"Christliche Existenz im Spannungsfeld von Kirche und Politik", Vortrag an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt

Katrin Göring-Eckardt

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren,

es gibt ja so Worte und Sätze im Leben, wo man weiß: wenn ich das jetzt sage, dann wird sich das bisherige Gespräch mit meinem Gegenüber urplötzlich ändern. "Ich liebe dich", das ist zum Beispiel so ein Satz. Der, zu einem Fremden gesagt, löst ohne Zweifel eine ganze Menge aus  - entweder in die eine oder in die andere Richtung und hoffentlich in die erwünschte. Und dann gibt es zum Beispiel die Antwort auf die eigentlich harmlose Frage: "Was haben Sie denn studiert?" und, so habe ich es schon dutzende Male erfahren, wenn ich dann sage: ich habe Theologie studiert, dann geht das an meinem Gegenüber auch nicht spurlos vorüber. Zwei Reaktionsweisen sind immer einzuplanen: da gibt es die einen, die ungläubig die Augen aufreißen und man merkt wie hinter ihrem freundliche Lächeln längst schon die Gedanken sagen: "eigentlich machte sie ja bisher einen ganz intelligenten Eindruck. Aber Theologie?" Oder aber, und das ist zweifellos eine wunderbare Erfahrung, auf einmal merke ich meinem Gegenüber an, dass da plötzlich Vertrauen ist und wir über Fragen des Lebens ins Gespräch kommen, zu denen es normalerweise einen meilenweiten Anlauf bedurft hätte. Ich denke, dass Sie alle hier, diese Erfahrung mit mir teilen. Denn Theologie zu studieren oder studiert zu haben, ist ja doch immer auch etwas Besonderes. Gerade hier im Osten, da ist die Entscheidung, solch ein Studium aufzunehmen, noch viel ungewöhnlicher als in der alten Bundesländern. Sie merken schon, ich sehe das hier ein wenig mit Ihnen als ein Heimspiel. Ein Heimspiel in doppeltem Sinne: zum einen geographisch, weil ich ja tatsächlich hier aus dieser Gegend stamme und in Thüringen groß geworden bin und hier auch noch immer lebe. Zum anderen, weil ich mich sehr freue, heute unter soviel examinierten Theologinnen und Theologen zu sein, die sicher auch die Frage Ihrer Freundinnen und Freunde und Ihrer Eltern kennen: Warum, um Himmels willen Theologie? Und was willst Du damit mal werden? Ich habe mich dies selbst auch gefragt und Sie selbst werden sich das sicher auch gefragt haben, mehr als einmal. Warum Theologie? Wozu Kirche? Was soll ich nach dem Examen machen?

Nun haben Sie mich natürlich eingeladen, damit ich Ihnen ein wenig von meinen Erfahrungen als Politikerin und Kirchenfrau erzähle, aber eigentlich bin ich ja selbst auch furchtbar neugierig. Gern würde ich Sie fragen, was sind Sie denn alle geworden? Wo sind Sie denn untergekommen? In welchen Feldern arbeiten Sie? Vielleicht arbeiten Sie ja aber auch schon gar nicht mehr "theologisch", sondern sind in einem ganz anderen Bereich, in dem Sie nun versuchen, Ihr Christ-Sein einzubringen oder in dem Sie selbst die Spannung erleben, die auch berufliche Arbeit und christliche Überzeugung mit sich bringen können. Wie viel Wertschätzung erfahren Sie denn in Ihrer Arbeit? Würden Sie sich heute auch noch einmal für dasselbe Studium entscheiden?

Letztere Frage stelle ich nicht nur einfach aus Neugier, sondern auch, weil es doch auch zwischen uns einen entscheidenden Unterschied gibt, den ich bisher übergangen habe. Sie haben katholische Theologie studiert, ich evangelische und wer zurzeit katholisch ist, der ist vielen Anfragen, aber auch Angriffen ausgesetzt. Und so kann ich mir gut vorstellen, dass auch hier im Raum unter Ihnen der ein oder andere sitzt, der sich tatsächlich besonders jetzt die Frage stellt, ob er das Richtige studiert hat. Der sich fragt: Ist die Katholische Kirche noch meine Kirche? Und so spüren sicher nicht wenige von Ihnen das Spannungsfeld zwischen christlicher Existenz und Institution Kirche. Manche verlassen sie sogar, weil sie die Spannung zwischen innen und außen nicht länger auszuhalten bereit sind. Was innen geglaubt wird, das soll auch außen Ausdruck finden und einen Ort haben können, der Geborgenheit, Klarheit, Wahrhaftigkeit bietet. Das aber nun bricht vielen weg und ich empfinde es als tragisch, das mit anzusehen.

