„Gotteshäuser als Orte der Religiosität und Spiritualität“ - Kurzvortrag bei der Informationsveranstaltung zur Restaurierung der Bethlehemkirche in der Bethlehemkirche zu Hannover-Linden

Hermann Barth

Sehr geehrte Damen und Herren!

Die Christen haben Kirchen, die Juden Synagogen, die Muslime Moscheen, die Anhänger des Buddhismus und des Shintoismus Tempel oder Schreine und so fort. Alle Religionen kennen so etwas wie heilige Orte oder Orte des Gebets oder Orte, an denen sich die Gläubigen versammeln. Selbst Ungläubige - oder sagen wir vielleicht besser: Nicht-Glaubende - können ein Gespür für die eigentümliche Aura sakraler Räume haben oder entwickeln; denn diese Räume besitzen eine Ausstrahlung, von der man auch dann in den Bann geschlagen wird, wenn einem der Kirchenraum als Ort des Zwiegesprächs mit Gott nicht vertraut ist. In der Unterschiedlichkeit der Begriffe spiegelt sich die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Vorstellungs- oder Glaubenswelt. Das gilt auch für den Begriff "Gotteshaus"

Mit ihm verbindet sich für mich eine Geschichte, an die mein Vater immer wieder einmal erinnerte  und die mich als Heranwachsenden ungemein beeindruckte. Sie bezieht sich auf Vorgänge am 9. und 10. November 1938, also in der sogenannten Reichskristall- oder besser Reichspogromnacht, als in der Zeit der Naziherrschaft zum ersten Mal in organisierter Form jüdisches Eigentum und jüdische Mitbürger angegriffen und viele Synagogen verwüstet oder niedergebrannt wurden. Mutigen Widerstand gegen diese inszenierten Übergriffe gab es so gut wie gar nicht, mutige Worte immerhin einige. Und einem solchen mutigen Widerspruch galt die Erinnerung meines Vaters. In dem Dorf, das dem Ort, an dem ich aufwuchs, benachbart war, wagte es nämlich der evangelische Pfarrer, am Vormittag des 10. November im Religionsunterricht Folgendes zu sagen: "Dass heute nacht die Synagoge angezündet wurde, ist ein Unrecht. Denn auch sie ist ein Gotteshaus." Mit anderen Worten: Ein Gotteshaus ist tabu. Das heißt natürlich nicht: Übergriffe auf andere Ziele sind weniger schlimm. Vielmehr: Was jüdischen Wohnungen, Geschäften und Menschen geschah, war ja schon schlimm genug. Aber wo kommen wir hin, wenn nicht einmal ein Gotteshaus verschont wird? Es gibt Orte und Räume, an denen vergreift man sich in einer zivilisierten Gesellschaft einfach nicht, die haben etwas Unantastbares. Dies immer wieder einzuschärfen tut auch heute not. Wir leben in einem Land, in dem die Anschläge auf jüdische und muslimische Gebetsstätten glücklicherweise selten geworden, jedoch nicht ausgerottet sind. Und vor unserer Haustür, nämlich auf dem Balkan, zuletzt im Kosovo, führten ethnische Kämpfe immer wieder zu gezielten Angriffen auf die Kirchen bzw. die Moscheen – um dem Gegner gewissermaßen zu signalisieren: Wir schrecken vor nichts zurück. Das Nachdenken über Gotteshäuser hat sehr aktuelle Bezüge.

In der jüdischen und christlichen Bibel begegnet uns ein "Gotteshaus" erstmals in jener Erzählung aus dem 1. Buch Mose, in der Jakob von der Himmelsleiter träumt und, als er erwacht, einen Stein zum Gedenken an die ihm zuteilgewordene Erscheinung Gottes errichtet (1. Mose 28,11-19a). Jakob war auf der Flucht vor der Rache seines Bruders Esau

und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. Und ihm träumte, siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der Herr stand oben darauf und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden ..., und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden ... Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein ... und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf und nannte die Stätte Bethel [das ist: Haus Gottes].

Es sind manche sehr altertümlichen Vorstellungen, die diese Erzählung durchziehen – bis hin zu dem Öl, das über das Steinmal gegossen wird. Aber wir Heutigen sollten uns hüten, hochmütig auf die angebliche Naivität früherer Zeiten herabzuschauen. Wenn es darum geht, das Unsagbare auszusagen, sind uns diese alten Texte immer noch überlegen. Drei Gedanken können wir für unser Thema mitnehmen:

Diese biblische Geschichte rechnet damit, dass es Orte gibt, an denen wir dichter dran sind an Gott als an anderen Orten – Orte, an denen der Himmel gewissermaßen die Erde berührt. Wohlgemerkt: ein irdischer Ort, nicht der Himmel auf Erden, aber immerhin die "Pforte des Himmels". Die Geschichte nennt das selbst die Begegnung des Menschen mit dem Heiligen.

