Referat bei der Tagung „Menschenwürde – Leerformel oder Leitbild?“ des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU, Landesverband Baden-Württemberg, in Mannheim

Hermann Barth

"Menschenwürde aus theologischer Sicht"

Wer sein Referat während der Saison der Fußball-Bundesliga an einem Samstagnachmittag um 15.30 Uhr beginnt, hat allen Grund, sich eines Bildes aus der Fußballsprache zu bedienen: Ich habe heute ein Heimspiel. Der VfB hat an diesem Spieltag ein Auswärtsspiel, aber ich habe in der Johanniskirche in Mannheim ein Heimspiel. Das ergibt sich schon daraus, daß ich nach Familie und Geburtsort Kurpfälzer bin, zwar von jenseits des Rheins, aber doch durch Muttersprache und Heimatgefühl tief in dieser Region verwurzelt. Aber mehr als das: Der Lindenhof und die Johanniskirche sind mir von Kindesbeinen an vertraut; mein Onkel und Taufpate wohnte mit seiner Familie viele Jahrzehnte bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr hier. Kein Wunder, daß ich der Einladung gern gefolgt bin.

Mir ist das Thema gestellt worden: „Menschenwürde aus theologischer Sicht“. Aber was kann ich Ihnen dazu noch Erleuchtendes und Weiterführendes bieten? Heute vormittag ist das „Perspektivpapier [des Landesvorstands] für eine Politik aus christlicher Verantwortung“ mit dem Titel „Menschenwürde – Leerformel oder Leitbild?“ vorgestellt worden. Fast auf den Tag genau vor einem Jahr hat der Heidelberger evangelische Theologe Professor Dr. Wilfried Härle auf Ihrer Landestagung in Freiburg  über „Menschenwürde" als "zentrales Element des christliches Menschenbildes“ referiert. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat unter Mitwirkung namhafter evangelischer Ethiker und katholischer Moraltheologen, unter anderem wiederum von Wilfried Härle, ein Grundsatzpapier zum „politischen Handeln aus christlicher Verantwortung“ erstellt und vor wenigen Monaten unter dem Titel „Im Zentrum: Menschenwürde“ veröffentlicht. Nimmt man noch hinzu, daß der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber, am vergangenen Sonntag in Würzburg seinen Bericht vor der Synode unter das Thema: "Mit Würde begabt - zur Freiheit berufen" gestellt und darin Grundlagen und Konsequenzen des Menschenwürdegedankens entfaltet hat, ist vollends klar: Das läßt sich nicht toppen. Ich kann nur einige wesentliche Gesichtspunkte unterstreichen und mich mit dem Gedanken trösten, daß in pädagogischer und didaktischer Hinsicht Wiederholung keine Schande, sondern ein Gebot ist.

Ich habe mein Referat so angelegt, daß ich Ihnen zunächst anhand der Auslegung eines biblischen Textes zeigen möchte, worauf es beim christlichen Menschenbild ankommt und was daraus für ein theologisches Verständnis der Menschenwürde folgt. In einem zweiten Teil will ich der Frage nachgehen, wie das Leitbild der Menschenwürde in einer multireligiösen und weltanschaulich pluralen Gesellschaft bewahrt werden kann. Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Leistungsfähigkeit des Menschenwürdekonzepts bei seiner Anwendung auf aktuelle ethische und politische Streitfragen und warnt vor einer Schwächung durch Überforderung. Im Programm angekündigt bin ich auch als Mitglied des Nationalen Ethikrats; darum muß es im vierten Teil speziell um die Bewahrung der Menschenwürde angesichts der Ausweitung der medizinischen, biologischen und gentechnischen Handlungsmöglichkeiten gehen.

I. Was kann die Bibel zum Verständnis der Menschenwürde beitragen?

Bei der Beantwortung dieser Frage stellt sich ein methodisches Problem: Die biblischen Texte kennen den Begriff „Menschenwürde“ nicht. Er stammt vermutlich aus der stoischen Philosophie und ist in der christlichen Theologie spätestens seit Ambrosius, der im Jahr 374 in Mailand zum Bischof geweiht wurde, in Gebrauch. Dieses methodische Problem ist nicht ungewöhnlich. Die biblischen Texte kennen eine ganze Reihe erst später in Gebrauch gekommener Begriffe nicht; als Beispiele nenne ich aus der theologischen Sprache nur „Trinität“ oder „Mission“ und aus der philosophischen Sprache „Person“ oder „Geschichte“. Das bedeutet aber keineswegs, daß sie deswegen zu der Sache, die mit den Begriffen bezeichnet wird, nichts zu sagen hätten. Methodisch ist demnach folgendermaßen vorzugehen: Wir benötigen eine vorläufige Beschreibung der Sache, die mit dem Begriff „Menschenwürde“ gemeint ist, und können dann danach fragen, in welcher Weise diese Sache in biblischen Texten vorkommt und wie sie verstanden wird. Es liegt in der Natur eines solchen Vorgehens, daß an seinem Ende Präzisierungen und Korrekturen der vorläufigen Beschreibung der Sache stehen können.

