Evangelische Freiheit – wie viel Freiheit darf’s denn sein? Vortrag der Präses der EKD-Synode an der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Braunschweig

Katrin Göring-Eckardt

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren,

für heute Abend habe ich mir ganz frei ein Thema ausgesucht: über die Freiheit möchte ich sprechen. Freiheit – was für ein großes Wort – werden Sie jetzt vielleicht denken. Freiheit – wer wollte schon dagegen sein? Na klar: Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden, der Satz von Rosa Luxemburg stand auf den Plakaten im wilden Herbst 1989. Da haben wir schon eine Einschränkung: die Anderen. Oder auch jede und jeder selbst. Ist da in mir einen Einschränkung der Freiheit?

Ich bin in einem Land aufgewachsen, das sich selbst Diktatur nannte. Diktatur der Proletariats. Die Idee dieser Bezeichnung war natürlich, dass die, die die Mehrheit bilden auch das meiste zu sagen haben und weder das Kapital noch der König. Man hatte nicht bedacht, dass das Proletariat gar nicht einheitlich war und dass nicht jeder wollte, was angeblich gut für ihn war. Und vor allem hatte man nicht bedacht, dass es auch noch andere gibt, Minderheiten, die etwas anderes wollen. Vor allem solche, die einfach beschlossen hatten, dass sie selber denken können. Deswegen funktioniert ja Diktatur immer nur mit Drohung, mit Repression, mit dem Erzeugen von Angst. Deswegen ist es übrigens eine besondere Erfahrung, frei sein zu können, in der Diktatur: zu wissen – ihr könnt alles tun, ihr könnt versuchen, mich überall einzuschränken, mich einzusperren, am Ende ist da nur einer, dem ich untertan bin. Das ist der, der mich frei macht: Gott. Wenn ich über die Freiheit spreche – möchte ich nicht heute aber nicht über die politischen Schriften der Aufklärung oder über das deutsche Grundgesetz, auch wenn darin viel Gutes über die Freiheit steht. Ich möchte früher beginnen: Sozusagen bei unserem theologischen Grundgesetz und den Erklärungen, die die evangelische Kirche prägen. Es soll also um die Evangelische Freiheit gehen. Lassen Sie uns deshalb einige Miniaturen anschauen, an denen sich der Begriff der evangelischen Freiheit entfaltet.

 

1. Ägypten:

Kein Auszug eines Volkes aus der Knechtschaft eines anderen Volkes, hat jemals dieWeltgeschichte so verändert wie der Auszug der kleinen Schar der Israeliten aus dem mächtigen Ägypten. Ein Haufen Fronarbeiter, in einfachen und größtenteils ärmlichen Verhältnissen. Als Lumpenproletariat würde mancher sie heute bezeichnen, oder vielleicht auch als ausländische Drückeberger, die auf Kosten des ägyptischen Staates leben. Doch diese kleine Schar von Menschen ruft Gott in die Freiheit. Dieses kleine Volk, ohne Ansehen und Macht: Gott hat es lieb und also er befreit es. Sie kennen die Geschichte des Exodus. Sie kennen die Geschichte, wie das Volk Israel mit Gott an seiner Seite durch das Rote Meer läuft und die Wassermassen das gewaltige ägyptische Heer zerschlagen. Die große Militärmacht, die sich prunkvolle Paläste baute und als unbesiegbar galt, konnte es nicht verhindern, dass Israel sich aufmachte in ein eigenes Land. In eine eigene Zukunft. Sich aufmachte, in die Freiheit. Die Geschichte Gottes mit seinem Volk beginnt mit der Freiheit. Und Gott zieht mit. Gott ist ein Gott, der mitzieht, der mitgeht. Der lebendig ist. Siehe, heißt es in den Psalmen, der Gott Israels schläft und schlummert nicht (Ps 121). …

Sie hören es meinen Worten an, diese biblische Geschichte des Auszugs von Gottes Volk in die Freiheit, sie ist nicht singulär geblieben. Sie hat sich wiederholt, kleiner, unbedeutender, mit weniger Wunder, an vielen Orten in der Geschichte. Aber eben mit eben diesem Gefühl, dass es möglich ist, frei zu sein. Und dann? Auch das lehrt uns die Geschichte des Exodus, da hatte Israel nun seine Freiheit, war unterwegs in das eigene Land, aber der Weg war schwierig. Mühselig. So hatte man sich das gar nicht vorgestellt. Und schon fingen die ersten an zu motzen und zu maulen. Und sie sehnten sich zurück, nach den alten Verhältnissen. Sehnten sich zurück nach den Fleischtöpfen Ägyptens. Nach angeblicher Sicherheit und Gleichsein in der DDR.

