Laudatio für Klaus-Peter Hertzsch aus Anlass der Verleihung der Martin-Luther-Medaille der Evangelischen Kirche in Deutschland, Berlin

Katrin Göring-Eckardt

Lieber Klaus-Peter Hertzsch, sehr verehrter Herr Professor, liebe Annemarie Hertzsch

Außer den Joseph haben sie alles gespielt, meine beiden Söhne. Es begann mit der Rolle des stummen Engels, das ist 16 Jahre her und mit drei konnte man die bekommen, wenn man einigermaßen fit war. Danach musste es aufwärts gehen. Sprechender Engel kam in der Krippenspielshierarchie: Das Wort Holdselige ist für einen in der ersten Klasse nicht gerade leicht, aber der eine Satz, mit der Holdseligen kam dann, wie im Schlaf. Hirte und König ging es weiter, dankbare Rollen, wegen der Verkleidung. Und Johann, mein zweiter, der kleine, trat mit sieben durch den Vorhang auf die Kanzel, aufs Fußbänkchen mit der Kerze in der Hand, den Lichtknopf an und dann war die Kirche ganz, ganz still. Der Knirps sagte der etwas erschrockenen Gemeinde sehr laut und inbrünstig etwas an: Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige euch große Freude......Ich war auch erschrocken und dann gerührt, wie man das eben so ist, als Mutter. Von dem Tag an nannten sie ihn wohl den „kleinen Pfarrer“, im Dorf. Das Spiel, von dem ich spreche hat eine Reihe von Hürden, besonders, wenn man bedenkt, dass es ein Thüringer Krippenspiel sein soll. Wir Hirten hier auf Bethlehems Feld.....Es gab Kinder, die brauchten ungefähr 200 Mal, bis sie den Unterschied zwischen Hirten und Hörden sprachlich verstanden hatten. .....das Volk, das im Finstern wandelt, das wandelt durch Blut und Tränen und Schweiß: Kyrieleis.........naja, sie können sich die Dialektfärbung ungefähr ausmalen. Die älteste Variante habe ich in den Akten von 1979 gefunden. Abgeschrieben mit der Schreibmaschine, mit bestimmt zehn Durchschlägen und dann noch mal abgeschrieben, für die weiteren Spieler. Tatsächlich waren es manchmal mehr als zwanzig, dreißig. Deswegen die Rolle der stummen Engel. Und die Eltern der Kinder konnten irgendwann auch die Rollen aus der Erinnerung aufsagen. 1988 hatte ich ein paar kirchlich-revolutionäre Gefühle und habe alle zu einem neuen Krippenspiel verdonnert. Es war ganz lustig, etwas DDR-kritisch-politisch, etwas neumodisch halt, wie man bei uns sagt. Beim Herausgehen an diesem Heiligen Abend war man sich dann einig, das war ganz schön, dieses Jahr, aber ohne Krippenspiel ist das nix hier.

Krippenspiel heißt bis heute: das Thüringer Krippenspiel von Klaus-Peter Hertzsch. Das erzähle ich hier nicht nur, weil es eine schöne Geschichte ist, sondern, weil sie etwas über den Mann sagt, den wir heute hier ehren wollen. Zuerst einmal natürlich, dass seine Texte, ebenso wenig wie die Lieder alt werden. Sie treffen, sie sprechen etwas an, in der Seele, das offenbar weniger Veränderung unterliegt, als man glauben möchte in unserer schnellen Welt. Ich erzähle die Geschichte aus dem kleinen Dorf auch, weil sie etwas über die Kraft der Sprache, die Kraft des Wortes sagt. Das Spiel macht biblischen Text lebendig. Er fügt ihn ein, er umwirbt, erklärt ihn, führt ihn weiter. Aber: der biblische, der lutherische Text bleibt die Mitte, auch beim Krippenspiel. Und dass etwas Pädagogisches dabei ist, ja. Das mit den schönen alten Worten und der Sprache fällt auf. Aber auch etwas Erzieherisches für Pfarrer oder Pastorin. Das Krippenspiel ist nämlich eine ganze Liturgie. Es sagt auch: wir haben da keine Feierstunde für alle, denen es an Weihnachten in unserer Kirche warm ums Herz werden soll. Wir feiern einen Gottesdienst. Und ja, wir feiern ihn so, dass auch Menschen, die nicht immer da sind, verstehen, um was es geht und dass sie fühlen, hier hat es eine Ordnung, eine Ordnung, die gut ist. Nun weiß ich gar nicht, ob Klaus-Peter Hertzsch sich diese Gedanken gemacht hat, beim Schreiben. Es kann gut sein, dass er es für völlig selbstverständlich hielt, es genau so zu machen. Vielleicht hat er als Lehrer oft Selbstverständlichkeiten Kraft gegeben und den Studierenden den Mut, sie zu leben.