Wer mit Bezug auf einen bestimmten Menschen von „Würde“ spricht, kann zunächst das Achtung gebietende Sein meinen, das dieser Mensch aufgrund seiner Leistung oder Position besitzt. Der Auftritt eines Bundespräsidenten - so wie am vergangenen Sonntag vor der Synode der EKD - strahlt in diesem Sinn Würde aus. Wer freilich generell von „Menschenwürde“ spricht, zielt auf etwas anderes: nicht irgendeine Beschaffenheit eines Menschen, sondern das Menschsein selbst, das Achtung gebietet. Hier verdient der Mensch als Mensch, also jeder Mensch in jeder Phase seiner Entwicklung und in jeder Verfassung seines Daseins, Achtung, weil ihm eine Würde eignet, die ihm mit seinem Dasein gegeben ist und ihm weder zuerkannt noch aberkannt, sondern nur geachtet oder mißachtet werden kann. Wilfried Härle, auf den ich mich hier beziehe, hat in seinem Referat bei der letztjährigen Landestagung sehr schön und knapp in sechs Punkten angegeben, worin sich die so verstandene Menschenwürde konkretisiert, nämlich darin, daß ein Mensch

1. als Zweck und nicht als bloßes Mittel gebraucht wird,

2. als Person geachtet und nicht zum Objekt herabgewürdigt wird,

3. Selbstbestimmung üben kann und nicht völlig fremdbestimmt wird,

4. Entscheidungsfreiheit behält und nicht durch Zwangsmaßnahmen gefügig gemacht wird,
5. in der Sphäre seiner Intimität bleiben kann und nicht bloßgestellt wird und

6. als gleichberechtigt behandelt und nicht diskriminiert wird.

Wenn das die Umrisse der Sache sind, die der Begriff „Menschenwürde“ bezeichnet, können wir der Frage nachgehen, wo wir ihr in der Bibel begegnen. Die in der Geschichte der christlichen Theologie klassisch gewordene Antwort verweist auf den ersten Schöpfungsbericht:

“Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib“ (1. Mose 1,26f).

Es gilt weithin fast als selbstverständlich, „Menschenwürde“ und „Gottebenbildlichkeit“ als austauschbare Begriffe anzusehen. Aber damit verbinden sich einige schwerwiegende Probleme. Ich komme darauf zurück und wende mich jetzt einem biblischen Text zu, der in diesem Zusammenhang eher unerwartet und überraschend auftaucht, dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg:

„Das Himmelreich gleicht [oder besser: Mit dem Himmelreich verhält es sich wie mit] einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; und ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen. Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch in den Weinberg. Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Rufe die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen habe. Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein [das heißt: Bist du neidisch], weil ich so gütig bin? So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein“ (Matthäus 20,1-16)

In dieser Geschichte gibt es einen doppelten Blick auf die Arbeiter, sprich: die Menschen - den Blick auf den Lohn oder Preis, den ihre Arbeit wert ist, und den Blick auf die Achtung, die ihnen entgegengebracht wird. Beide Perspektiven haben ihr Recht, aber sie müssen sorgfältig unterschieden werden. Im Falle des Lohnes oder Preises, den die Arbeit wert ist, geht es um das, was recht und billig ist; die Arbeiter der ersten Stunde empfinden die Gleichstellung mit den später eingestellten als unbillig; der Hausherr argumentiert auf dieser Ebene damit, daß über den Lohn doch eine Verabredung getroffen worden sei. Im Blick auf die Achtung stellt der Hausherr - in seiner Güte - alle gleich.

Der doppelte Blick in diesem Gleichnis erinnert an Immanuel Kants Unterscheidung zwischen einem relativen und dem absoluten Wert oder, anders gesagt, zwischen Preis und Würde: „Im Reich der Zwecke“ - so Kant - „ hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet“ - und das ist nach Kant allein beim Menschen so -, „hat eine Würde.“ Die Frage ist allerdings: Was gibt dem Menschen diese herausgehobene Stellung? Welche Gründe hindern daran, ihn doch auf einen relativen Wert, ein bloßes Mittel zum Zweck zu reduzieren? Das Gleichnis aufnehmend und weiterführend ist zu antworten: Die Beziehung, in die sich Gott zu den Menschen setzt, sein gütiger Blick, der auf jeden Menschen fällt, gibt ihnen eine Würde, die zwar zeitweise mißachtet und verletzt werden kann, aber unverlierbar, nicht verhandelbar, durch keine gegenteilige menschliche Verabredung oder gesellschaftliche Ordnung aufhebbar ist.

In eben diesem Sinne - daß nämlich Würde ein Beziehungsbegriff sei und in der Erschaffung des Menschen zu einem Gegenüber Gottes gründe - hat man neuerdings auch den Gedanken der Gottebenbildlichkeit ausgelegt. Damit wird jedenfalls eine Fehlentwicklung korrigiert, die mit dem traditionellen Verständnis der Gottebenbildlichkeit weithin verbunden war. Sie konnte nämlich als Hinweis auf Eigenschaften oder Fähigkeiten des Menschen, namentlich Vernunft und Sprache, gedeutet werden, die ihn aus den übrigen Geschöpfen herausheben und ihn „wenig niedriger als Gott“ (Psalm 8,6) machen. Aber die Menschenwürde muß, wie wir gesehen haben, nicht auf etwas Spezielles am Menschen, sondern auf das Menschsein selbst bezogen werden. Wer sie an besonderen Eigenschaften - zum Beispiel Vernunft und Sprache - festmacht, schließt eben dadurch Wesen, bei denen diese Fähigkeiten - etwa im Falle einer schweren Behinderung - fehlen oder beeinträchtigt sind, tendenziell aus der Menschheit aus. Im übrigen hat der Ausdruck, daß Gott den Menschen als „sein Bild“ geschaffen habe, nach dem ursprünglichen Sinn des Schöpfungsberichts eine ganz spezifische Bedeutung: daß nämlich der Mensch zum Stellvertreter Gottes auf Erden eingesetzt ist und als solcher den Auftrag bekommt, über die Tiere zu herrschen. Im Lauf der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte dieses Ausdrucks haben sich dann noch andere Bedeutungen an ihn angelagert; erst sie suggerieren die Nähe zwischen Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit.