 

2. Die Tore des Paradieses:

Einer, der ganz bestimmt nicht mehr zurück wollte in die alten Verhältnisse und deshalb päpstlichen Bann und kaiserliche Reichsacht auf sich nahm, war der Augustinermönch Martin Luther. Denn dieser Martin Luther hatte ein Problem gelöst, und zwar ein großes. Aber lassen Sie uns erst Mal schauen, was für ein Problem er eigentlich hatte. Denn tatsächlich war er immer schon ein guter Mensch und ein guter Mönch gewesen, was ja beileibe nicht immer dasselbe ist. Aber Martin Luther hatte Angst. Angst vor Gott. Aber warum?
Zum Glück schreibt Luther darüber selbst, zwar erst einige Jahre später, aber dafür viel interessanter und ehrlicher als so manche Biographien, die wir heute zu lesen bekommen. Lassen wir ihn selbst zuWort kommen: "Ich konnte", schreibt er, "ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben. Im Gegenteil, ich hasste ihn sogar.Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, fühlte ich mich vor Gott doch als Sünder und mein Gewissen quälte mich sehr. Ich wagte nicht zu hoffen, dass ich Gott durch meine Genugtuung versöhnen könnte. Und wenn ich mich auch nicht in Lästerung gegen Gott empörte, so murrte ich doch heimlich gewaltig gegen ihn…" (Vorrede zu Band 1 der lateinischen Schriften 1545). Luther litt. Unendliche Qualen. Die kirchliche Ansage aus Rom war klar. Gott ist gerecht. Begehst du eine Sünde, wird dich Gott strafen. Auch das ist gerecht. Das höchste Gebot nun aber, das Jesus gelehrt hatte, lautet: du sollst Gott über alles lieben. Wie aber soll man jemanden lieben, der einen, sobald man es nicht tut, unendliche Qualen und Höllenstrafen androht? Das ist, nebenbei, auch das Problem aller gewalttätiger Herrscher, die geliebt werden wollen. Luther hatte Angst und fürchtete sich schrecklich und hasste dieses Wort von der Gerechtigkeit Gottes.

Luther ringt mit dem biblischen Text. Doch dann fängt er an zu verstehen, langsam geht es ihm auf: die Gerechtigkeit Gottes, von der Paulus in seinen Briefen spricht, das ist nicht die Gerechtigkeit, mit der Gott uns straft, sondern mit der er uns, obwohl wir Sünder sind, durch Jesus Christus gerecht spricht. Nichts ist dafür notwendig, einzig allein der Glaube. Gott ist gerecht, weil er gerecht macht. Keine Höllenstrafe, kein Fegefeuer, kein zorniger Gott – was für ein Gedanke! Plötzlich war die Angst verschwunden, die Furcht. Die Freiheitserfahrung, die das Volk Israel mit seinem Auszug aus Ägypten erlebte, die erlebte Martin Luther in seinem Inneren. Und wir können uns vielleicht gar nicht genug vorstellen, wie es ihm dabei ging: "Da", schreibt er, "fühlte ich mich ganz und gar neugeboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein".

Es muss ein gewaltiges Freiheitsgefühl gewesen sein, immerhin passierte das, den meisten Forschern zufolge, inWittenberg. Und wer jemals dort war, wird sich sicherlich ein wenig wundern, dass sich ausgerechnet dort das Paradies öffnete. Aber immerhin haben diese Pforten des Paradieses dann später ganz schön imWeg gestanden, als man versuchte, das eigene, sozialistische Paradies zu errichten.

Mehr und mehr Menschen hören die befreiende Botschaft. Eine Bewegung entsteht und die Reformation beginnt. Plötzlich fegte ein frischer Wind oder genauer: Gottes Geist durch das alte Kirchengemäuer. Wie ein Kartenhaus fiel das bisherige Lehrgebäude der mittelalterlichen Kirche mit Papst und Ablass in sich zusammen. Alle alte Theologie wurde geprüft und neu durchdacht. Auch das ist Freiheit, nachzufragen, warum etwas so ist, wie es ist. Und die Begründung, "das haben wir schon immer so gemacht" – die zählt nicht mehr.

