige Wochen vor dem Tod aufgenommen sind. Welche Lebensgeschichte zeichnet sich in ihnen ab? Welche Gedanken sind hinter der Stirn verborgen? Was ist die Mitteilung, die uns überlebenden Betrachtern zugedacht ist? Ich war erstaunt, dass viele Gesichter noch so gar nicht vom Tod gezeichnet sind. Das Leben geht fast unmerklich ins Sterben über. Oder umgekehrt: Das Sterben ist dem Leben so nah. Und da sind die Bilder, die nach dem Tod aufgenommen sind. Aus ihnen spricht fast durchgehend eine Stimmung der Ruhe und des Friedens. Woher kommt diese Stimmung? Lese ich sie in die Bilder hinein? Geht sie als eine geheimnisvolle Kraft von diesen Gesichtern selbst aus?

II.

Wie gesagt, die Bilder lösen solche Fragen aus, sie drängen keine Antwort auf. Darum hat es sicher auch viel für sich, sich die Zeit für diese Ausstellung so einzuteilen, dass zunächst allein die Bilder sprechen dürfen und die Texttafeln noch ganz beiseite bleiben. Die Vertiefung in die Texttafeln ist dann eine zweite Ebene, auf der wir dieser Ausstellung begegnen können. Sie schafft einen ganz neuen Zugang. Hinter den Gesichtern und hinter den Vorstellungen, die wir uns über die Gesichter gemacht haben, werden besondere Lebensgeschichten und Sterbegeschichten spürbar. Am liebsten würde ich Ihnen, statt selbst viele Worte zu machen, nur ausführlich zitieren, was diese Menschen im Angesicht des Sterbens gesagt haben. Nicht dass letzte Worte immer und durchgängig Gewicht haben und wert sind, aufgezeichnet zu werden. Da steht Banales neben Hellsichtigem, Klischeehaftes neben Einmaligem, Selbsttäuschung neben Selbsterkenntnis. Wer letzte Worte überliefert, muss aufmerksam hinhören und sorgfältig auswählen. Das ist Walter Schels und Beate Lakotta in bewundernswerter Weise gelungen. In vollem Umfang lässt sich das nur würdigen, wenn man sich mit den Texttafeln, die in der Ausstellung den Bildern zur Seite gestellt sind, nicht begnügt, sondern das Buch in die Hand nimmt, das als Ergänzung zur Ausstellung erschienen ist. Die letzten Wochen und Tage waren im Zusammenhang mit der Frankfurter Buchmesse wieder angefüllt mit Lesehinweisen, Rezensionen und Buchempfehlungen. Ich verspreche Ihnen nicht zuviel, wenn ich sage: Sie werden sich in dem Buch zur Ausstellung festlesen, Sie werden auf Situationsbeschreibungen und Zitate stoßen, die lange mit Ihnen gehen und die Sie doch nicht ausschöpfen können.

Dieser Ausstellung kann und sollte man auf drei Ebenen begegnen: auf der Ebene der Bilder, auf der Ebene der Verbindung von Bild und Texttafel und schließlich auf der Ebene des Buchs. Jede dieser Ebenen hat ihr eigenes Recht und ihre eigene Bedeutung. Der große Vorteil des Buchs liegt darin, daß Sie darin die Ausstellung gewissermaßen mitnehmen und, wo auch immer, ganz für sich betrachten und auf sich wirken lassen können.

III.

Ich habe begonnen mit dem Zitat vom Tod als einer "Lebensreifeprüfung". In dieser Perspektive ist die Ausstellung für jeden einzelnen ein Beitrag zur Vorbereitung auf das eigene Sterben. Sie ist aber nicht minder ein Beitrag zur Diskussion über den gesellschaftlichen Umgang mit Sterben und Tod.

(1) Sie ist es schon darin, dass sie Fotografien vom Sterbeweg, wie er sich tagtäglich unter uns vollzieht, zeigt und damit den Tod zu einem öffentlichen Thema macht. Es ist ja merkwürdig: Wir müssen alle sterben. Wir wissen auch alle, dass wir sterben müssen. Und dennoch gehört das Sterben weithin zu den gemiedenen und verdrängten Themen. Die biblische Mahnung ist noch heute aktuell: "Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss ... Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! Sie gehen dahin wie ein Schatten und machen sich viel vergebliche Unruhe; sie sammeln und wissen nicht, wer es einbringen wird" (Psalm 39,5-7).