Noch schlimmer aber empfinde ich es, dass ich den Eindruck habe, dass die Scham über ihre Kirche, die viele Katholikinnen und Katholiken zur Zeit in ihrem Herzen tragen, sie dazu verführt, leise und still zu werden und sich nicht mehr laut einzumischen in unsere Gesellschaft. So, als hätten sie plötzlich jedes Recht verloren, als dürften sie bei der Gestaltung unserer Welt plötzlich nicht mehr mitmachen. Und das gerade jetzt, wo wir wirklich vor gesellschaftlichen Problemen und Krisen stehen, wo wir jede überzeugte christliche Stimme nötig haben. Vielmehr noch, Christ-sein und seine Stimme erheben und sich Einmischen und Einbringen in die Gestaltung unserer Welt, gehört für mich zusammen.

Es geht darum, das "heute und hier notwendige zu tun", wie es Dietrich Bonhoeffer formuliert hat und der mir viel bedeutet. Die Menschen müssen die Verantwortung für ihr Handeln selbst übernehmen, sie können sie nicht auf irgendeine Institution oder auf Gott selbst abwälzen. Bonhoeffer hält es für die Aufgabe der Christinnen und Christen, in "tiefer Dieseitigkeit" zu leben, in unbedingter Hinwendung zur Welt. Christus sendet seine Jünger aus, damit sie sich rückhaltlosen in den Dienst für die Menschen stellen. Dieser Auftrag bleibt für jeden auch erhalten, selbst wenn ich verstehen kann, dass sich manch einer lieber die Bettdecke über den Kopf zieht, als sich in die Öffentlichkeit zu begeben, die zur Zeit ja auch für die katholischen Christinnen und Christen viel Spott und Hohn bereithält.

Aber Christ-Sein darf eben nicht stehen bleiben beim Beten im stillen Kämmerlein, beim Feiern kirchlicher Feste, weil das Heiraten in der Kirche doch schöner ist als im Rathaus mit dem leiernden Tonfall der Beamtin, oder bei einer vertröstenden Hoffnung auf das Jenseits. Prägnanter als mit einem Satz Bonhoeffers selbst kann man es nicht ausdrücken: "Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen".

Die Umstände, die Dietrich Bonhoeffer zu seinem entschiedenen Handeln herausforderten, das ihn dann vor 65 Jahren das Leben kostete, sind unvergleichlich und ohne jede Parallele. Aber selbstverständlich sind wir selbst heute und jeden Tag neu gefragt, was es bedeutet unser Christ-Sein zu leben im Einsatz für die Welt.

Das "heute und hier Notwendige" zu tun und mutig einzustehen für etwas, das man als richtig und unbedingt notwendig erkannt hat, haben viele von uns, die hier aufgewachsen sind, in einer Intensität erlebt, die für manche prägend bleiben wird, hoffentlich. Zur Zeit der Friedlichen Revolution wollten wir Gesellschaft verändern – aus einer christlichen Überzeugung heraus. Die Texte aus der Bibel machten uns Mut für eine Vision von Kirche und Gesellschaft, nach der es zu streben lohnte. "Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden" (Mt 5,6), und auch: "Suchte der Stadt Bestes" (Jer 29,7) Solche Worte haben mich, haben uns damals bewegt und bestärkt, und uns zu selbstständigem und unbequemem Denken angeregt. Die Kirchen boten den Schutz und jenen Freiraum, den das "verordnete Denken" auszuschließen suchte. Auch die Frage der Freiheit, der Freiheit das Nötige auch zu tun, hat hohe Bedeutung und Präsenz für politisches wie gesellschaftliches Handeln. Es war eine wunderbare Freiheit, in der die Anmaßungen und Zumutungen des Regimes und dessen Absolutheitsanspruch einfach dem Wissen weichen konnten: Da ist einer, der ist größer als alles, was ihr wollt und womit ihr droht. Das Wissen um Gottes Gegenwart in einem totalitären Umfeld hat diesen Totalitarismus ins Verhältnis gesetzt – ins Verhältnis gesetzt zu etwas Größerem, ihn damit letztlich in Leere laufen lassen. Wo Gott lebendig und erfahrbar wurde, da stießen die Diktatur und der allgegenwärtige Staat mit seiner Ideologie und seinem Absolutheitsanspruch auf Grenzen und Granit.