II. Wie kann das Leitbild der Menschenwürde in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft bewahrt werden?

Das Leitbild der Menschenwürde hat sich unter dem Einfluß griechischer Philosophie, des christlichen Glaubens und der europäischen Aufklärung herausgebildet. Es ist darum nicht voraussetzungslos.

Dabei können die christlichen Kirchen - so Bischof Huber am 5. November 2006 vor der Synode der EKD - "nicht für sich reklamieren, dass in ihnen der Gedanke der gleichen Menschenwürde aller stets bewusst gewesen oder widerstandslos akzeptiert worden wäre. Die Idee der Menschenwürde musste vielmehr oftmals gerade gegen den Widerstand von Theologie und Kirche durchgesetzt werden. Erst die Erfahrung massivster Menschenrechtsverletzungen im 20. Jahrhundert hat zu einer Neuorientierung geführt ... Dabei traten die Wurzeln eines Menschenbildes, das sich an Würde und Freiheit der einzelnen menschlichen Person orientiert, gerade auch im reformatorischen Denken immer deutlicher hervor."

Was passiert aber, wenn die Voraussetzungen nicht mehr oder nur noch eingeschränkt vorhanden sind? Wie kann das Leitbild der Menschenwürde dann gleichwohl bewahrt werden? Diese Frage stellt sich, in unterschiedlicher Intensität, auf mindestens drei Ebenen: im Geltungsbereich des Grundgesetzes, in der Europäischen Union und in einem globalen Kontext.

(1) Der Parlamentarische Rat hat 1948 bei den Beratungen über das spätere Grundgesetz „im Anschluß an ein Votum von Theodor Heuss die Menschenwürde noch als evidentes, nicht weiter begründungsbedürftiges Regulierungsprinzip verstehen und darum auch dezidiert auf eine bestimmte weltanschauliche Begründung der Menschenwürde verzichten“ können (so Reiner Anselm, Die Würde des gerechtfertigten Menschen, Zeitschrift für Evangelische Ethik [ZEE 43], 1999, S. 123-136, dort 123). Wie würden entsprechende Beratungen etwas mehr als ein halbes Jahrhundert später aussehen und ausgehen? Der Konsens der Verfassungsrechtler über das Verständnis der Menschenwürde ist immerhin so brüchig geworden, daß Ernst-Wolfgang Böckenförde vor drei Jahren im Blick auf eine Neukommentierung von Artikel 1 des Grundgesetzes schreiben konnte: „Die Würde des Menschen war unantastbar.“ Der Anteil der Christen an der Bevölkerung ist auf  zwei Drittel zurückgegangen, die Prägekraft des Christentums hat sich abgeschwächt. Die Wiedergewinnung der deutschen Einheit  hat den Anteil der Konfessionslosen spürbar erhöht. Die Zahl der Muslime beträgt inzwischen über drei Millionen. Ob das Grundgesetz unter den heutigen Bedingungen noch einmal so, wie wir es jetzt haben: mit diesem Artikel 1 und mit dieser Präambel, zustandekommen würde, kann man mit guten Gründen in Zweifel ziehen.

Aber das sind - Gott sei Dank - bloß Gedankenspiele. Wir haben dieses Grundgesetz, wir haben diesen Artikel 1 mit seiner - allen Neukommentierungen zum Trotz - gewichtigen Auslegungstradition, und wir haben diese Präambel, die das ganze Grundgesetz in den Horizont der „Verantwortung vor Gott“ stellt und mit dieser Formulierung - "Gott", nicht "der dreieinige Gott", auch nicht "der Vater Jesu Christi" - offen ist für eine Füllung durch unterschiedliche Religionen und Weltanschauungen. Wir haben auch einen gesellschaftlichen Konsens, daß die bestehende weltanschauliche Pluralität und die entstehende multireligiöse Situation als solche keine Veranlassung bieten, unsere Verfassung einer Revision zu unterziehen. Eine Verfassung kann und soll nicht die weltanschauliche Pluralität abbilden, sondern sie erhält ihr Profil und ihre Leistungsfähigkeit gerade dadurch, daß sie wertgebunden ist und ganz bewußt bestimmte Traditionslinien aufnimmt und sozusagen zur „Leitwährung“ macht. Von den Zuwanderern wird darum mit Recht erwartet, daß sie die Wertentscheidungen des Grundgesetzes bejahen und aktiv unterstützen.

(2) Die Europäische Union insgesamt teilt mit Deutschland im Prinzip denselben Bestand an geistigen Traditionen. Im Entwurf für einen Europäischen Verfassungsvertrag ist das auch durchaus zum Ausdruck gekommen. Gleichwohl - im einzelnen sind viele Differenzierungen nötig. Der muslimische Bevölkerungsanteil ist in einigen Ländern deutlich höher als in Deutschland. In einer Reihe von Mitgliedsstaaten ist die Säkularisierung sehr weit vorangeschritten; die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften spielen in diesen Fällen im öffentlichen Leben keine prominente Rolle; das gilt in einer spezifischen  Weise dort, wo die Laizität zur Staatsdoktrin gehört. Andere Mitgliedsstaaten, vor allem die neu hinzutretenden in Ost- und Südosteuropa, sind nur in einem relativ begrenzten Maße vom Geist der Aufklärung geprägt. Etwa in den bioethischen Debatten wird deutlich, daß nur in wenigen Mitgliedsstaaten das Leitbild der Menschenwürde so tief verwurzelt und argumentativ so stark in Anspruch genommen wird wie in Deutschland; selbst eine Nation wie Großbritannien, die uns kulturell einigermaßen nahesteht, offenbart in den Äußerungen ihrer philosophischen und naturwissenschaftlichen Vertreter eine spürbare Fremdheit gegenüber der programmatischen Orientierung an der Menschenwürde.

