Statement bei der Pressekonferenz zu Beginn der Zukunftswerkstatt der EKD in Kassel

Katrin Göring-Eckardt

Die Zukunftswerkstatt Kassel 2009 ist so etwas wie ein „unregelmäßiges Verb“ im Veranstaltungsreigen der evangelischen Kirche. Wir kennen Synoden mit festen Tagungsordnungen, Beschlüssen und Verlautbarungen, wir feiern in langer und guter Tradition Kirchentage, im nächsten Jahr erneut in guter ökumenischer Gemeinschaft. Doch eine Zukunftswerkstatt auf EKD-Ebene, an der fast alle leitenden Geistlichen, leitenden Juristen und Präsides teilnehmen, mit Verantwortungsträgern aus allen 22 Landeskirchen, die das Erlebte weitertragen können, mit rund 1.200 Teilnehmenden aus den verschiedensten kirchlichen Handlungsfeldern, - das hat es so noch nicht gegeben. Mitten im hektischen Alltagsgeschäft halten Menschen inne, legen den übervollen Kalender und die anstehenden Tagesordnungen zur Seite und nehmen sich die Zeit, um gemeinsam an den Zukunftsthemen der evangelischen Kirche zu arbeiten, um gemeinsam zu beten, zu feiern, zu diskutieren.

Ich glaube, man kann gar nicht deutlich genug herausheben, was es bedeutet, dass solch eine Veranstaltung möglich ist: Dass die Presbyterin aus Burscheid, der Diakon aus Berlin und die Theologie-Studentin aus Münster, die Kirchenmusikerin aus Düsseldorf, der Oberkirchenrat aus Karlsruhe und die Dekanin aus Herborn, dass sie alle für drei Tage hier zur Zukunftswerkstatt in Kassel kommen, um über die Wege ihrer Kirche zu sprechen. Das ist keineswegs selbstverständlich. Es die tiefe Gemeinschaft, die in der evangelischen Kirche gewachsen und vorhanden sind. Es gibt - Gott sei Dank - viele verschiedene Meinungen und Positionen in unserer Kirche, aber  - Gott sei Dank - keine Frage, die unsere Kirche spaltet. Seien es Evangelikale und Liberale, seien es Diakoniker, Kirchenmusiker und Jugendarbeiter, seien es Kritiker und Befürworter von Reformen: Wir alle sind die Evangelische Kirche in Deutschland, wir sind aufeinander angewiesen, in aller Unterschiedlichkeit, unsere Verschiedenheit ist Reichtum, wir sind verbunden in dem, was uns trägt und in dem, was wir in die Welt tragen. Natürlich streiten wir, wir sind ja Protestanten, aber wir wollen nicht streiten darum, wer Recht hat, sondern darum, wie wir gemeinsam den rechten Weg des Evangeliums gehen können; fröhlich, leidenschaftlich, so unterschiedlich wie wir sind, so verschieden wie wir glauben. Die Zukunftswerkstatt hilft, diese tiefe Gemeinschaft für die Zukunft der Kirche wahrzunehmen und zu stärken.

Wie bei den unregelmäßigen Verben in der Schule, so fügt sich diese Zukunftswerkstatt aber eben in kein vorgefertigtes Schema - noch nicht einmal in die Methodik der Zukunftswerkstätten im klassischen Sinn. Es ist ein Unicum, eine Veranstaltung, die auf erfrischend unorthodoxe Weise ganz verschiedene Elemente zu einem neuen Ganzen zusammenfügt. Sie geht vor allem auch ein Risiko ein, nämlich das Risiko, dass wir nicht vorher schon wissen, was hier passieren wird: eine wunderbare Aussicht.

Da gibt es die „Galerie guter Praxis“ mit einer Sammlung von 100 missionarischen, innovativen und kopierbaren Projekten aus den Gemeinden, Kirchenkreisen und Landeskirchen - so etwas wie eine kleine kirchliche „Fachmesse“ mit gut bewährten und spannenden Neuheiten aus der kirchlichen Praxis. Nur um ein Beispiel zu nennen: Es gibt ein mich faszinierendes Projekt „Singen im Kindergarten“ (Programmheft S. 21). Patinnen und Paten aus der Großeltern-Generation werden hier gewonnen, um Kindern Freude am Singen und zugleich einen Verfügungsschatz an geistlichen Liedern zu vermitteln. Auf einfallsreiche Weise werden hier Menschen aus verschiedenen Generationen miteinander verbunden und in ihrer Sprachfähigkeit christlichen Glaubens gestärkt. Darin spiegeln sich zugleich religionssoziologische Erkenntnisse, dass für die Vermittlung des Glaubens gerade der Großeltern-Generation eine Schlüsselfunktion zukommt.

Es gibt noch viele andere schöne Beispiele; die Galerie bietet ein weites Feld mit vielen weiteren Schätzen im Acker und kann am Freitag von allen Interessierten angesehen werden.

