AMD-Kongress „Brannte nicht unser Herz ….“

Thies Gundlach

Dortmund

Liebe Kollegen und Kolleginnen, liebe Schwestern und Brüder,

25 Minuten Redezeit und ein volles Herz sichert verdichtetes Rangehen; deswegen geht es direkt los:

Wir Pfarrer und Pfarrerinnen haben den schönsten Beruf der Welt, ich jedenfalls möchte weder SPD-Vorsitzender werden noch Papst im Rom. Wir haben ein ungeheures Privileg: Wir dürfen hauptberuflich Gott suchen und Menschen kennenlernen, uns werden Geschichten anvertraut, die in der Regel nicht einmal „ziemlich beste Freunde“ hören. Wir dürfen Gottes Trost und Glanz zusagen in Zeiten der Freude und des Kummers, mitunter in den schönsten Räume einer Stadt oder eines Dorfes, wir können dem Nächsten helfen jenseits vieler Bürokratien und dürfen mahnen dort, wo Gott vergessen und darum der Mensch vernachlässigt wird. Der Pfarrberuf ist der schönste Beruf der Welt, weil er unerhört viele individuelle Gestaltungsmöglichkeiten zulässt. Ich komme durch meine Aufgabe im Kirchenamt der EKD ziemlich viel durch Deutschland und lerne viele Gemeinden und Kirchenkreise kennen: Ich habe noch nicht keine Gemeinde gesehen, die einer anderen gleicht; wer also „standardisierte Arbeitsanweisungen“ als Problem des heutigen Pfarramtes behauptet, kennt die Realität der Kirchen nicht. Natürlich: Arbeitsbedingungen kann man immer verbessern, das ist überwiegend eine Frage der Finanzkraft. Aber ein in Deutschland in der Regel auf höchstem Niveau ausgebildeter Pfarrer/in, der/die hat doch erst einmal unerhört gute Voraussetzungen, das Evangelium mit Lust und Leidenschaft zu verkündigen, Menschen um Gottes Wort zu sammeln und Gemeinde in großer Freiheit zu gestalten. Wir dürfen unseren Beruf nicht schlechtreden, denn ich bin überzeugt davon: Dafür haben weder unsere römisch-katholischen Kollegen Verständnis noch unsere ökumenischen Geschwister in Europa; und ich vermute, Christus auch nicht.

II.
Liebe Kollegen/innen, wir haben den schönsten Beruf der Welt, weil wir die schönste Aufgabe der Welt haben: „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Solange sein Wort weitererzählt, solange Gottes Wort verkündigt und Gottes Geist angerufen wird in unserer Kirche, ist er bei uns. Darum: Bangemachen gilt nicht! Nur weil sich die Welt verändert und wir nicht einfach so weitermachen können wie in den ersten 50 Jahren nach dem 2. Weltkrieg, gibt es keinen Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Wie heißt dieses wunderbare Kinderbuch Friedrich Karl Wächter: „Wir können noch viel miteinander machen“! Das ist es, wir schauen viel zu oft nach hinten und zählen nach, was alles nicht mehr so ist wie früher. Dabei sollen wir nach vorne auf Christus und seinen Auftrag schauen und sehen, was es noch für Möglichkeiten gibt. Gott stellt unsere Füße auf weiten Raum, wir aber fragen gleich nach Gummistiefeln und Regenmänteln.