Trotz aller Schwierigkeiten haben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union aber noch so viel gemeinsam, daß sie sich geistig und kulturell als zusammengehörigen Raum empfinden. Das macht es auch aussichtsreich, unter der deutschen Ratspräsidentschaft den ernsthaften Versuch zu unternehmen, dem Projekt eines Europäischen Verfassungsvertrags wieder Leben einzuhauchen - am besten auf die Weise, daß sein Umfang dramatisch reduziert wird.

(3) Es ist nicht überraschend, daß die Schwierigkeiten, ein gemeinsames geistig-kulturelles Fundament zu schaffen, um so mehr zunehmen, je disparater die geistige Welt der beteiligten Völker und Regionen ist. Darum stecken wir noch ziemlich in den Anfängen, für die Weltgesellschaft gemeinsame Orientierungspunkte zu identifizieren und in Konventionen festzuschreiben. Nicht überall ist der Gedanke der Menschenwürde das gesellschaftliche Leitbild, und dort, wo er Geltung erlangt hat, wird er keineswegs in einem übereinstimmenden Sinne interpretiert. Über diesen ernüchternden Befund kann es nicht hinwegtäuschen, daß die Vereinten Nationen in ihrer frühen Phase einige gehaltvolle Konventionen, etwa zu den Menschenrechten,  geschaffen haben; sie entstammen einer Zeit, in der der europäisch-nordamerikanische Einfluß in den Vereinten Nationen dominant war. Es ist aber keineswegs ausgemacht, daß diese bis zum heutigen Tag spürbare Hegemonie im globalen Kontext von Dauer sein wird.

Eine "der Stärken des Menschenwürdebegriffs" - ich zitiere noch einmal aus Bischof Hubers Bericht vor der Synode der EKD - liegt "gerade in seiner universalen Gültigkeit und damit in seiner Begründungsoffenheit für unterschiedliche weltanschauliche Zugänge. Deshalb braucht jedoch eine christliche Interpretation nicht zurückgehalten zu werden. Im Gegenteil: Sie ist schon deshalb gefordert, weil die ihre Universalität mitbegründende Unverfügbarkeit der Menschenwürde am konsequentesten durch die Beziehung zu Gott ausgesagt wird. Der Verzicht auf eine theologische Erschließung der Menschenwürde wäre geradezu verhängnisvoll, weil die gleiche und unantastbare Menschenwürde jeder menschliche Person aus der profanen Vernunft allein nicht einsichtig gemacht werden kann. Vielmehr liegt der profanen Vernunft die Abstufung der Menschenwürde deshalb so nahe, weil sie in der empirischen Beobachtung viele Belege findet."

III. Wird das Leitbild der Menschenwürde durch Überforderung geschwächt?

Weil die Achtung und der Schutz der Menschenwürde das Eingangsportal des Grundgesetzes bilden und die auf Artikel 1 folgenden Grundrechte, wie es in seinem Absatz 3 ausdrücklich heißt, „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“ binden, hat es in der politischen und gesellschaftlichen Debatte Deutschlands Tradition, viele konkrete Forderungen - um nicht zu sagen: alle möglichen Forderungen - aus dem Schutz der Menschenwürde herzuleiten. So lese ich z.B. auch das Perspektivpapier des Landesvorstands. Inwieweit ist dieses Vorgehen stichhaltig? Welche Folgen hat es?

(1) In jüngerer Zeit sind es vor allem die Themenfelder der Sozialpolitik, der politischen Entscheidungen im Blick auf Zuwanderung, Bleiberecht und sonstige ausländerrechtliche Bestimmungen sowie der Biomedizin, auf denen der Schutz der Menschenwürde argumentativ für konkrete rechtliche und politische Forderungen in Anspruch genommen wurde. Auf das zuletzt genannte Themenfeld gehe ich ohnehin noch gesondert ein. So beschränke ich mich an dieser Stelle auf einige Hinweise zu den beiden ersten Themenfeldern. Schon am alltäglichen Sprachgebrauch zeigt sich eine offenkundige Verbindung zwischen dem Gedanken der Menschenwürde und sozialen Notlagen. Man redet z.B. von menschenunwürdigen Wohnverhältnissen oder von menschenunwürdigen Bedingungen am Arbeitsplatz. Die soziale Lage, in der sich jemand befindet, hat zweifellos - negativ oder positiv - etwas mit der Achtung seiner Würde als Mensch zu tun. Über die Wohnverhältnisse und Arbeitsbedingungen hinaus gilt das genauso für die Einkommensverhältnisse, konkret: die Situation der Armut, unter der bekanntlich besonders stark die mitbetroffenen Kinder zu leiden haben, für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt bzw. den Ausschluß von ihm, den Zugang zu einer ausreichenden Bildung oder die Teilhabe an den Leistungen des Gesundheitssystems. Auch beim Umgang mit der Zuwanderung liegt es auf der Hand, daß und in welcher Weise dabei die Würde von Menschen berührt ist oder jedenfalls berührt sein kann. Für den Gedanken der Menschenwürde ist es ja gerade charakteristisch, daß sie nicht bestimmten - ethnisch oder religiös oder sonstwie definierten - Gruppen vorbehalten werden darf, sondern ohne Vorbehalte und Einschränkungen auf die Einbeziehung aller Menschen zielt, also nicht ein Privileg von wenigen, sondern ein universales Prinzip ist. Die Bilder von den Booten und Schiffen voller Menschen, die über die Mittelmeerküsten der Europäischen Union Zugang zu besseren Lebensbedingungen suchen, appellieren im Ergebnis an unser elementares Empfinden, daß dies Menschen sind wie wir, ausgestattet mit gleicher Würde, und daß sie deshalb nicht - wie man dann gern formuliert - von der „Festung Europa“ rigoros ferngehalten werden können.