 

3. Sola fide:

Eigentlich sind es vier große Prinzipien, die den evangelischen Glauben prägen. Alle haben viel Freiheit in sich. Exemplarisch sei hier eines genannt. Sola fide – allein durch Glauben. Nicht wir entscheiden uns für Gott, sondern wir erkennen, dass er sich für uns entschieden hat. Es gibt keine Vorbedingung und keine Haken im Kleingedruckten. Wir brauchen Gott nur Recht geben, dass er uns als Sünder liebt und gerecht macht. Das ist der Glaube. Und "wer glaubt und getauft wird, wird gerettet werden" heißt es im Markusevangelium (Mk 16,16). Wir können uns unseres Heils ganz gewiss sein. Im Leben und im Sterben. So, wie Paulus schreibt: Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur und scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist (Röm 8,38f.).

Das macht frei – ungeheuer frei. Frei von der Angst vorm Leben und vorm Sterben, denn immer sind wir umgeben von Gottes Liebe. Was für ein Versprechen, was für eine Freiheit! Nun, auch ich will gar nicht so tun, als hätte nicht auch Angst und Furcht. Natürlich kennt das jeder von uns. Aber wir haben dieses Versprechen: ein angstfreies Leben und Sterben ist möglich. Und jeden Tag wieder können wir es stückchenweise mehr einüben. Jeden Tag auf Neue ein Stück weiter in unsere Taufe "hineinkriechen", wie Luther es sagt.

Diese Freiheit von der Angst hat Konsequenzen. Insbesondere für jene, die die Angst als Mittel ihrer Herrschaft nutzen und versuchen, sich mit Gefängnisoder Todesandrohung die Menschen gefügig zu machen. Sie müssen damit rechnen, dass es Christinnen und Christen gibt, die sich davon nicht einschüchtern lassen. Dass der ein oder andere ihnen in ihrem grausamen Spiel in die Speichen greift. Einer, der dies tat, und mit seinem Leben bezahlte, war Dietrich Bonhoeffer. Er wurde von den Nazis im KZ Flossenbürg ermordet. An seinem Leben zeigt sich eindrucksvoll, wie widerständig diese Freiheit aus dem Glauben sein kann. "Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens", sagte Dietrich Bonhoeffer kurz vor seinem Tod. Nun ist, Gott sei Dank, das Land, in dem wir leben ein demokratischer Rechtsstaat geworden, der uns keine Entscheidung auf Leben und Tod abzwingt. Im Gegenteil, er fordert uns sogar auf, sich einzumischen und mitzumachen.

 

4. "Niemand ist eine Insel":

Und nun also, da haben wir sie schon mehrfach gestreift, die evangelische Freiheit. Die Evangelischen sind frei, weil sie dem Evangelium von Gottes Gnade durch Jesus Christus trauen. In seiner großen Freiheitsschrift beschreibt Luther die Freiheit eines Christenmenschen bekanntermaßen so: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan". In seinem Verhältnis zu den Menschen wird der rechtfertigende Gott zum befreienden Gott. In ihrem Verhältnis zu Gott werden die gerechtfertigten Menschen zu freien Menschen. Also, "alles Freiheit, oder was"?

Nun, wenn es denn so einfach wäre, denn da gibt es ja noch etwas, was diese ganze Freiheit gewaltig stört. Denn, zum Glück, sind wir ja nicht allein auf der Welt, auch, wenn das neoliberaleWeltbild so tut. So, als ob wir alle freie Atome sind, die ohne Bindung an andere frei im Raum schweben. Oder Inseln. So wie z.B. Will Freeman, der Held in Nick Hornbys Roman "About a boy". Vielleicht haben Sie ja auch den Film gesehen. Finanziell durch eine Erbschaft gut ausgestattet, ist er der coole freie Yuppie. Schicke Mode, angesagte Musik, tolle Autos, attraktive Frauen. Als dieser im Fernsehen den Spruch "Niemand ist eine Insel“ hört, protestiert er: "Doch, ich! Ich bin eine Insel. Ich bin Ibiza." Und sicher würde ihm der Satz von Luther auch gut gefallen. Folgte diesem nicht gleich auch ein zweiter. Dieser aber, wird gern häufig unterschlagen und Sie werden gleich merken, warum. Denn zusammen lauten die Sätze so: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Frei ist der Mensch vor Gott. Ein dienstbarer Knecht aber für seinen Nächsten, in der Liebe. Denn zu Jesu höchstem Gebot gehört ja auch noch, dass wir unseren Nächsten lieben sollen, wie uns selbst.