Es wäre ausgesprochen tragisch, wenn jetzt ausgerechnet Katholikinnen und Katholiken durch die Fälle sexueller Gewalt und das Versagen mancher Kirchenleitung aus Scham oder Verzweiflung oder aus dem verstehbaren Wunsch heraus, mit diesen Fällen nicht identifiziert zu werden, ihre Freiheit aufgeben, sich für die Gesellschaft einzusetzen. Ich als Protestantin möchte Ihnen dazu sagen: die Freiheit eines Christenmenschen, sie gilt nicht nur für uns Evangelische…

Aber natürlich, ich verstehe es nur zu gut, dass es viele Katholiken gerade nicht leicht haben mit ihrer Kirche. Denn wir Protestanten haben es mit derselben auch nicht leicht. Die Verzweiflung, die manch einen Katholiken packt, sie hat auch manch Evangelischen gepackt, der plötzlich auf dem Kirchentag in München, der ein ökumenischer war, merkte, wie viel Hindernisse da noch auf dem ökumenischen Weg liegen. Dass manche Selbstverständlichkeiten für uns Protestanten keineswegs für die Katholische Kirche selbstverständlich sind. Sicher war es nicht nur das kalte Wetter in München, das bei vielen Kirchentagsbesuchern eine leichte Erkältung ausgelöst hat. Auch wenn es natürlich auch wunderbare Lichtblicke gefeierter Gemeinsamkeit gab, gab es doch auf dem ÖKT eher eine Verbreiterung der Ökumene, statt ihre Vertiefung. So wie mit dem gemeinsamen orthodoxen Brotbrechen an 1000 Tischen auf dem Odeonsplatz. Diese Feier, hat, glaube ich, vielen Menschen gezeigt, dass der Weg der Ökumene nicht vergebens ist. Auch wenn er schwierig ist und ich den Eindruck habe, dass zurzeit nicht viele bereit sind, die theologischen Hindernisse anzugehen, so darf unser Herz für die Ökumene trotzdem brennen. Das zeigten mir die vielen fröhlichen und versöhnten Gesichter auf dem Odeonsplatz. Und auch, wenn wir im Theologischen noch nicht so weit sind, wie es viele Christinnen und Christen gern hätten, so sind wir doch im Bereich des gesellschaftlichen Engagements eng beieinander. Das reicht nicht für die Ökumene, aber das wäre auch ein anderes Thema.

Dass wir in der Verantwortung gemeinsam stehen, ist ja ein großes Glück, eine Bereicherung, ein wichtiger Bestandteil gelebter Demokratie in unserem Land.  Aber passt das denn zusammen, in der absoluten Zuspitzung, jenseits von sozialem Engagement und dem Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung? Christliche Existenz und echte Politik, bedeutet das nicht einen ständigen Spagat zwischen christlicher Überzeugung und politischer Realität? Muss man nicht den Glauben eigentlich zwischendurch ablegen, um eine Entscheidung sozusagen "wertfrei" zu treffen, weil ja nun mal nicht alle Christinnen und Christen sind und wir die gewonnene Freiheit der Aufklärung, die Trennung von Thron und Altar eben gerade nicht aufgeben wollen? Und schließlich kann man gar nicht so radikal politisch entscheiden, wie man es als Christin oder Christ eigentlich tun müsste. Man muss doch immer wieder Kompromisse machen, wo Glaube und Christentum doch kompromisslos sind, Jesus selbst vor allem, der nicht bereit war, es unterhalb einer Revolution zu machen?

 Ja, Politik mache ich bewusst von meinem Standpunkt als Christin aus und darüber rede ich auch. Mache ich jeden Tag Revolution auf dem Weg zum Reich Gottes? Natürlich nicht. Was sollte das auch sein? Eines doch ist klar: Es gibt keine "christliche Politik". Dann hätten sich die Christen ja längst zu einer einzigen Partei zusammen geschlossen. In der Bergpredigt steht auch keine Anleitung für den Umgang mit der Kopfpauschale. Noch nicht einmal wen ich am besten zum Bundespräsidenten wähle, steht da geschrieben, obwohl das ja nun nicht gerade ein detail ist. Vielleicht sollte ich mich an der Konfession orientieren? Gauck evangelisch, Wulff katholisch? Chefprotestantin eigentlich schon klar? Aber noch nicht einmal darüber gibt die Bibel eine Auskunft. Also: wie halt ich's mit der Politik des Christenmenschen? In erster Linie wohl frei und verantwortlich. In erster Linie, und dann doch einmal Luther: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Frei ist der Mensch vor Gott. Ein dienstbarer Knecht aber für seinen Nächsten, in der Liebe.  Was für eine Freiheit das ist, hat sich schon in der DDR gezeigt. Aber es zeigt sich auch heute. Der, dem  ich Rechenschaft zu geben habe, ist nicht von, ohne Zweifel aber in dieser Welt. Es ist nicht mein Parteivorsitzender und noch nicht einmal der allgemeine Wähler oder die allgemeine Wählerin. Darin unterscheide ich mich natürlich keineswegs von Menschen mit anderen Berufen oder Biographien. Aber ich weiß, dass ich mich unterscheide durch das Wissen, dass es etwas Größeres gibt, als das nächste Radiointerview, die nächste Stufe auf der Karriereleiter, die nächste Wahl. Ich weiß, dass die Wege des Herrn unergründlich sind und dennoch weise, so wie Paulus es im Römerbrief ausdrückt: O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! (Röm 11,33) und ich weiß, dass ich getragen und gehalten bin. Und ich hoffe, dass ich auch spüre, wenn ich eines himmlischen Trittes in die richtige Richtung bedarf. Dabei ist es freilich gut zu wissen, dass ein Christ kann nie vollkommen handelt, lebt, redet, entscheidet.