Wo immer der Mensch dem Heiligen begegnet, löst das Furcht aus: nicht das Zittern vor dem Big Brother, sondern die Ehrfurcht vor dem Erhabenen. Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto hat das im 20. Jahrhundert die Begegnung mit dem tremendum et fascinosum, also mit dem, das uns erbeben lässt und fasziniert, genannt. Davon muss auch in unseren Kirchen und Gottesdiensten etwas spürbar werden.

Wer solche Erfahrungen macht, will der Erinnerung daran Haftpunkte geben. Jakob richtet den Stein auf und gibt dem Ort einen neuen Namen. Die der Bethlehemkirche ihren Namen gegeben haben, wollten damit ja auch an einen Ort, den Geburtsort Jesu, erinnern, in dem der Himmel die Erde in einer noch nicht dagewesenen Weise berührt: "Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns" (Johannes 1,14).

Das alte Israel – so viel hat der Blick auf eine der Jakobgeschichten gezeigt – hatte einen Sinn für heilige Orte und Räume. Aber was folgt daraus? Geht den Menschen etwas Entscheidendes ab, wenn sie kein Verhältnis zum Heiligen gewinnen? Und mehr noch: Brauchen Christen heilige Räume? Ich beginne mit zwei biographischen Erinnerungen.

Meine Kindheit und Jugend habe ich in einem pfälzischen Dorf zugebracht. Wie die Pfalz insgesamt hat es eine bewegte Territorialgeschichte durchgemacht. Die Herrschaften  wechselten häufig und mit ihnen die Bevorzugung der einen oder der anderen christlichen Konfession. 1723 wurde den Katholiken das alleinige Recht an der Kirche und den Pfarrgütern zugesprochen. Die protestantische Mehrheit des Dorfes wich für ihre Gottesdienste in eine Scheune aus. Über diese Scheunenkirche heißt es in der Ortsgeschichte: Die ganze Einrichtung bestand zunächst aus "einer Notkanzel und ein paar Bänken. Aber die dünnen Lehmwände und das einfach gedeckte Dach schützten die Gemeinde nicht genug vor Wind und Wetter, so dass z.B. im Winter der Wind den Schnee durch das Dach wehte ... 1823 wurde ... der gottesdienstliche Raum durch eine Zwischenwand von der Scheune des Nachbarn getrennt. An dieser Wand wurde eine Empore angebracht und diese mit einer kleinen Orgel versehen, die man gebraucht ... erworben hatte. Schließlich gab ein kleines stumpfes Türmchen auf dem Dach dem Bau auch nach außen das Aussehen eines Kirchleins. Aber man sehnte den Tag herbei, an dem der Gemeinde wieder ein würdiges Gotteshaus zur Verfügung stehen würde." 1834 war das dann der Fall. Die Darstellung in der Ortsgeschichte gibt eine Anschauung davon, unter wie kümmerlichen Umständen die Gemeinde über viele Jahrzehnte ihre Gottesdienste gefeiert hat. So wenig braucht es für einen heiligen Raum! Auch eine zugige, armselige Scheune kann die Funktion eines heiligen Raums übernehmen. Aber zugleich wird deutlich, dass man die kümmerlichen Verhältnisse als unangemessen empfand. Ein heiliger Raum sollte mehr sein als eine Scheune mit ein paar Bänken. Die Bevölkerung des Dorfes bestand aus einfachen Leuten. Die beschriebenen Empfindungen zu einem heiligen Raum sind also nicht eine Frage des kultivierten Geschmacks, sondern Ausdruck eines elementaren Gefühls.