Mein Credo nach 10 Jahren Reformprozesses lautet: Auf geht`s! Wer eine gute Idee hat, soll starten. Ich komme ja aus dem hohen Norden, da hieß ein Spruch in der Kneipe immer: „Nicht lange schnacken, Kopp in Nacken!“ Das war natürlich aufs Schnapstrinken bezogen. Aber manchmal hab ich das Gefühl, ich möchte mir selbst und den anderen zurufen: „Nicht lange schnacken, Sachen packen“ und losziehen, hinaus zu allen Völkern, die uns umgeben. Der Missionsauftrag Jesu im Matthäusevangelium hatte die Völker der damaligen Welt vor Augen. Wir müssen unsere Völker heute vor Augen haben: das Volk der modernen Performer z.B., das Volk der digitalen Nerds, das Volk der städtischen Hedonisten, das Volk der ländlichen Alternativen, das Volk der oberen Zehntausend, das Volk der Hartz IV-Empfänger usw. Die Sinus-Milieu-Studien zeigen uns, welche Völker wir mit unseren Arbeitsweisen und Sammlungsformen noch nicht oder nicht mehr erreichen. Und leider muss man sagen: Es sind viele Völker geworden, zu viele! Die geistliche Situation unserer Tage ist der urchristlichen Situation der ersten Jahrhunderte viel näher als der Reformationszeit oder dem 19. Jahrhundert. Deswegen geht die Ausstrahlungskraft der Gemeindeformen, die im 19. Jahrhundert entstanden sind und im 20. Jahrhundert ihre Blütezeit hatten, nun dem Ende entgegen. Die Parochie wird bleiben, natürlich, sie ist Grundbestand christlicher Arbeitsaufteilung! Aber die lokal ausgerichtete, allein am Wohnsitz orientierte  Gemeindeform hat kein Monopol mehr. Und wir sollten den Mut haben, neue Formen und überraschende Orte der Verkündigung auszuprobieren: Situative Gemeinde und Kirche bei Gelegenheit sind die Leitstichworte, überraschende Taufgelegenheiten und ungewöhnliche Anlasse für Gottesdienste sind erste Konkretionen.

III.
Hochverehrte Versammlung, nach meiner Wahrnehmung kann man die These gut begründen, dass wir in fast allen Hauptstücken der zukünftigen Herausforderungen weitgehend einig sind. Ich gehe stichwortartig einmal die Hauptstücke in der Reihenfolge ihrer Bedeutung durch.

  • In der innerevangelischen Ökumene hat der Protestantismus in Europa über die Stationen „Barmer Theologische Erklärung“, „Arnoldsheimer Abendmahlsthesen“ und der „Leuenberger Konkordie“ einen Weg gefunden, die ererbten Gegensätze zwischen lutherischen, reformierten und unierten Kirchen auszugleichen: „Versöhnte Verschiedenheit“ auf der Basis einer neuen Demut der dogmatischen Lehre (das berühmte „satis est“) ist das Geheimnis dieses Weges. Und wir wissen auch alle, dass damit im Kern nicht nur das Landeskinderprinzip aufgehoben ist, sondern auch, dass die theologischen Traditionen ihren unaufgebbaren Ort innerhalb der Gemeinschaft der Gliedkirchen haben, nicht ihnen gegenüber. Haben wir schon alles umgesetzt, was die Väter und Mütter grundgelegt und eröffnet haben?
  • In der Organisation der Gemeinden wissen wir seit vielen Jahren, dass wir viel flexibler werden müssen; wenn Pfarrer/innen 12 oder 15 Kirchgemeinden gleichzeitig betreuen müssen und dass auf einer Fläche von der Größe der Stadt Frankfurt, dann ist deutlich: Kirche in der Fläche geht nicht in den Gemeindestrukturen des 19. Jahrhunderts mit ihrem Versprechen der nahen Gemeinde. Dennoch gibt es nur wenige Versuche, andere Formen zu finden.
  • In der Verkündigung spüren wir alle, dass unsere Sprache uns verrät! Wir sprechen eine biblisch geprägte, dogmatisch korrekte Verkündigungssprache, von der wir aber alle wissen, dass sie außerhalb der immer schon vertrauten Kreise nicht mehr verstanden wird. Wir reden spanisch im indischen Umfeld. Wir wissen alle: Wir müssen mehrsprachig werden, gerade theologisch-geistlich, wir müssen Fremdsprachen lernen, nicht nur Altgriechisch oder Hebräisch, sondern die Vielzahl der heute gesprochenen Deutungssprachen. Die Sprache der Hollywoodfilme ebenso wie den Popsongdialekt, die Sprache der Atheisten ebenso wie den Kulturdiskurs, die Sprache der Einsamen ebenso wie den Dialekt der Hoffnungslosigkeit. Unsere Bibel – gerade in der Übersetzung Martin Luthers – bleibt unsere Sprachschule, unsere Muttersprache, aber wir wissen: wir müssen noch andere Sprachen lernen, um Gottes Trost allen Völkern nahezubringen.