(2) So viel steht fest: Notlagen wie die gerade geschilderten haben es definitiv mit der Würde der betroffenen Menschen zu tun. Aber man muß die Frage anschließen, ob sich daraus auch konkrete rechtliche und politische Forderungen ableiten lassen. Die Antwort heißt: im Prinzip ja, aber nicht direkt und unmittelbar, sondern nur über eine Reihe von vermittelnden Zwischenschritten, und diese Zwischenschritte bringen es mit sich, daß man - jedenfalls in der Regel - am Ende nicht bei eindeutigen Schlußfolgerungen landet. Das ist eigentlich immer so, wenn man von allgemeinen Normen und Maßstäben zu konkreten Handlungsempfehlungen voranschreiten will. Nicht daß die Handlungsempfehlung beliebig wird. Wenn eine Norm hinreichend leistungsfähig ist, läßt sich ein bestimmter Korridor von Handlungsempfehlungen angeben, und jeder Korridor hat Grenzen; aber Eindeutigkeit wird eben im allgemeinen nicht erzielt. Wer beispielsweise danach fragt, was aus dem Leitbild der Menschenwürde für die Fragen der Zuwanderung folgt, kommt um den Zwischenschritt nicht herum, über die gesellschaftlichen Folgen einer zahlenmäßig anwachsenden Zuwanderung nachzudenken. Wo dies aber geschieht, werden unterschiedliche Szenarien und Einschätzungen im Spiel sein, und demgemäß vielfältig sind die Schlußfolgerungen zum Maß der sozial verträglichen Zuwanderung.

(3)  So kann kein Zweifel sein: Wer das Leitbild der Menschenwürde zur alleinigen oder vorrangigen Grundlage für konkrete rechtliche und politische Folgerungen macht und auf diese Weise überfordert, beschädigt und schwächt dieses Leitbild. Denn es bleibt ja nicht aus, daß diejenigen, die sich die Mühe machen, die unerläßlichen Zwischenschritte der Urteilsbildung zu gehen, und auf diesem Wege zu differenzierteren Ergebnissen gelangen, den Konflikt nicht allein dem Umgang mit dem Leitbild der Menschenwürde zurechnen, sondern auch diesem Leitbild selbst. Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen, daß dabei der Eindruck entsteht, der Gedanke der Menschenwürde habe keinen klar umrissenen Gehalt und sei wie Knetmasse formbar. Ein solches Resultat wäre aber in höchstem Maße schädlich. Denn wir brauchen wie in den Anfangsjahren der Nachkriegsrepublik so auch im 21. Jahrhundert das Leitbild der Menschenwürde als regulatives Prinzip der Verfassung und der gesamten Rechtsordnung.

IV. Was leistet das Leitbild der Menschenwürde in der aktuellen bioethischen Debatte?

Daß das Leitbild der Menschenwürde gerade bei den ethischen Fragen, die sich am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens stellen, eine herausragende Rolle spielt, kann in keiner Weise verwundern. Denn es geht in diesen Fällen nicht allein um Konkretionen der Menschenwürde, wie ich sie im ersten Teil meines Referats im Anschluß an Wilfried Härle dargestellt habe, sondern um Sein oder Nichtsein, um das Leben selbst als die physische Voraussetzung der Menschenwürde. Die zentrale bioethische Frage lautet: Gilt das Leben eines Menschen auch an seinem Anfang und seinem Ende als unantastbar, oder werden im Blick auf die Schutzwürdigkeit Abstufungen vorgenommen?

(1) Im Blick auf den Anfang des menschlichen Lebens haben wir es mit dieser Fragestellung schon seit langem im Rahmen der Abtreibungsdebatte zu tun. Mit den Techniken, die für die In-Vitro-Fertilisation entwickelt wurden, ist aber der Zugriff auf menschliche Embryonen außerhalb des Mutterleibes möglich geworden. In der Folge sind Status und Schutz menschlicher Embryonen zu einem der umkämpftesten bioethischen Themen geworden.

Im wesentlichen unstrittig ist es, daß der geborene Mensch von Anfang an Träger des Schutzes von Menschenwürde und Lebensrecht ist. Vom Zeitpunkt der Geburt ist dann aber zeitlich zurückzufragen: Ist dieses Menschenkind vor der Geburt ein anderes Wesen als nach der Geburt? Ist es vor der Geburt weniger schutzwürdig und schutzbedürftig als unmittelbar nach der Geburt? Und zu welchem Zeitpunkt hat das Leben dieses menschlichen Wesens, das, wie es so schön heißt, mit der Geburt das Licht der Welt erblickt - also schon mit der Schwangerschaft auf der Welt ist und mindestens zur Mutter und den ihr nahestehenden Personen in einer Beziehung steht -, begonnen? Wenn ich diesen drei Fragerichtungen nachgehe, dann kann ich mich der Folgerung nicht entziehen: Jeder neugeborene Mensch war zuerst menschlicher Embryo; in der Entwicklung zwischen dem embryonalen Stadium und der Geburt gibt es zweifellos viele Zäsuren, die über Fortgang oder Abbruch dieser Entwicklung entscheiden; aber es gibt keine Zäsur, an der nach der Kernverschmelzung dieses menschliche Wesen erst das wird, was mit der Geburt ans Licht der Welt kommt.