(2) Weil der Tod ein gemiedenes Thema ist, haben wir wenig oder gar keine Gelegenheit, zu lernen und zu üben, wie wir ehrlich und hilfreich über ihn reden können. Daraus resultiert bei vielen eine schreckliche Hilflosigkeit, wenn sie Angehörige, Freunde, Nachbarn, Kollegen besuchen, die im Sterben liegen. Eine der eindrucksvollsten Stellen auf den Texttafeln und im Buch beschreibt, wie es zugeht, wenn der todkranke Heiner Schmitz von seinen Freunden besucht wird, und was er selbst dabei empfindet:

Seine Freunde bringen ihm alles, was er braucht und sich wünscht. Sie wollen ihn nicht fallenlassen, das ist gut. Aber sie wollen auch nicht hinnehmen, dass er sterben wird. Auch er soll sich nicht damit abfinden, man muss ihn aufmuntern, ablenken von der Krankheit, am besten lückenlos. Er soll nicht auf traurige Gedanken kommen, gar nicht denken ... Die Jungs, mit denen Heiner seit Jahren kickt, kommen zum Fußballschauen. Die Mädels aus den Werbeagenturen bringen Blumen ... Manche kommen zu zweit oder zu dritt, weil sie sich fürchten, mit ihm allein zu sein. Was redet man mit einem Todgeweihten? Andere gehen mit einem jovialen "Kopf hoch! Lass dich bloß nicht hängen!" zur Tagesordnung über. Wieder andere wünschen ihm gute Besserung zum Abschied, komm bald wieder auf die Beine, Alter. "Mach ich", sagt Heiner, "alles klar". [Aber wenn er für sich ist, denkt er:] "Keiner fragt mich, wie's mir geht, weil alle Schiss haben. Dieses krampfhafte Reden über alles Mögliche, das tut weh. Hey, kapiert ihr nicht? Ich werde sterben! Das ist mein einziges Thema in jeder Minute, in der ich alleine bin." S. 121f)

(3) In der Ausstellung wird nicht verschwiegen, dass der Sterbeweg begleitet sein kann von dem Gedanken, sich selbst das Leben zu nehmen, oder von dem Wunsch, es möge jemand kommen und diesem gequälten Leben ein Ende machen. In der Sterbegeschichte von Heiner Schmitz heißt es an einer Stelle:

Wiederholt äußert Heiner, er wolle aus dem Fenster springen ... In der Teambesprechung berichtet Elfriede, Heiner habe an der offenen Balkontür gestanden, als sie sein Zimmer betrat. "Keine Angst, ich spring nicht", hatte Heiner sie zu beruhigen versucht, als er ihre erschrockenen Augen sah. "Ich brauche nur frische Luft." (S. 125f)

Und in der Sterbegeschichte von Barbara Gröne wird sie - bezugnehmend auf das Foto eines Hundes, das auf ihrem Nachttisch steht - mit den Worten zitiert:

An dem habe ich sehr gehangen, weil er als Welpe aus dem Nest geflogen ist wie ich. Vor einem Jahr haben wir ihn einschläfern lassen. Beim Menschen macht man das ja nicht. Dabei wäre jeder Tag, an dem ich nicht mehr da bin, ein gewonnener Tag. (S. 105)

Der Text von Beate Lakotta registriert und beschreibt, er kommentiert nicht. Meine Rolle im Zusammenhang der Ausstellungseröffnung ist eine andere. Ich darf kommentieren, ja, angesichts der derzeit geführten öffentlichen Diskussion über Beihilfe zur Selbsttötung und Tötung auf Verlangen muss ich kommentieren. Der Generalsekretär der Sterbehilfe-Organisation "Dignitas", Ludwig Minelli, hat in einem Interview (in der WELT vom 29. September 2005) erklärt: "Suizid ist eine großartige Möglichkeit, die es dem Menschen ermöglicht, sich einer ausweglosen Situation zu entziehen." So kann ich über die Selbsttötung nicht reden, und darum halte ich die organisierte Beihilfe zur perfekten Selbsttötung für den falschen Weg. Gewiss, keinem Menschen steht von außen ein Urteil darüber zu, welche Gründe zum Versuch der Selbsttötung geführt haben. Die Motive und Entscheidungsmöglichkeiten eines anderen bleiben im letzten unbekannt. Ich kann dem, der sich selbst tötet, meinen Respekt nicht versagen. Doch die Selbsttötung billigen und gutheißen kann der Mensch nicht, der begriffen hat, dass er nicht nur für sich selbst lebt. Jeder Selbsttötungsversuch kann für ihn nur ein Unfall und ein Hilfeschrei sein. Vor fast 40 Jahren hat Reiner Kunze unter dem Titel "Selbstmord" ein ganz kurzes Gedicht geschrieben: "Die letzte aller Türen / Doch nie hat man / an alle schon geklopft." In eine ganz andere Richtung drängt Ludwig Minelli. In seinem jüngsten Interview (in der Berliner Zeitung vom 22. Oktober 2005) formuliert er seine Position so: "Grundsätzlich ist das Recht, sein Leben beenden zu dürfen, nicht an irgendwelche Voraussetzungen gebunden". Daraufhin fragt der Interviewer: "Das heißt, auch ein Teenager, der unter Liebeskummer leidet, sollte die Möglichkeit haben, sich ein tödliches Medikament zu beschaffen?" Und Minelli antwortet: "Im Prinzip ja, wenn er urteilsfähig ist. Das ist die einzige Voraussetzung." Der Interviewer hakt nach: "Würden Sie auch psychisch Kranken die Selbsttötung ermöglichen, wenn es in der Schweiz erlaubt wäre?" Daraufhin Minelli: "Wir haben deswegen ein Rechtsverfahren eingeleitet. Auch psychisch Kranke sind in den allermeisten Fällen urteilsfähig in Bezug auf ihren Willen, weiterleben zu wollen oder nicht. Es wäre eine ungeheure Quälerei, ihnen dieses Recht auf Selbsttötung zu verweigern." Man muss Ludwig Minelli nur reden lassen, dann gehen einem die Augen auf.