Die rund 30 „Andachten anders“ machen den mutigen Versuch, zu einer ungewohnten Zeit - am Freitagmorgen, an anderen Orten - in Brauerei, Bank und Bahnhof, im Gefängnis und Gericht, in anderer Form die Gegenwart Gottes zu feiern. Was bedeutet es etwa, mit jungen Menschen, die sich schon mit 16 Jahren aus dem Erwerbsleben „ausgesondert und abgeschrieben“ fühlen, im Berufsbildungswerk Nordhessen zusammen eine Andacht zu feiern? Oder wie sieht sie aus - die Feier im Internet, gemeinsam verbunden im virtuellen Raum? Ich bin gespannt, wie die Verantwortlichen aus Kassel und aus der gesamten Bundesrepublik diese spannenden Herausforderungen wahrnehmen werden. Und ich freue mich, dass wir auf diese Weise das Evangelium in die Welt tragen, im wahrsten Sinn des Wortes: Wir lieben unsere Sonntagsgottesdienste, jedenfalls meistens - was wir hier tun, ist herauszugehen und Menschen teilhaben zu lassen, die sonst vielleicht gar nicht auf die Idee kämen, dorthin zu gehen. Sie sollen Gottes Wort hören, aber vielleicht auch Lust bekommen, das wieder und öfter zu tun.

In den rund 30 Werkstätten werden viele Zukunftsthemen der Kirche gemeinsam offen besprochen. Ohne den Druck von aktuellen Entscheidungsfindungen bieten die Werkstätten die Chance, sich mit kompetenten Gesprächspartner zu Fragen zukünftiger Entwicklung auszutauschen: zu Heil und Heilung, zur ökologischen Entwicklung, zur Mitgliederpflege, zur Zukunft der Ökumene, zum politischen Protestantismus. Ohne dass es hier konkrete Vereinbarung geben kann und soll, werden diese vielen kleinen World-Cafés wohl so etwas wie ein „Katalysator kirchlicher Ideenentwicklung“ sein. Das World-Cafe hat ja einen guten Sinn, nämlich, dass jede und jeder zu Wort kommt. So sind hier alle aktiv, geben sich und ihre Ideen weiter, sie machen Gemeinschaft lebendig.

Geht es in den Werkstätten um die klugen Ideen von morgen, so wird es in den Foren praktisch und konkret. 10 Initiativen werden auf EKD-Ebene gestartet, in denen sich die kirchlichen Aufbrüche erfahrbar manifestieren. Mein Eindruck war, als ich die Liste zum ersten Mal gelesen habe: So viel Aufbruch gab es selten! Von der Kirche im Kiez bis zu den evangelischen Verantwortungseliten, von Leitung und Führung in der Kirche bis zum Erfahrungsaustausch im Web 2.0., von der Konfirmanden-Arbeit bis zur missionarischen Bildungsinitiative Erwachsen Glauben: Es gibt kaum ein Feld, in dem es keine gemeinsame Anstrengungen und Impulse gibt.

Dass die evangelische Kirche über diesen vielen Arbeiten auch das Feiern nicht verlernt hat, wird an dem „Abend ausgezeichneter Ideen“ deutlich. Ich freue mich, dass wir als Kirche hier eine Würdigungskultur pflegen, in der wir uns daran freuen, was wir aneinander haben, und in der wir die großen Stärken und Leistungen in unserer Kirche nicht verschämt unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter stellen. Und es ist spannend, wenn in dieser kleinen kirchlichen Oskar-Nacht sieben ganz verschiedene Preise neben einander stehen wie der von „Phantasie des Glaubens“ des Amtes für missionarische Dienste, der Zukunftspreis „Jupp“ der evangelischen Jugend oder der Hannah-Jursch-Preis für herausragende wissenschaftliche Arbeiten aus der Perspektive von Frauen. Sieben Preise, in denen sich der Dank für den Reichtum an Gaben, Ideen und Talenten ausdrückt, mit denen Gott unsere Kirche segnet.

So ungewöhnlich die Zukunftswerkstatt in ihren ersten beiden Tagen gestaltet ist, so ungewöhnlich wird sie auch am dritten Tag schließen: mit einem gemeinsamen geistlichen Stationenweg durch Kassel. Hier wird es im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar, dass die evangelische Kirche im Aufbruch ist, dass sie auf dem Weg ist: auf dem Weg hin zum großen Reformationsjubiläum 2017 (500 Jahre seit dem Thesenanschlag als Anfang der Reformation; „Luther 2017 - 500 Jahre Reformation“), auf dem Weg zu Menschen, auf dem Weg einer neuen geistlichen Besinnung und sozialen Verantwortung. Ich freue mich, in einer Kirche zu Hause zu sein, die den Mut hat, sich auf den Weg zu machen. Eine Kirche, die noch nicht fertig ist, die nie fertig ist oder sein kann. Die den Mut hat, neu aufzubrechen, um Gott und den Mitmenschen immer wieder neu zu begegnen. Auch das ist: evangelisch.