Das ist das eine. Die andere Frage stellt sich aber dennoch weiterhin: Ist die Entscheidung einer christlichen Politikerin eine andere, als die der Muslima oder einer Ungläubigen? Nein, ich meine es nicht so platt, nach dem Motto: in der Bibel steht ja nicht, wie ich über den Verkehrswegeplan abzustimmen hätte. Aber wenigstens bei den Grundsatzfragen, am Anfang und am Ende des Lebens? Wenigstens da, wo es um Ethik geht. Und sie glauben gar nicht, wie viele Briefe, mit der Floskel: als Christin müssen sie doch x oder y entscheiden, ich bekomme. Allerdings: schon allein diese Briefe unterscheiden sich diametral, wollen von mir das eine und auch glatt das Gegenteil davon. Und wenn erst noch jemand festlegt, wie ich als Protestantin zu entscheiden hätte, wird es ganz schierig. Selbst bei so existenziellen Fragen wie beim Stammzellgesetz, der Präambel oder dem Patientenverfügungsgesetz stimmen Christinnen und Christen im Bundestag unterschiedlich ab. Der Protestant Gröhe anders als die Protestantin Göring-Eckardt, aber der Katholik Thierse mit Goering-Eckardt  und der Katholik Lammert mit dem Protestanten Gröhe. Und so weiter.

Vielleicht gibt es ja tatsächlich etwas, was uns elementar verbindet, im Finden von Entscheidungen. Sie denken jetzt, ich komme mit dem christlichen Menschenbild. Das gilt natürlich immer, Und ist doch auch immer so und so verstehbar. Wie wäre es mit der These, dass wir davon ausgehen, dass wir Christinen und Christen nie davon ausgehen können, dass wir schon wissen, wie es zu sein hat, dass wir die Regel kennen und das, was daraus folgt? Dass wir wissen, was gut für den anderen ist und besonders, wo wer hingehört? Könnte es vielleicht sein, dass wir glaubensgemäß anders an Entscheidungen herangehen? Ich fürchte, sie haben jetzt Gläubige vor Augen, die genau so sind, wie gerade beschrieben. Der Priester, der weiß, was Rom sagt und dem Politiker deswegen zu verstehen gibt, wie er zu entscheiden habe. Aber auch da wage ich die These: die Trennung von Thon und Altar ist Realität und die Freiheit des Christenmenschen in der Demokratie substanziell. Also: könnte es sein, dass Christenmenschen zuerst fragen, dass sie  zweifeln und dass sie glauben? Fragen, zweifeln, glauben. Drei Schritte, die infrage stellen, dass die Welt ist, wie sie ist, weil wir von der Welt wissen, die da kommt. Zweifeln, weil wir wissen, dass Gottes Vernunft größer ist, als unser alltäglicher Irrsinn. Glauben, weil wir die Dinge in Gottes Hand legen können. Und letztlich in der Gewissheit leben, irren zu können und zu irren, immer wieder.

Fragen und zweifeln entbindet aber allerdings nicht von einer Antwort. Man kann sicherlich eine Zeit lang sagen, darüber denke ich noch nach. Das ist nicht unbedingt üblich in der Politik, dass man nicht sofort eine Antwort hat, wenn irgendein Mikrofon vor der Nase steht. Das machen nur ganz wenige, aber irgendwann muss man eine Antwort geben, im Zweifelsfall heißt das: Abstimmen im Deutschen Bundestag. Manchmal höre ich auch die Frage mit vorwurfsvollem Unterton: Wie das denn mit einer christlichen Haltung zu vereinbaren sei, denn "den Politikern" gehe es "ja doch nur um die Macht". Ich sage ihnen: Es geht um Macht. Ohne Macht wird man nichts durchsetzen. Aber es geht nicht um die Macht um ihrer selbst willen, zur egozentrierten Selbstbestätigung oder um Macht über Menschen, um sie zu Spielbällen der eigenen Interessen zu machen. Es geht um die Macht zu gestalten. Wer Dinge verändern will, der braucht dazu auch die Möglichkeiten.