Dasselbe gilt von dem Hamburger Justizsenator Roger Kusch. Er ist es, der die jüngste Debatte über die Freigabe der Tötung auf Verlangen ausgelöst hat. Die Reaktionen auf seinen Vorstoß hat er - so wird er zitiert - interessiert gelesen, "weil ich neugierig war, ob jemand etwas Überzeugendes entgegenzusetzen hat". Gefunden habe er aber "nur das Vorhersehbare". Da kann man nur sagen: besser etwas Vorhersehbares als etwas Unausgegorenes. Es ist ein Skandal, dass er den Unterschied zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe nicht versteht oder nicht verstehen will. Es ist abwegig, die Freigabe der Tötung auf Verlangen mit dem Verweis auf die rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs legitimieren zu wollen. In Würdigung der besonderen Natur des Schwangerschaftskonflikts ist in diesem Fall ein Tötungshandeln straffrei gestellt. Die nach wie vor vorhandene Kritik an der Neuregelung des § 218 müsste sich im nachhinein vollauf bestätigt sehen, wenn die rote Linie des Tötungsverbots nun auch bei der aktiven Sterbehilfe überschritten würde. Hamburgs CDU muss sich allmählich ernsthafte Gedanken darüber machen, ob Roger Kusch im Justizressort an der richtigen Stelle ist. Henning Voscherau hat den Vorstoß von Roger Kusch knapp und hart so kommentiert: "Ausgerechnet ein Justizsenator, der auf die Verfassung vereidigt ist, darf nicht so vor sich hinschwadronieren."

(4) Nahezu alle Fotografien, die in der Ausstellung gezeigt werden, sind in Hospiz-Einrichtungen entstanden. Diese Tatsache allein lässt schon ahnen, wo Walter Schels und Beate Lakotta in der derzeitigen öffentlichen Debatte über Sterbehilfe und Sterbebegleitung stehen und wofür sie plädieren. Das Schlusskapitel des Buches lässt aus der Ahnung Gewissheit werden. Ich hoffe, sehr geehrte Frau Lakotta und sehr geehrter Herr Schels, ich nehme Ihnen nichts vorweg, wenn ich an dieser Stelle einige Sätze aus Ihrem Plädoyer für Hospizbewegung und Palliativmedizin wiedergebe:

Viele Hospize verdanken den Anstoß zu ihrer Gründung engagierten Krankenschwestern, Pflegern und Ärzten, die mit Tod und Sterben anders umgehen wollen, als es ihnen das enge Zeitkorsett des Krankenhausalltags erlaubt ... Zum Team gehören außerdem oft auch Sozialarbeiter, Psychologen, Seelsorger, Physiotherapeuten und Krankengymnasten. Hinzu kommen in Deutschland bereits jetzt 40.000 geschulte ehrenamtliche Helfer, die Sterbende und ihre Angehörigen zu Hause oder in Hospizen begleiten. Zusammen mit der Hospizidee entstand eine neue Fachrichtung: die Palliativmedizin. Sie hat sich der Linderung der Symptome und Beschwerden unheilbar Erkrankter verschrieben ... Sind also Hospizbewegung und Palliativmedizin die Antwort auf die Frage nach einer zeitgemäßen ars moriendi? In den eigenen Reihen verzeichnet die Hospizbewegung bisweilen bereits Tendenzen, den rundum begleiteten Tod zu glorifizieren. Ein gutes Sterben erscheint als Prozess, der "gelingen" kann. Manche Sterbebegleiter setzen sich dabei selbst unter Druck. Sie leiden unter dem Gefühl, versagt zu haben, wenn ein Mensch nicht gemäß ihren Vorstellungen vom guten Tod aus dem Leben geht ... Auch die beste Schmerztherapie und Hospizpflege mit ihrem ganzheitlichen Anspruch können, realistisch betrachtet, nicht alles Leid lindern ... In einer Gesellschaft jedoch, in der die Vorstellungen vom guten Ende so individuell sind wie die Lebensentwürfe, geben Hospizbewegungen und Palliativmedizin die derzeit beste verfügbare Antwort auf die Leiden Schwerstkranker und Sterbender. Sie helfen, dem Wunsch vieler Menschen nach einem selbstbestimmten Ende ohne Schmerzen ... näher zu kommen. (S. 216-219)

IV.

Indem ich eine Formulierung des Bundespräsidenten aufnehme und erweitere, lautet meine Schlussbilanz so: Sterbehilfe und Sterbebegleitung sind daran zu messen, was sie dazu beitragen, dass Menschen nicht durch die Hand eines anderen oder die eigene Hand, sondern an der Hand eines anderen sterben können. Die Ausstellung, die heute Abend eröffnet wird, ist auf der individuellen wie auf der gesellschaftlichen Ebene eine wichtige Hilfe bei der Erreichung dieses Ziels.