Aus dieser Beschreibung geht auch hervor, was die Spätabtreibungen zu einem so besonders bedrängenden Problem macht. Bei Spätabtreibungen, die seit der Neufassung der gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs im Jahr 1995 unter bestimmten Voraussetzungen im Rahmen der medizinischen Indikation vorgenommen werden können, handelt es sich um Abbrüche, die nach der 20. Schwangerschaftswoche erfolgen. Ob die Abtreibung in der frühen oder einer späten Phase der Schwangerschaft angestrebt wird - das Leitbild der Menschenwürde schärft in jedem Fall ein: Die Achtung des ungeborenen Kindes hängt nicht an seinen Eigenschaften; sie verringert sich nicht, wenn das Kind gesundheitlich geschädigt ist; eine nachgewiesene oder vermutete gesundheitliche Schädigung kann ethisch eine Abtreibung nicht rechtfertigen. Im Falle der Spätabtreibung kommt aber noch ein besonderer Gesichtspunkt hinzu. Denn etwa mit der 22. oder 23. Schwangerschaftswoche wird der Zeitpunkt erreicht, zu dem der Fötus auch außerhalb des Mutterleibs lebensfähig sein kann. Je weiter die Schwangerschaft bei einer Spätabtreibung bereits vorangeschritten ist, desto eher kann der Fall eintreten, daß das Kind im Zuge der Abtreibung lebensfähig das Licht der Welt erblickt oder daß - um genau seine solche schreckliche Situation zu vermeiden - das Kind vor der Einleitung der Abtreibung im Mutterleib getötet wird. Was ist da eigentlich noch der moralische Unterschied zwischen einem Schwangerschaftsabbruch und der Tötung eines Kindes, bei dem erst mit oder nach der Geburt schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen festgestellt werden? Ich sehe eine Gefahr, daß die Praxis der Spätabtreibung die bisher nahezu unbestrittene Überzeugung untergräbt, daß jedenfalls das geborene Kind uneingeschränkten Schutz genießt. Das ist nicht der einzige, aber ein besonders gewichtiger Grund, die Anstrengungen fortzusetzen, daß mit Hilfe von Änderungen der gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs und von ergänzenden weiteren Maßnahmen die Zahl der Spätabtreibungen zumindest deutlich verringert wird.

Im Vordergrund der Diskussion über den Embryonenschutz stehen freilich seit geraumer Zeit nicht die Fragen der Abtreibung, sondern die neuen Möglichkeiten der Verfügung über und Nutzung von menschlichen Embryonen. Ich habe schon dargelegt, daß und warum ich den menschlichen Embryo von Anfang an unter den Schutz der Menschenwürde und des uneingeschränkten Lebensrechts stelle: Er entwickelt sich, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, nicht zum Menschen, sondern immer schon als Mensch. Oder anders gesagt: Der Embryo wird nicht erst im Lauf seiner Entwicklung Mensch, er wird vielmehr immer besser wahrnehmbar als das, was er ist, nämlich Mensch. Die Achtung der Menschenwürde aber gebietet es, den Menschen stets als Zweck an sich und niemals als bloßes Mittel zu gebrauchen. Wer diese Sicht teilt, kann, ohne in einen gravierenden Selbstwiderspruch zu geraten, keinem Forschungsvorhaben zustimmen, das auf den Verbrauch menschlicher Embryonen angewiesen ist. Diese Folgerung sieht sich freilich dem schwerwiegenden Einwand gegenüber, dadurch blieben wichtige Möglichkeiten ungenutzt, die Not und das Leid von Menschen, wie im Falle der Präimplantationsdiagnostik, schon jetzt zu mindern oder, wie im Falle der Stammzellforschung und des sogenannten therapeutischen Klonens, durch die Entwicklung neuer medizinischer Behandlungsmöglichkeiten eventuell in Zukunft zu mindern. Ist denn, so wird kritisch gefragt, neben dem Tötungsverbot und gegen es abzuwägen, nicht auch das ethische Gebot des Helfens und Heilens zur Geltung zu bringen? Meine Antwort auf diesen Einwand heißt: Außer im Falle der Notwehr bzw. der Nothilfe, also der Abwehr einer unmittelbaren, rechtswidrigen Bedrohung des eigenen Lebens oder des Lebens eines anderen, darf das Tötungsverbot nicht eingeschränkt und durch eine Abwägung gegen andere Normen und Ziele relativiert werden. Was ich freilich zugestehe, ist, daß man, von welchem Ausgangspunkt auch immer, in ein Dilemma gerät. Wer das Tötungsverbot kompromißlos gelten lassen will, gerät in Widerstreit mit den moralischen Impulsen der Nächstenliebe. Wer sich umgekehrt ganz und gar von den Impulsen des Mitleids bestimmen läßt, steht in der Gefahr, das Tötungsverbot klein zu reden oder zu verdrängen. Von unterschiedlichen Standpunkten aus wird das Dilemma unterschiedlich aufgelöst.

Aus aktuellen Gründen will ich das daran veranschaulichen, wie wir in Deutschland mit der Stammzellforschung umgehen. Der Deutsche Bundestag hat vor knapp fünf Jahren, am 30. Januar 2002, dafür eine gesetzliche Regelung getroffen.

Danach bleibt in Deutschland zum Schutz der Embryonen die Herstellung humaner embryonaler Stammzelllinien verboten. Entsprechend ist auch der Import solcher Stammzelllinien grundsätzlich nicht gestattet. Ein kleines Fenster für Stammzellforschung in Deutschland wurde jedoch dadurch geöffnet, daß unter bestimmten Voraussetzungen der Import von Stammzelllinien genehmigt werden kann; insbesondere soll eine Stichtagsregelung dafür sorgen, daß keine menschlichen Embryonen eigens zur Lieferung von Stammzelllinien nach Deutschland verbraucht werden.