Ich kann die Liste der gemeinsam etablierten Einsichten beliebig verlängern, dennoch ändern wir uns kaum, dennoch verharren wir oft in vorhandenen Positionen, Strukturen und Aufgaben, wohl wissend, dass sie nicht halten und helfen werden. Manchmal denke ich: Wir sind wie Abhängige, die zwar einsehen, dass ihre Lebensweise ungesund ist, denen aber keine Umkehr und Wandlung gelingt. Liebe Schwestern und Brüder: Was ist mit uns?

Im Reformprozess haben wir schon vor Jahren von den drei modernen babylonischen Gefangenschaften gesprochen: Von der Milieugefangenschaft, von der Sprachgefangenschaft und der Strukturgefangenschaft. Sitzen wir in einem Gefängnis und merken es nicht? Sind wir in Ketten gelegt, an die wir uns schon gewöhnt haben?

IV.
6 Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis. 7 Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen. Und der Engel sprach zu ihm: Gürte dich und zieh deine Schuhe an! Und er tat es. Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um und folge mir! 9 Und er ging hinaus und folgte ihm und wusste nicht, dass ihm das wahrhaftig geschehe durch den Engel, sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen. 10 Sie gingen aber durch die erste und zweite Wache und kamen zu dem eisernen Tor, das zur Stadt führt; das tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und gingen eine Straße weit, und alsbald verließ ihn der Engel. 11 Und als Petrus zu sich gekommen war, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt und mich aus der Hand des Herodes errettet hat und von allem, was das jüdische Volk erwartete.( Apg 12,6-17)

Der Engel war schon da, auch bei uns! Mit dem Reformationsjubiläum 2017 und der Vorbereitung durch die sog. Luther- oder Reformationsdekade mit ihren 10 Themenjahren hat uns ein Engel eine Aufgabe vor die Nase geschoben, die uns umkehren lassen kann hin zum Kern dessen, was wir sein sollen: Kirche der Freiheit!  Eine Kirche der Freiheit, die das Evangelium von der Freiheit als Auszug aus Angst und Trivialität versteht. Eine Kirche der Freiheit, die die Umkehr zu Christus als Kern der reformatorischen Einsichten als Gabe an für alle Christen und Konfessionen versteht, weswegen 2017 ein zutiefst ökumenisches Fest ist, zu dem wir nicht nur die Zivilgesellschaft einladen, sondern auch alle anderen christlichen Kirchen und Konfessionen. Doch vor dem Fest liegt die Besinnung auf das, was es wahrhaft zu feiern gilt: Nicht unsere Kirche zuerst, sondern Gottes Evangelium als Trost und Befreiung aller Welt. Was Luther und die Reformatoren gefunden haben ist eben jener Auszug aus dem Gefängnis der Angst, in das die damaligen Menschen des Mittelalters eingesperrt waren. Aber die Reformation ist keineswegs einfach wundersamer Weise losgegangen, sondern der Engel der Befreiung aus dem Gefängnis legt Wert darauf, dass wir nicht nackt und bloß einfach loszuziehen: „Und der Engel sprach zu ihm: Gürte dich und zieh deine Schuhe an! Und er tat es. Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um und folge mir!“

Also nicht ohne die vertrauten Schuhe und ihr Wissen um die alten Wege; nicht ohne den alten Mantel und seinen bewährten Schutz. Umkehr und Bekehrung, Aufbruch und Verwandlung beginnen nicht bei Null, sondern mit dem Erbe der Väter und Mütter. So war es bei Luther und den Reformatoren, so soll es auch bei uns sein: Lasst uns die Schuhe anziehen, denen die Wege durch Bibel und Glauben vertraut sind, und lasst uns den Mantel anziehen, der unser Herz schon einmal gewärmt und geschützt hat. Aber dann lasst uns auch wirklich die Ketten abwerfen, das Gefängnis aus Angst verlassen und neue Wege in der Stadt suchen. 