Das erste Gesetz, das ich als gerade frisch gewählte Abgeordnete mit verhandelt habe, war eines über Gesundheit. Mir gegenüber saß Rudolf Dreßler, an den man sich in diesen Tagen wieder erinnert. Er sagte plötzlich, mitten in den Streit über Beitragssätze und Krankenhaustarife hinein: "Das betrifft übrigens viele Millionen Menschen." Er hat versucht, das zum Argument für seinen Vorschlag zu machen. Ich selbst war ziemlich erschrocken. Da saßen wir in einem Ministerium bei irgendwelchen Schnittchen und redeten über etwas, das so viele Menschen betrifft. Gut, wenn man dann mit dem Wort Demut etwas anfangen kann.

Kann man nun aber in einer säkularen Welt, in einer mehrheitlich konfessionslosen Umgebung christlich Politik machen, christlich motiviert handeln, christlich begründet agieren? Haben wir eigentlich ein Recht dazu zu sagen: diese Entscheidung treffe ich genau so - als Christin? Ich bin schließlich nicht als Vertreterin der Partei bibeltreuer Christen gewählt, bei der man davon ausgehen muss, dass sie so denkt. Anders herum könnte man die Frage stellen; hat eigentlich Kirche und Christentum etwas zu sagen, in Bezug auf Gesellschaft und etwas beizutragen, vor allem können sich Nichtchristen damit anfreunden, ja, davon profitieren? Natürlich: das soziale Engagement der Kirche und auch der einzelnen Christinnen und Christen stößt  auf positive Resonanz. Überall dort, wo Menschen geholfen wird, wo gegen soziale Ungerechtigkeit angegangen wird und wo die Kirchen ihre Stimme gegen Armut und Ausgrenzung erheben, wenn es um Krankenhäuser und Kindergärten, um Pflegeheime und Obdachlosenhilfe geht, ist das in Ordnung.  Bei den Schulen schon nicht mehr unumstritten. Obwohl die christlichen Schulen regelmäßig mehr Anmeldungen haben, als Plätze, bleibt umstritten, ob man sie wollen soll oder ob man denn so viele wollen soll. Interessant insbesondere, dass so viele Nichtchristen ihre Kinder dort anmelden. Sie erwarten wohl eine besondere Art zu lehren und zu leben, wertegebunden, sozial, integrativ, fördernd…Gegner fürchten wohl, Schulen könnten zu missionarischen Orten werden. Nun ja, wie ist es bestellt um das Nutzen missionarischer Gelegenheit bei uns selbst? Geben wir wenigstens Grund zu dieser Sorge. Ein bisschen hoffe ich das ja. Ohne natürlich zu meinen, es ginge um so etwas wie Indoktrination. Nein, ganz im Gegenteil. Es geht eher darum, etwas auszustrahlen, das anderen Lust macht, auch dazu zu gehören.

Ganz anders jedoch sieht es mit der Toleranzschwelle offensichtlich immer wieder einmal aus, wenn es um die Theologie an den Universitäten und Fachhochschulen geht. Hier geht es nicht um die tätige Nächstenliebe, sondern um das Durchdenken des Glaubens, den wissenschaftlichen Diskurs. An den Universitäten und Fachhochschulen haben wir  einen geistlichen Schatz an theologischen Erkenntnissen. Der Streit darüber, ob die Theologie eine Wissenschaft sei, der im Wissenschaftsrat geführt wurde, ist dabei eine spannende Herausforderung. Ich finde, wir sollten sie getrost, freudig und voller Energie aufnehmen, allein die Frage danach, was die Theologie von anderen Geisteswissenschaften unterscheidet, dürfte interessant sein. Aber gern auch die nach der Unterscheidung von einer Wissenschaft wie der Medizin, in der es doch immer wieder zu erkennen gilt, dass nicht alle Vorgänge biologisch oder chemisch zu erklären sind. Die wissenschaftliche Theologie bringt nicht nur immer wieder den Verstand in den Glauben, sie und ihre Erkenntnisse sind auch notwendig, um der Gesellschaft Orientierungswissen bereitzustellen und auch Strategien zu erkunden, wie sich am Besten in der gegenwärtigen Zeit christlicher Glaube und sein kulturelles Zeichensystem vermitteln lässt.  