Diese Regelung entspricht nicht in jeder Hinsicht der "reinen Lehre" des Embryonenschutzes, sondern verdankt sich der Suche nach einem Kompromiß oder, besser, einem Ausgleich zwischen den gegensätzlichen ethischen Überzeugungen, die zu diesem Thema in Gesellschaft und Politik vertreten werden. Der Rat der EKD hat in seiner Erklärung vom 22. Februar 2002 auf der einen Seite festgehalten, daß auch ein Import von Stammzellen, "der strengen Bedingungen unterworfen ist, sich von dem Grundsatz entfernt, das Lebensrecht und den Lebensschutz menschlicher Embryonen von Anfang an zu gewährleisten". Auf der anderen Seite hat er zum Ausdruck gebracht, daß er den vom Bundestag unternommenen Versuch "respektiert", eine Regelung zu finden, mit der "ethische Konflikte in der Rechtsordnung befriedet werden können". Gestern hat sich nun die Deutsche Forschungsgemeinschaft in einer umfangreichen Ausarbeitung zu den "Möglichkeiten und Perspektiven" der Stammzellforschung in Deutschland geäußert; die Zeitungen von heute berichten darüber. Die politische Stoßrichtung geht dahin, die Stichtagsregelung vollständig aufzuheben. Der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Huber, hat dem in einer Stellungnahme nachdrücklich widersprochen: Mit einem solchen Schritt "würde der Geist der vom Deutschen Bundestag 2002 beschlossenen gesetzlichen Regelung verraten." Der Vorschlag - so Huber - "trifft darum auf meinen entschiedenen Widerspruch." Und dann fügt er hinzu: Wer dem Geist und der Logik der geltenden gesetzlichen Regelung verpflichtet ist, "verfügt gleichwohl über Spielräume, zu einer Lösung für die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgewiesenen Probleme [insbesondere die Kontaminierung der in Deutschland bisher verfügbaren Stammzelllinien durch tierische Produkte und Viren] zu gelangen. Der vom Bundestag angestrebte Ausgleich ... bliebe gewahrt, wenn der Stichtag neu festgesetzt würde. Dabei müßte es sich, wie auch schon 2002, um einen zurückliegenden Stichtag ... handeln. Aus evangelischer Sicht würden damit zwar die grundlegenden ethischen Bedenken gegen den Verbrauch menschlicher Embryonen bei der Gewinnung von humanen embryonalen Stammzellen nicht ausgeräumt. Aber ein solcher Weg ließe sich - wie schon ... 2002 ... - respektieren als ein ernsthafter Versuch, ... ethische Konflikte zu befrieden."

(2) Auch am Ende des menschlichen Lebens haben wir es neuerdings - wieder - mit einigen Konstellationen zu tun, in denen die physische Voraussetzung der Menschenwürde, nämlich das Leben selbst, zur Disposition gestellt wird. Sie werden häufig als "aktive Sterbehilfe" verstanden und bezeichnet. Die Erinnerung an das verbrecherische sogenannte Euthanasie-Programm der Nazizeit hat uns lange davor gewarnt und geschützt, die schiefe Ebene der Tötung eines sterbenskranken oder lebensmüden Menschen zu betreten. Aber die Erinnerung scheint allmählich zu verblassen, und andere Länder, die nicht in vergleichbarer Weise "gebrannte Kinder" sind - darunter auch Nachbarländer wie die Schweiz, die Niederlande und Belgien -, haben die Tür zur "aktiven Sterbehilfe" auf die eine oder andere Weise bereits geöffnet. Dabei ist der Begriff der "aktiven Sterbehilfe" sowohl unscharf als auch irreführend: unscharf, weil er Handlungsweisen pauschal zusammenfaßt, die besser klar voneinander abgegrenzt werden, irreführend, weil er mit dem Wort "Hilfe" nur positive Assoziationen hervorruft und die ethischen Probleme verschleiert. Mindestens drei Handlungsweisen sogenannter aktiver Sterbehilfe sind derzeit im Gespräch und voneinander zu unterscheiden: die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung - so etwa durch die Schweizer Sterbehilfeorganisation "Dignitas" -, die Tötung auf Verlangen eines sterbenskranken oder lebensmüden Menschen - so etwa im Rahmen der in den Niederlanden und in Belgien dafür geschaffenen Regelungen - und schließlich die Tötung ohne Anhalt an einer entsprechenden Willensäußerung - so als Grenzfälle in der niederländischen und belgischen Praxis und, wie auch aus unserem Land hinreichend bekannt, als angeblich vom Mitleid motivierte, aber gleichwohl strafbare Handlungen von ärztlichem und pflegerischem Personal. Ich kann jetzt auf dieses Thema nicht im einzelnen eingehen. Es muß genügen, summarisch festzustellen: Das Tötungsverbot schließt alle drei Handlungsweisen, auch die Beihilfe zur Selbsttötung, kategorisch aus; die Tötung ohne Anhalt an einer Willensäußerung steht ohnehin in einem flagranten Gegensatz zur Achtung vor der Selbstbestimmung als einem elementaren Ausdruck der Menschenwürde; im Falle des ärztlichen Handelns kommt hinzu, daß die Mitwirkung an einer Selbsttötung und erst recht an einer Tötung auf Verlangen in eine nicht aufhebbare Spannung zum ärztlichen Auftrag führen. Ich verweise auf die Mitte Juli veröffentlichte Stellungnahme des Nationalen Ethikrats "Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende". Sie bietet ausführliche Begründungen dieser dort mit deutlicher Mehrheit vertretenen Position. Allerdings enthält sie auch Voten zugunsten der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen. Der Nationale Ethikrat ist ein plural und kontrovers zusammengesetztes Gremium, und im Blick auf die Veröffentlichung von Stellungnahmen hat sich in ihm die jedenfalls aus meiner Sicht allzu simple Auffassung durchgesetzt, nicht die Mehrheitsverhältnisse, sondern die Argumente in den Vordergrund zu stellen und sprechen zu lassen.