V.
Liebe Freunde, ich bin überzeugt, für dieses Aufbrechen im Geiste der Reformation ist der Pfarrer/die Pfarrerin der Schlüsselberuf. Das ist keine Abwertung anderer Berufe in unserer Kirche, auch keine Entwertung des für die evangelische Kirche unerlässlichen Laienelements auf partnerschaftlicher Augenhöhe, sondern das ist die Einsicht in die unabdingbare theologische Grundierung dieses Aufbruches. Theologie ist das Kerngeschäft des Pfarrberufs, es ist die entscheidende Profession, die Lust, über Gott und seine Welt nachzudenken und zu sprechen – eben Theo-Logie zu treiben, das ist der Kern der Berufung, die wir alle damals, als wir uns entschieden haben, im Herzen hatten. Und der Aufbruch aus den gegenwärtigen Gefangenschaften hin zu einer Kirche der Freiheit im 21. Jahrhundert, ist zuerst und zuletzt ein geistlicher Aufbruch, kein reines organisatorisches Handwerk. Wir müssen uns mental ändern, müssen den Auszug aus der Angst mit der Einkehr bei Gott verbinden, damit wir auch mit unserer Kirche den Aufbruch in die Welt wagen. Ich sehne mich nach einer Umkehr aus dem Geist einer Theologie, die Lust macht auf Gott und Sehnsucht nach Gottes Geist sät. Deswegen: Liebe Professoren/innen, liebe Ausbilder in der Kirche: Macht uns und der nächsten Generation Lust auf Gott und Neugier auf unsere Kirche, lehrt uns Gottes befreienden Engel sehen, führt uns aus mentaler Gefangenschaft und übt mit uns neue Sprachen. Denn aus solcher theologischen Leidenschaft erwächst dann auch ein Pfarrbild, das Mut zur Zukunft hat. Unsere Kirchen und Gemeinden brauchen kreative Köpfe, originelle Einfälle, ungewöhnliche Wege. So wichtig Rituale und Verlässlichkeiten sind, man kann darin auch erstarren und verkümmern, weil man glaubt, mit den Ritualen alle Sehnsucht nach Gott schon immer beantworten zu können. Dies aber müssen wir als die gewichtigste Anfechtung unserer Kirche in der Gegenwart hören: Es ist ja nicht die fehlerhafte Organisation, es ist auch nicht die mangelnde Koordination, es ist nicht die umständliche Entscheidungsfindung und auch nicht die lange Sitzungsdauer in unseren Kirchen, sondern in Wahrheit ist es unsere fehlende geistliche Ausstrahlungskraft. Von außen – so sagen manche – wirken wir oftmals als eine erschöpfte Kirche mit zu viel spiritueller Routine und zu viel religiösem Leerlauf. Natürlich kämpfen wir auch mit den wachsenden Erwartungen und den zurückgehenden Ressourcen, aber zuerst mit der inneren Erschöpfung, die uns von Gott nicht mehr lustvoll und tief, geistreich und suchend reden lässt.

VI.
Deswegen zuletzt ein Bild von dem Pfarrer/der Pfarrerin der Zukunft, den ich mir wünsche, dessen Herz brennt und der den schönsten Beruf der Welt ausfüllt: Gesucht werden Personen, die die zurückgehenden bzw. verbleibenden Ressourcen der Kirche geistlich gehaltvoll einsetzen; gesucht werden Geistliche, die mit weniger Menschen, mit geringeren Finanzen und mit weniger Ehrenamtlichen das Evangelium attraktiv verkündigen und neue Orte und Situationen, neue Sprache und Bilder, neue Milieu und Menschen finden, um Gottes Gnade weiterzusagen. Gesucht werden „geistliche Intendanten“ oder „künstlerische Leiter der Evangeliumsverkündigung“ für eine Vielfalt möglicher Gemeindeformen.