Das nun aber hört sich im ersten Augenblick gar nicht mehr so frei an. Aber auch das ist ein wichtiger Teil der Freiheit, nur andersherum. Lassen Sie es uns so denken:Wir sind eben nicht allein auf der Welt und unser Menschsein vollzieht sich in Beziehungen. Wir mögen ja als Menschen alles Mögliche sein, aber wir sind jedenfalls keine Inseln!Und ich sage: zum Glück. Wie wäre es denn, wäre jeder von uns völlig allein? So wie Robinson Crusoe auf seine Insel. Wären wir denn dann frei?Wann ist man frei?Wenn man sich jeden Tag selbst sein Essen einsammeln und Kochen muss, oder wenn es da auch noch jemanden gibt, an dessen Kühlschrank ich ungefragt gehen darf?

Der liebevolle Umgang miteinander macht uns Menschen frei. Wenn ich weiß, ich muss nicht allein für mich sorgen. Freiheit ohne andere macht einsam und unglücklich. Denn da gibt es die anderen, die mir im Fall der Not helfen. Sicher, nicht jedem scheint diese Erkenntnis zu Eigen zu sein. Da gibt es oftmals Menschen, die offenbar lieber Hilfsbedürftige beschimpfen, als ihnen zu helfen. Sie mögen das aus mancherlei Gründen tun, aber, auch wenn sie so klingen, im Namen der Freiheit tun sie dies gerade nicht.

Zu diesen anderen gehören auch die Menschen kommender Generationen: all die Menschen, die nach uns kommen, leben und lieben werden. Darüber wird gerade – nicht nur in der Politik, sondern auch in der evangelischen Kirche, viel diskutiert. Unter Begriffen wie „Nachhaltigkeit“ oder „Generationengerechtigkeit“ sprechen wir darüber, welcheWelt wir eigentliche kommenden Generationen überlassen wollen. Was dabei auf dem Spiel steht und – mal mehr, mal weniger – radikal in Frage gestellt wird, ist die Wachstumslogik.

Dass wir Wachstum brauchen, und davon möglichst immer mehr und noch mehr, gilt ja als unhinterfragbareWahrheit. Und wer denWachstumsimperativ in Frage stellt, gilt als verrückt, als jemand, der offenbar am liebsten so schnell zurück will in die Steinzeit. Doch wer ist wirklich verrückt? Ist die Wachstumslogik wirklich so rational, wie ihre Fürsprecher gerne behaupten? WennWachstum das alleinige Kriterium für ein gelingendes Leben wäre, dann müsste man sich darüber freuen, wenn jemand sich in der Kneipe betrinkt und dann sein Auto zu Schrott fährt. Reparatur oder Neukauf bringen schließlich die Wirtschaft in Schwung. Anders, weniger zynisch gesagt: Der Maßstab des Wirtschaftswachstums anhand des Bruttoinlandsproduktes sagt absolut nichts darüber aus, wie lebenswert eine Gesellschaft wirklich ist. Wie solidarisch sie ist. Was für Kulturgüter sie hervorbringt. Wie in ihr miteinander umgegangen wird. Der renommierte Sozialpsychologe HaraldWelzer hat zurecht darauf hingewiesen, dass die gesellschaftlichen Fortschritte der letzten Jahrzehnte auf Bildung, Gesundheit und Kommunikation zurückgehen und nicht auf Wachstum. Und viele Umfragen bestätigen: Ab einem bestimmten Niveau hat die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes nur noch einen sehr geringen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit der Bevölkerung.

Trotzdem erklingt das Mantra „Wachstum, Wachstum, Wachstum“ nach wie vorgebetsmühlenartig . Man hat fast den Eindruck, als handele es sich um einen messianisch aufgeladenen Götzen. Dem ist wohl nur mit raffinierter Religionskritik beizukommen ...

Lassen Sie mich wegen der Aktualität an dieser Stelle kurz etwas zur Debatte um die Präimplantationsdiagnostik (PID) sagen. Wie Sie vielleicht wissen, stehe ich diesem Verfahren, bei dem künstlich erzeugte Embryonen auf schwere genetische Störungen getestet werden, sehr kritisch gegenüber. An der Haltung derjenigen, die die PID befürworten und fördern, erkenne ich etwas wieder, was mich auch beim Wachstumsmantra stört: Nämlich den Glauben, dass wir Menschen alles in der Hand haben, dass wir alles immer besser und perfekter machen können. Pro oder Contra "Wachstum, Wachstum, Wachstum?" Pro oder Contra PID? In beidem geht es letztlich um unser Menschenbild: Bin ich Herrin oder Herr über mein eigenes Leben oder lebe ich aus einer Kraft heraus, die sich mir entzieht, die unverfügbar ist. Auf ihre je eigeneWeise glauben Wachstums-Euphoriker und PID-Befürworter, dass Alles - unser Leben, unser Glück, unsere Zukunft - verfügbar und damit steuerbar ist. Mit dem christlichen Menschenbild hat dies nichts zu tun. Denn das christliche Menschenbild geht davon aus, dass wir aus einer Quelle heraus auf der Welt sind, die außerhalb unserer Zugriffsmöglichkeiten liegt. Und außerdem ist – wider den Perfektionswahn – für die Christin und den Christen auch behindertes oder sogar schwerstbehindertes Leben Ebenbild Gottes.