Auf zwei Fragen, bei denen am Ende des menschlichen Lebens die Achtung der Menschenwürde eine wichtige Rolle spielt, will ich noch kurz eingehen: zunächst die Anforderungen an die Qualität der medizinischen und pflegerischen Versorgung, dann die Bedeutung von Patientenverfügungen.

Zur Achtung der Menschenwürde gehört es unabdingbar hinzu, daß ein Mensch als Person respektiert und nicht wie ein Objekt behandelt wird. Dabei spielt es keine Rolle, darf es keine Rolle spielen, in welcher Verfassung dieser Mensch ist: ob gesund oder krank, leistungsfähig oder hilflos, mitten im Leben stehend oder dem Tode nahe; die Achtung als Person gebührt dem Menschen unter allen Umständen. Dies hat unmittelbare Konsequenzen für die medizinische und pflegerische Versorgung. Menschenwürdig erfolgt sie nur dann, wenn einem Menschen - jedenfalls ohne sein Einverständnis - keine medizinisch oder pflegerisch benötigte Behandlung und Fürsorge vorenthalten wird. Die Achtung der Menschenwürde verbietet es, an irgendeinem Punkt zu sagen, dies oder das lohne sich nicht mehr oder darauf komme es in dem gegebenen Krankheitsstadium nicht mehr an. Ich beteilige mich nicht an der verbreiteten Klage über die Zustände in Pflegeeinrichtungen; den Kritikern möchte ich manchmal sagen, sie sollten erst einmal die Situation der Pflegeberufe aus eigener Anschauung kennenlernen; aber ich verkenne auch nicht die bestehenden Defizite in der stationären und ambulanten Pflege und teile die Sicht, daß hier Qualitätssteigerungen nötig und möglich sind. In diesen Zusammenhang gehört es auch, daß weitere Anstrengungen erforderlich sind, die palliativmedizinische Versorgung auszubauen und die Hospizarbeit zu stärken, sowohl was die segensreiche Arbeit in stationären Hospizen als auch was die ambulanten Hospizdienste angeht. Daß viele Menschen Angst vor der Situation schwerer Pflegebedürftigkeit haben und Sympathien entwickeln für die Möglichkeit des assistierten Suizids oder der Tötung auf Verlangen, hat auch etwas mit der Situation der pflegerischen Betreuung am Ende des Lebens zu tun.

Zu den Ängsten im Blick auf das Ende des Lebens trägt auch der Eindruck bei, es gebe in medizinisch aussichtsloser Situation und selbst in der Sterbephase zu viel sinnlose Anwendung des gesamten Arsenals der medizinischen Apparate und Behandlungsstrategien und zu wenig Bereitschaft zur Zurückhaltung bei ihrem Gebrauch. Hier kommt die Patientenverfügung ins Spiel. Sie dient der Achtung der Menschenwürde, indem sie ein Instrument bereitstellt, mit dem wir unsre Selbstbestimmung auch dann zur Geltung bringen können, wenn wir zu einer bewußten Willensäußerung nicht mehr in der Lage sind. Die Wertschätzung der Patientenverfügung kommt unter anderem darin zum Ausdruck, daß die Kirchen seit über sieben Jahren ein eigenes Formular, verbunden mit einer Handreichung, anbieten und davon bereits mehr als 1,5 Mio. Exemplare abgegeben haben. Die Wertschätzung zeigt sich aber auch darin, daß es juristische und politische Bemühungen gibt, die Stellung und Verbindlichkeit der Patientenverfügung zu stärken. Ich begrüße diese Entwicklung ausdrücklich. Dabei sollte man sich allerdings zwei Punkte klarmachen: Nur in relativ wenigen Fällen läßt sich eine Patientenverfügung im vorhinein so abfassen, daß sie in der konkret eintretenden Situation völlig eindeutig ist; in der Regel ist sie auslegungsbedürftig, und für die Auslegung ist das Gespräch zwischen Angehörigen, Ärzten, Pflegepersonal, Seelsorger und gegebenenfalls dem Betreuer oder Bevollmächtigten nötig und hilfreich. Der zweite Punkt betrifft die Rolle des gerade erwähnten Bevollmächtigten: Weil, wie gesagt, eine Patientenverfügung die konkret eintretende Situation nur eingeschränkt voraussehen kann, empfiehlt es sich in jedem Fall, die Patientenverfügung mit einer Vorsorgevollmacht, also der Benennung eines oder einer Bevollmächtigten, zu verknüpfen. Auf diese Weise ist in dem Gespräch über den Willen des nicht mehr äußerungsfähigen Menschen eine Person beteiligt, die sein besonderes Vertrauen genießt und mit allen Entscheidungsvollmachten ausgestattet ist.

Ich habe, sehr geehrte Damen und Herren, Ihre Geduld stark strapaziert. Ich will nicht so weit gehen, in der Überlänge von Referaten eine Verletzung der Menschenwürde der Zuhörerinnen und Zuhörer zu sehen. Das wäre weniger Schwächung durch Überforderung als vielmehr Schwächung durch Banalisierung. Aber angesichts der Überlänge, die ich Ihnen zugemutet habe, ist es mir jedenfalls ein aufrichtiges Bedürfnis, Ihnen für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit zu danken.