Intendanten waren historisch gesehen am Hofe die Fundus-Bewacher, die die Kleiderkammer des Fürsten unter sich hatten. Eine Schlüsselaufgabe, denn damals galt ja: „Kleider machen Leute“. Der Intendant bestimmte mittels des Kleiderfundus, wie und wo der König in welcher Gestalt erschien. Heute definiert man Intendanten als „gesamtverantwortliche Geschäftsführer und künstlerische Leiter“ größerer Institutionen oder Ereignisse. Intendanten gibt es nicht nur in Rundfunkanstalten, Opernhäuser, kleinen und großen Theatern oder Festspielhäuser, sondern auch für Festivals und große Kulturereignisse (z.B. Ruhr 2010). Intendanten sind zugleich Dienstvorgesetzter und künstlerisch-inhaltlicher Regisseur. Ich teile also nicht die weitverbreitete These, dass der „Schlüsselberuf der Kirche“ nur Theologie, Bildung und Seelsorge machen solle, aber gerade nichts mit dem notwendigen Umbau unserer Kirche zu tun haben solle. Pfarrer müssen zukünftig hochkompetent managen können, denn der anstehende Rückbau der Strukturen braucht keineswegs nur eine technische oder organisatorische Abwicklung, sondern erhebliche theologische und strategische Kompetenz. Warum aber die Kirchen für diesen schwierigen geistlichen Prozess das theologisch am intensivsten ausgebildeten Personal nicht einsetzen sollten, entzieht sich meinem Verständnis. Deswegen: Theologische Gestaltung der organisatorischen Herausforderungen durch ein Verständnisses des Pfarrberufes als Intendanz, das ist mein Vorschlag. Dazu noch einige weitere Aspekte: 

Der geistliche Intendant einer Gemeinde muss theologisch Sorge dafür tragen, dass die Gesamtdarstellung des Evangeliums in einer Gemeinde, einer Region oder einem Gestaltungsraum ein erkennbar reformatorisches Profil abbildet. Die klassische Leitungsverantwortung des Pfarrherrn rekonstruiert sich so als inszenatorische Gesamtverantwortung für die evangelische Gestalt der Verkündigung. Das besondere des Pfarrberufes ist seine Berufung zur Gesamtverantwortung, er muss seinem Verantwortungsbereich den inneren und notwendigen Zusammenhang mit der ganzen Kirche sichtbar machen und nicht allein Gemeindeinteressen vertreten. Während jeder Kirchen(kreis)vorstand legitimer Weise die Interesse der eigenen Institution vertreten kann und soll, muss der Pfarrer/die Pfarrerin die Gesamtperspektive einbringen, also auch die Interessen der Nachbargemeinden, der Kirchenleitung und der Gesamtstrategie. 

Der/die Pfarrer/in als künstlerische/r Intendant des Evangeliums soll nicht autoritär „seine“ Inszenierung des Evangeliums durchsetzen (die Zeiten eines H. von Karajans sind ja auch musikalisch längst vorbei), sondern die Inszenierungsideen gemeinsam mit anderen entwickeln. Intendanten sind künstlerische Leiter eines Ensembles, nicht Alleinunterhalter oder Alleskönner. Der Pfarrberuf der Zukunft muss das Gemeinsame im Blick haben, er muss andere Begabungen erkennen und andere Kompetenzen wahrnehmen; ein Autist oder Autokrat als künstlerischer Leiter ist eine Fehlbesetzung. Pfarrer/innen sollen interessante Theologen sein und Gewöhnlichkeit, Langeweile und Routine aus den Gemeinden vertreiben. Sie sollen mit weltläufiger Neugier und lebensnahe Menschenkenntnis handeln, sollen spannende Erzähler, wahrhaftige Tröster, glaubwürdige Helfer, barmherzige Mahner, kraftvolle Protestierer, klärende Seelsorger usw. sein - das Pfarrbild der Zukunft ist ebenso anspruchsvoll wie attraktiv. Aber dies in Gemeinschaft mit anderen, weswegen die Vorstellung, dass Ehrenamtliche lediglich die Aufgaben im „Theaterstück Gemeinde“ erfüllen, die das Pfarramt gerade für wichtig und richtig hält - von Kaffeekochen bis Gemeindebrief austragen – vorbei ist.