Die andere Erinnerung. Als Theologiestudent habe ich Mitte und Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts schneidig und kompromisslos für multifunktionale Kirchenräume gefochten. Was sei das für eine Verschwendung, beim Neubau von Gemeindezentren einen Kirchenraum vorzusehen, der den allergrößten Teil der Woche unbenutzt bleibt! Von dieser Verirrung wurde ich später gründlich geheilt. Meine Eltern lebten im Ruhestand in einer Gemeinde, deren Gemeindezentrum genau so multifunktional angelegt ist, wie ich es in meinen unreifen Jahren mit Nachdruck gefordert hatte. Jedes Mal, wenn ich meine Eltern am Sonntag besuchte und mit ihnen zum Gottesdienst ging, empfand ich den Raum als ausgesprochen defizitär: ohne Inspiration, ohne Andacht, ohne geistliches Aroma. Es kostete mich Anstrengung, gottesdienstliche Gefühle zu entwickeln. Da stimmte etwas nicht: ordinäres Fensterglas, Stühle wie beim Gemeindefest, eine Beleuchtung wie in einem Vortragssaal. Mit Beschämung und Erschrecken dachte ich an meine eigenen Irrtümer zurück, die freilich nicht allein die meinigen waren, sondern dem Geist der Zeit entsprachen. Heute denkt man anders darüber. Der Protestantismus beginnt, wieder ein Gefühl für den heiligen Raum zu entwickeln. Ja, wir brauchen heilige Räume. Wir können uns zur Not auch anders behelfen. Aber wir  spüren gerade dann, dass uns etwas fehlt.

In jüngerer Zeit gibt es immer wieder Erfahrungen, die auf ein wiedererwachtes Interesse an heiligen Räumen hinweisen. Ich beschränke mich exemplarisch auf die Vorgänge, die im vergangenen Jahrzehnt mehrfach im Zusammenhang von Unglücksfällen, Schreckenserfahrungen und Krieg zu beobachten waren. Ich denke an das ICE-Unglück von Eschede im Jahr 1998, natürlich auch an den Schock des 11. September 2001, hier in Deutschland ebenso wie in den USA, den Amoklauf eines Todesschützen im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt am 26. April 2002, zuletzt die Tsunami-Katastrophe am Jahresende 2004. Immer war es so, dass unter dem unmittelbaren Eindruck der Katastrophe, aber nicht minder anderswo Menschen einen Ort brauchten und dann auch aufsuchten, an dem sie ihren Gefühlen der Erschütterung, der Klage und Anklage, der Sehnsucht nach einem Hoffnungsschimmer Ausdruck verleihen konnten. Als solche Orte erwiesen sich wieder und wieder die Kirchen, also die in unserer Kultur vom Christentum geschaffenen und gepflegten heiligen Räume. Dass die Kirchenräume, aber ebenso die in ihnen gefeierten Gottesdienste, die dort begangenen Rituale und die bei diesen Gelegenheiten verwendeten überlieferten Texte zu Orten der Zuflucht, des Trostes und Ermutigung wurden, gilt im übrigen nicht nur für die dem christlichen Glauben verbundenen Menschen, sondern auch - und vielleicht noch mehr - für die kirchenfremden  oder, wie vor knapp 100 Jahren der Soziologe Max Weber sie nannte, die "religiös unmusikalischen" Menschen.

In den Medien ist diese Erfahrung häufig berichtet und reflektiert worden. Als Beispiel seien einige Sätze aus der Meldung einer Nachrichtenagentur vom 1. Mai 2002, also wenige Tage nach dem Massaker in Erfurt, zitiert:

Die Erfurter Kirchen, so heißt es dort, erleben "nach den Todesschüssen den größten Zustrom an jungen Menschen seit der Wendezeit. Dabei ist für viele die Atmosphäre eines Kirchenraumes unübersehbar eine neue Erfahrung ... Als Beweggründe nennen sie vor allem die Stille des Ortes, die ihnen angesichts des grausamen Geschehens wichtig ist. Hier könne man selbst zur Besinnung kommen ... 'Wo sonst sollen wir mit unseren Gefühlen hin?', sagt eine Lehrerin, die eine Gruppe jüngerer Schülerinnen und Schüler begleitet."

Es ist vor allem der Satz der Lehrerin, der sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat: "Wo sonst sollen wir mit unseren Gefühlen hin?" Das ist in kürzest möglicher, aber zugleich intensiv verdichteter Form das treibende Motiv für die Wiederentdeckung heiliger Räume. Auf der Einladung für heute abend stehen einige gewichtige Sätze, mit denen ich schließen will:

"Kirchen sind vor allem Orte der Einkehr und des Gebets. Zugleich gewinnen Sakralbauten als Stätten der persönlichen und kollektiven Erinnerung und des Kunsterlebens verstärkt an Bedeutung. So sind Kirchen ein Kulturgut, für dessen Nutzung und Erhaltung ein gemeinsames gesellschaftliches Engagement erforderlich ist."