"Hier ist einer, der erzählen kann, das ist doch Gold wert." Das sagt Johannes Bobrowski, als ein erster Verlag es abgelehnt hatte, die biblischen Balladen nicht drucken wollte. Rechtfertigt es nicht allein schon diese unglaubliche Begabung Klaus-Peter Hertzsch mit der Martin-Luther-Medaille auszuzeichnen?. Klaus-Peter Hertzsch steht in Luthers Tradition, er schaut für seine Fassung biblischer Geschichten den Leuten aufs Maul. „Wie schön ist die Stadt Ninive“, so hieß das Buch, das dann doch erschien und auch auf der anderen Seite der Mauer verlegt wurde und hieß „Der ganze Fisch war voll Gesang“.  Und als er später Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät in Jena zu lehren Gelegenheit erhält, bekommt das Erzählen in der Pfarrerausbildung einen herausgehobenen Platz. Denn: "Pfarrer müssen erzählen können" , so sagt er. In seiner Antrittsvorlesung sprach er über "Praktische Theologie als Erzählkunst". In seinen Erinnerungen hat er noch einmal zusammengefasst, was ihm daran so wichtig war: "Unsere kirchliche Praxis läuft Gefahr, dass aus der großen biblischen Erzähltradition eine verkopfte Erklärtradition wird. Und dabei weiß jeder, wie die Aufmerksamkeit sofort zunimmt und das Gesagte sich viel tiefer ins Gedächtnis einprägt, wenn in der Predigt, im Unterricht oder am Gemeindenachmittag etwas erzählt wird. Die Bibel redet ja von Gott nicht, indem sie ihn zu definieren versucht, sondern indem sie Geschichten erzählt".

Klaus-Peter Hertzsch ist im Professorenamt immer auch Pfarrer geblieben. Pfarrer, weil die Wissenschaft eben nicht auskommt ohne dass man sich vorstellen kann, wie sie sich anfühlt, in der kleinen Dorfgemeinde. Das hat ihn zu einem gemacht, der immer wieder, immer noch gefragt wird, den man fragen KANN. Das ist für Pfarrer und Pastorinnen bis heute nicht das  Leichteste. Sie sind immer Einzelkämpfer, sie haben wenig Gelegenheit und manchmal auch wenig Mut, über das zu reden, was sie im Innersten bewegt, beschwert, zweifeln lässt. Bei Klaus-Peter und Annemarie Hertzsch kann man das. Es gibt dann Tee im Wohnzimmer und es ist eine Ruhe, mitten in der Welt, die frei macht. Es sind vor allem die ernsten und ernstgemeinten Fragen, die mehr öffnen und eröffnen, als die Üblichkeiten, die man auf das: wie geht es dir antwortet. Und sie werden an genau den oder die gestellt, die da sitzen. Die Politikerin gerät in diesem Wohnzimmer ins Schwitzen, weil sie unmöglich irgendeine der üblichen Antworten geben kann.

Das Wichtigste und Heilsamste, das den Menschen widerfahren kann, besteht darin, dass das Evangelium zu ihnen kommt. Es ist wie Licht in der Dunkelheit.    Das schreibt Klaus-Peter Hertzsch in seinen Erinnerungen. Und es ist das, was er anderen zu sagen vermag, die es sonst wohl für eine frömmlerische Formel hielten, er vermag es so zu sagen, dass das Licht in der Seele ankommt.

Kann man diese Formulierung hören und reflektieren, ohne eine Beziehung zu Klaus-Peter Hertzsch' eigener geschwächter Sehkraft, zu seiner Nahezuerblindung herzustellen? Zehn Prozent Sehkraft bleiben ihm auf einem Auge. Manchmal werde er – so schreibt er in seinen Erinnerungen (S. 71) – gefragt und frage sich auch selbst, wie er sein Hochschulstudium mit seiner sehr geringen Sehkraft bewältigt habe. "Bis ich vierzehn war, konnte ich noch ganz gut lesen, dann ging die Sehkraft noch einmal kräftig zurück, so dass ich seitdem nur noch mit Lupe kleine Texte ... lesen konnte; von einem längeren Text oder gar von einem ganzen Buch kann seitdem keine Rede mehr sein ... Ich habe damals die tastbare Blindenschrift gelernt, die ich heute noch beherrsche" (S. 71f). Vorwiegend hat Klaus-Peter Hertzsch – in seinem Studium ebenso wie in seiner Berufspraxis – von dem gelebt, was er gehört hat (in erster Linie aus dem Mund seiner Frau Annemarie. Und so wurden auch die Literaturvorlesungen ein wahres Erlebnis, zu denen die unglaublich kluge Germanistin wohl mehr beigetragen hat, als das Lesen ). Was für ein intensiver Zugang zu der biblischen – und dann auch von der Reformation aufgenommenen – Wahrheit: Der Glaube kommt aus dem Hören!

Lieber Klaus-Peter Hertzsch,

die Luthermedaille, die erste, die vergeben wird, hat in Ihnen einen mehr als würdigen Empfänger. Sie geht an einen, der Reformation lebendig macht. Sie geht an einen großen Theologen, an einen großen Erzähler und einen großen Ermunterer, Professor, Pfarrer, Dichter. Vertraut den neuen Wegen ist genau deswegen für viele weit mehr, als ein Lied. Es ist ins Leben geschrieben, ins persönliche, in das politische - am Ende der DDR -. Aber auch hier ist etwas gelungen, das bleibt und nicht zeitgeistigem unterliegt. Es bleibt für das Leben, für die Liebe, es bleibt für das Land und die Welt, in der wir leben. Es bleibt für unsere Kirche, die dankbar ist für so viel geistreiche und geistliche Kraft.