Denn eine große Herausforderung für den Glauben besteht ja darin, dass die Familie als primärer Ort religiöser Sozialisation ihren Charakter verändert hat. Eltern und vor allem auch Großeltern spielen - wie Studien belegen - die bei weitem wichtigste Rolle in der Weitergabe christlichen Glaubens noch weit vor allem, was später in Kindergarten, Kirche oder Schule vermittelt werden kann. Glaube lernt man als Muttersprache. Diese Sozialisationsinstanz fällt jedoch in vielen Fällen aus: weil es den Eltern an Sprachfähigkeit für den eigenen Glauben mangelt, weil die Großeltern zu weit weg sind, weil die Pluralität religiöser Prägungen in den Familien höher ist als früher oder weil man bei der zweiten oder dritten Eheschließung den erneuten Gang zur Kirche scheut. Auch wenn die Taufbereitschaft der Kirchenmitglieder nach eigenen Angaben insgesamt gestiegen ist, sprechen die zurückgehenden Tauf- und Trauzahlen in den letzten Jahren eine deutliche Sprache.

Zudem hat sich auf Grund des veränderten religiösen Umfeldes die Selbstverständlichkeit, mit der man früher, zumindest noch lange in der alten Bundesrepublik, in der Kirche war, geändert. Kirchenmitgliedschaft wird nicht länger einfach von den Eltern gleichsam "sozial ererbt", sondern im Laufe des eigenen Lebens zum Gegenstand bewusster Entscheidung. Die Kirche ist eine Anbieterin neben anderen auf dem sich pluralisierenden Markt religiöser Sinnangebote. Daran ist natürlich erst einmal etwas sehr positives, denn wir haben mehr bewusst überzeugte Christinnen und Christen und weniger rein traditionelle Mitglieder.

Zudem haben sich die Kenntnis christlicher Glaubensüberlieferung und die Vertrautheit religiöser Praxis massiv verändert. Der Pegelstand des "religiöse Verfügungswissen" ist gesunken, an manchen Stellen bis zur Notwendigkeit einer neuen Alphabetisierung. Ob biblische Geschichten, Kirchenlieder, Bekenntnisse, Gottesdienste: diese Texte und Riten leben davon, dass sie eingeübt, wiederholt, memoriert, meditiert, verinnerlicht werden. Die Schnelligkeit und die Bilderflut im "Tempodrom" der Massenmedien bieten nicht gerade günstige Bedingung für die Vermittlung und Aneignung von christlichem Glauben. Glaube ist wie gute Poesie - es braucht Zeit, Ruhe und immer wieder neue Begegnung, ihn zu verstehen. Auch hier sei der Osten Deutschlands noch einmal in besonderer Weise erwähnt. Der Versuch der Entchristlichung hat auch dort, wo es um die Tradition von Kunst und Kultur ging, versucht, christliche Wurzeln und Bezüge zu eliminieren, soweit es eben ging. Es fehlt also ganzen Generationen regelrecht an christlichem Grund- und Allgemeinwissen, ganz jenseits von Glaubenserfahrungen und -bezügen. Sehr eindrücklich ist dabei zum Beispiel die Erfahrung, die Sie machen können, wenn Sie mal mit den Kirchenführern des Berliner Domes sprechen. Die berichten von der regelmäßigen Erfahrung, dass da Schulklassen kommen und die Schülerinnen und Schüler fragen, was denn da der Mann am dem Kreuz mache und wer der sei. Und zum Erstaunen der Domführer dann öfters die muslimischen Schüler ihnen antworten und von Jesus erzählen können.

Da ist aber trotzdem zugleich eine große Sehnsucht bei vielen Zeitgenossen zu spüren und Religion steht plötzlich ganz anders als früher auf der gesellschaftlichen Tagesordnung: Pilgern ist zur religiösen Massenbewegung geworden ist, an der sich auch dezidiert Säkulare beteiligen; einer Boulevard-Zeitung gibt die Bibel heraus und in der - gerade auch durch die Begegnung mit dem Islam - die Frage nach den eigenen religiösen Wurzeln und dem spirituellen Sein neu gestellt wird. Aber auch die Suche nach Sinn, nach Ortsbestimmung, nach Orientierung und Spiritualität, die sich zunächst nicht auf Kirchen richtet, ist spürbar. Kürzlich fiel mir ein Buch in die Hände, das trug den Titel "Best of Gott". Hier kann man sich ein ideales Menü zusammenstellen: In welcher Religion gibt es die meisten Feiertage? Welcher Glaube ist am besten für die Karriere? Welche Religion hat die schönsten Pilgerziele, welche Religion hat die besten Tipps fürs Schlankwerden und wo gibt es den schönsten Sound.