Zurück zur Wachstumsdebatte: Zum Glück gibt es immer mehr Menschen, die denWachstums-Götzen kritisch hinterfragen. Wachstumskritik ist alles andere als retro, sie ist ziemlich hip. Die Diskussion über die „Grenzen des Wachstums“ erlebt in unterschiedlichen politischen Milieus eine Neuauflage. Viele Bücher und Veranstaltungen widmen sich dem Thema, das nicht zuletzt durch die Wirtschafts-, Finanz- und Klimakrise wieder an Aktualität gewonnen hat. Die einfache Erkenntnis, dass Exzess und Maßlosigkeit früher oder später die Grundlagen unseres Zusammenlebens und die nachkommender Generationen zerstören, hat in letzter Zeit eine schockierende Anschaulichkeit bekommen. In der Debatte läuft dieser Prozess des Neu- und Umdenkens unter unterschiedlichen Labels. Manche nennen es akademisch „Suffizienz“, andere sprechen von qualitativem oder selektivemWachstum. Wieder andere von einer ‚Ökonomie des Genug‘ oder in Anlehnung an Aristoteles vom ‚Guten Leben‘. Bei all dem geht es aber mal mehr oder weniger, mal mit dieser mal mit jener besonderen Akzentsetzung um eine Kultur des Weniger.

Und das Schöne ist: Die gelebteWachstumsskepsis ist erfreulich ideologiefrei. Die Kultur des Weniger hat nämlich viel mit dem Thema meines Vortrags – mit der Freiheit – zu tun! Ob es das Milieu der sogenannten LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability) ist, die Aktivisten von „Degrowth“ oder „slow food“ oder einfach die junge Familie, die bewusst und ökologisch einkauft: Sie alle stehen für einen kulturellenWandel, in dem sich individuelleWerte wie Nachhaltigkeit und die Lust am Genuss mit dem zentralenWert der Freiheit verbinden. Denn die neuenWachstumskritiker sind keineswegs wandelnde Spaßbremsen, die uns bei trocken Brot und Bionade im groben Jutesack am spartanischen Bio-Holztisch sitzen haben wollen. Der Wandel der Lebensstile kommt ohne Verzichtsappelle aus. Statt Askese sind die neuen Lebensstile ein Versprechen auf mehr Freiheit. Sie bringen den verbreiteten Wunsch zum Ausdruck, aus der Wachstumszwangsjacke auszubrechen. Es handelt sich um Emanzipation im besten und aktuellsten Sinne: Emanzipation von der Behauptung, dass uns einzig und allein „Mehr Wachstum“ glücklich machen könne. In diesem Sinne sollte auch die Politik dieWende zur Kultur des Weniger nicht in Regulierungswahn ersticken.

Sie sehen: Freiheit ist eine ganz wichtige und zentrale Idee, wenn es darum geht, Antworten auf aktuelle Fragen und Fragen der Zukunft zu finden. Darum liebe ich glaube ich auch die evangelische Kirche … wegen der Freiheit. Der Freiheit im Glauben und der Freiheit der Kirche. Ich glaube, im Kern ist unser Glaube ein wunderschöner Segen Gottes. Er gehört zu den grundlegendsten, schönsten und wichtigsten Dingen, die ich in meinem Leben kennen gelernt habe. Einige von Ihnen wissen, dass ich gleichzeitig Präsidentin des Kirchentages 2011 in Dresden bin, und wir auch dort die Frage der Freiheit haben, welche Elemente und Bausteine wir neu einfügen und neu entdecken sollen, damit der Kirchentag nicht zu einer Routine wird, sondern immer wieder Kirche in Bewegung bleibt. Dies ist die Stelle für dieWerbepause: Lassen Sie sich herzlich einladen zum Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dresden!! …. mit der Pause möchte ich denn auch meine Rede beenden.