Der Untertitel des Buches lautet: "Glaubensshopping leicht gemacht." Klar, das Ganze ist als ironischer Spaß gemeint. Aber trotzdem scheint dieses Angebot für eine Religion àla "Marke Eigenbau" den Kern dessen zu treffen, was Religionssoziologen gerne "Individualisierung" nennen: So bastelt sich jede und jeder demnach heutzutage seinen eigenen Glauben zusammen. In Abwandlung des bekannten Heimwerkermarkt-Werbeslogans könnte man sagen: "Glaub dein Ding!" Und im Grunde ist das ja nicht neu. Die alte Frau, die schon lange nicht mehr in den Gottesdienst geht, und die, wenn die Pfarrerin zum 70. Geburtstag vorbei kommt, mit fester Überzeugung sagt: "Ich hab schon meinen Glauben". - Sie ist kein Phänomen der Gegenwart. Und nicht erst seit gestern kennen wir einige, die neben ihrem christlichen Glauben auch noch ihre Warzen besprechen lassen, den Handlinien Bedeutung verleihen und sich Tag für Tag nicht enthalten können, die Seite mit den Horoskopen in der Tageszeitung aufzuschlagen. Übrigens erzählte mir eine junge Frau aus Slowenien kürzlich, wie das in Ljubljana bei einer der größten Tageszeitungen gehandhabt wird: Da muss sich in der Redaktion derjenige die Horoskope ausdenken, der als letzter zur Redaktionssitzung kommt. Das ist in Deutschland bestimmt ganz anders. Wir haben ja für alles ganz besonders kompetente, zumeist wissenschaftlich gebildete Fachkräfte.

"Best of Gott" ist – trotz aller ironischen Überspitzung –aber auch Ausdruck des verbreiteten Wunsches nach einer Religion ohne Wagnis und Widerstand und ohne Spannungsfeld. Was einem nicht passt, wird passend gemacht, – bis man den maßgeschneiderten Glauben hat und man sich wohl und bequem fühlt. Bloß keine Spannung. Dagegen ist zunächst nichts zu sagen. So soll es gern sein: Man darf und soll sich sicher, geborgen und aufgehoben, getröstet fühlen. Man darf eine Ort haben, an dem man in all den Unwägbarkeiten der sogenannten "Risikogesellschaft" endlich mal zur Ruhe kommen und durchschnaufen kann. Allerdings: Wahrscheinlich müssen wir damit rechnen, dass spirituelle Erfahrung auch aufregend, ja sogar stressig und beunruhigend sein kann. Die Transzendenzerfahrung des Ergriffenseins schleudert uns sozusagen über uns selbst hinaus.

Christliche Existenz aber geht weiter: "Ich bin die Wahrheit" - Jesu Botschaft verändert uns und stellt bisherige Gewissheiten und Wahrheiten in Frage. Die christliche Botschaft liefert uns denn auch keine Gratis-Sicherheit, sondern sie ist selbst ein Risiko und eine Herausforderung. So gesehen bekommt die Individualisierungs-These einen neuen Sinn: Die Anstrengung des Glaubens ist nicht delegierbar. Frei sein im Glauben, das ist Anstrengung, das macht Schwierigkeiten, das klingt nach einem komplexen Weg, der erst gegangen werden muss. Der Weg kennt Schneisen, Kreuzungen, Abwege, Tiefen und Berge, die unüberwindlich scheinen, Schlangengruben und Krisen. Er kennt Kriege und Zweifel. Er kennt Gottes unmittelbar spürbare Gegenwart und das Schreien: Gott, wo bist du! Er kennt Schrecken und Trost. Trost, Kraft, Stärke aus Glauben, vielleicht zuletzt und selbst als Unverfügbares. Nicht als Pflicht, nicht als Verpflichtung oder durch Anstrengung Erreichbares. Um das Größere wissen, an das Unverfügbare glauben, an das, was weder zu kontrollieren noch abzuschaffen, weder zu verbieten noch einzukaufen ist, - das ist die reiche, die wunderbare Seite der Freiheit im Glauben.

In diesem Glauben, da sollen sich die Gläubigen auch wohlfühlen. Sie dürfen Trost finden. Aber dieses Wohlfühlen, dieser Trost sind etwas gänzlich anderes als das, was wir gemeinhin mit "Wellness" verbinden. Das bleibt an der Oberfläche, das ist Geld gegen Wohlbefinden, das ist Pause machen, um genau da weiter zu machen, wo man aufgehört hat. Wohlfühlen im Glauben ist ein tiefes Ausatmen der Seele, ist ein Ankommen bei sich selbst, ist eine Zeit, in der Gott der Gastgeber in mir ist. Glaube ist auch Wellness, aber Wellness der Seele, der Tiefengeschosse der Seele, denn sie darf weinen und weit werden, sie kann loslassen und loslaufen, neu werden und gleich bleiben. Wenn man mal bedenkt, wie viel Zeit wir aufbringen, um unsere äußere Gestalt "in Form" zu bringen, - und nur die Hälfte davon für die Pflege der Seele übrig hätten, ich glaube wohl, viele von uns wären deutlich heiterer.

Glaube ist ein Gefühl, in dem Hingabe und Trost, Geben und Nehmen nicht mehr unterschieden werden müssen. Der Glaube ist keine Teilzeitaktivität, keine bloße Flucht aus dem Alltagsstress, sondern etwas, das uns als ganze Person ergreift, – und uns so erst zu ganzen und vollständigen Menschen macht. So gesehen ist jeder Gottesdienst eine ganzheitliche Erholung, die unsere Seele vollkommen umsorgt. Der Trost, der dort "angeboten und zugesprochen" wird, ist Einspruch gegen alle Angst und Hoffnung und gegen allen Kummer. Er ist aber auch Einspruch gegen allen Größenwahn und gegen alle Selbstüberschätzung. Es ist der Trost, der mich tanzen lässt. Nein, nicht auf dem Vulkan. Hier auf der Erde, aber ganz frei, ganz bei mir.

Ich bin sicher, Sie stimmen mir zu – hoffentlich. Wenn aber Glaube nicht nur meine Heimat sein soll, sondern auch die der anderen werden soll, dann gehört dazu auch, dass wir Christinnen und Christen hinaustreten in die Welt und von ihm erzählen. Dazu gehört dazu auch die Auseinandersetzung mit anderen, die Kontroverse, der Streit um Überzeugungen, – eben das, was wir gemeinhin Öffentlichkeit nennen. Dafür brauchen wir in der Kirche wahrnehmbare Stimmen, starke Senderinnen und Sender des Glaubens. Wir brauchen mehr Menschen, die zu ihrem Wagnis des Glaubens stehen und von der Einzigartigkeit dieser zugleich beruhigenden und beunruhigenden, entlastenden und fordernden Erfahrung mitreißend berichten können. Sowohl für die Gesellschaft als auch für die Kirchen selbst kann dieser Streit der Überzeugungen, so meine ich, nur vorteilhaft sein. Gut für die anderen, weil sie sich vielleicht anstecken lassen von der Schönheit des Glaubens. Gut für die Kirchen, weil sie die Anfrage von außen davor bewahren, ein in sich geschlossener und weltvergessener Verein zu werden.

Christliche Existenz heute heißt für mich, dass wir gerufen sind, für unsere christlichen Überzeugungen einzustehen, uns nicht entmutigen zu lassen von den Unzulänglichkeiten der Welt und von den eigenen, nicht von den Fehlern und den Kompromissen, die wir eingehen. Wir müssen die Welt immer wieder ein Stückchen besser machen wollen. Dabei "muss", wie Dietrich Bonhoeffer schreibt, " in der gegebenen Situation beobachtet, abgewogen, gewertet, entschieden werden, alles in der Begrenzung menschlicher Erkenntnis überhaupt. Es muss der Blick in die nächste Zukunft gewagt, es müssen die Folgen des Handelns ernstlich bedacht werden, ebenso wie eine Prüfung der eigenen Motive, des eigenen Herzens versucht werden muss. Nicht die Welt aus den Angeln zu heben, sondern am gegebenen Ort das im Blick auf die Wirklichkeit Notwendige zu tun, kann die Aufgabe sein." Seine Worte von damals gelten auch für uns heute.

Christliche Existenz heute, sie lohnt sich. Denn wer ja sagt zum Glauben, statt das Best-of-Paket ständig neu zusammenzustellen und neu zu suchen, der kann Orientierung finden in einem Leben, das täglich neu herausfordert, im Großen wie im Kleinen. Wer den Glauben als Kompass in einer unübersichtlichen Welt gefunden hat, der hat nicht mehr die permanente Qual der Wahl, sondern der hat die Freude der Gewissheit, dass es etwas Größeres gibt im Leben als das nächste neue Auto, etwas Wichtigeres als die letzten drei Emails und etwas Langfristigeres als den Ärger von gestern. Sogar etwas wichtigeres als die Politik.

"Wer die Asche hütet, den hat sein Herz getäuscht", heißt es bei Jesaja. Hüten wir das Feuer, entfachen wir es selbst, immer wieder neu, lassen wir es leuchten in eine Zeit, die uns sichtbar braucht, die einen sichtbaren Gott braucht. Und: Seien wir fröhlich dabei. Christliche Existenz ist fröhlich und unsere Fröhlichkeit ist ansteckend, denn sie ist mehr, als Heiterkeit oder Humor. Also, lassen Sie uns lachen und immer wieder fröhlich antworten: Ich habe Theologie studiert!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.