Gesucht werden sodann Pfarrer/innen, die nicht nur theologisch die „Marke evangelisch“ profilieren, sondern das Evangelium auch einfallsreich und kreativ inszenieren können, um missionarisch-einladend zu wirken. Dazu muss und darf der Pfarrberuf der Zukunft erhebliche Reformbereitschaft mitbringen. Unsere Kirchen braucht Persönlichkeiten, die nicht zuerst Besitzstände verteidigen, sondern gestalterische Kraft entwickeln, die notwendigen Konzentrationsprozesse kreativ zu gestalten. Geistliche Intendanz bezieht sich nicht nur auf eine Parochie, Intendanz braucht es auch auf Sonderpfarrstellen, auf die Vorbereitung von herausragenden Ereignisses wie z.B. eine „Nacht der Kirchen“ oder großen regionalen Tauffesten, in spezifischen Verkündigungssituationen in den Citykirchen oder an Tourismusorten, in ländlichen Regionen oder an neuen biographischen Schwellenschritten. Kreative Intendanz ist eine Grundbedingung des Geistlichen der Zukunft. Der Pfarrer der Zukunft sollte daher vor Kooperation und Regionalisierung, vor Fusionierung und Verzahnung keine Angst haben, sondern die Chancen erkennen, die diese Konzentration der Kräfte für die Verkündigung des Evangeliums bereithält. Wir brauchen Personen, die Zusammenlegung nicht verstehen als das lustlose Zusammenlegung von zwei oder drei zu klein gewordenen X-en zu einem großen X, sondern die aus zwei oder drei zu klein gewordenen X-en ein Y machen. Dann werden die Angebotsformen, -orte und -gestaltungen des Evangeliums vielfältig und vielstimmig, kraftvoll und kreativ sein. Der Pfarrer der Zukunft wird in verschiedenen Milieus arbeiten und eine Vielzahl von Sammlungsorten um das Evangelium gestalten müssen, die Vorstellung, dass er in seinem Berufsleben stets an einer oder zwei Arbeitsorten wird zubringen können, ist ein Versprechen, das die Kirchen nicht mehr geben sollten.

Dieses Verständnis vom Pfarrberuf der Zukunft als geistlicher Intendant des Evangeliums braucht - wie jede Intendanz - einen Grundsockel an Gestaltungsmöglichkeit. Man kann kraftvolle Inszenierungen nicht auf Kleinstbühnen mit Miniausstattung machen, und wenn es keinen Fundus gibt, braucht es auch keinen Intendanten! Deswegen ist es eine unabwendbare Aufgabe kirchenleitenden Handelns, Handlungseinheiten zu entwickeln, die noch etwas gestalten können. Dies sehe ich im Grunde als größte gegenwärtige Gefahr: Dass die Kirchen ihren Pfarrberuf banalisieren, indem sie den Pfarrer zum „Mädchen für alles“ machen und ihn als Küster, Organist, Sekretär, Gemeindeblattmacher usw. einsetzen. Am Ende ist der Pfarrer ganz allein und das Pfarrbild der Zukunft entspricht einem erschöpften Einzelkämpfer. Geistlicher Intendant ist auch als Gegenmodell zu diesem Pfarrbild der Kleinst-Einheiten-Betreuung. Es muss erreicht werden, dass es eine Mindestgröße von Handlungsspielräumen und Intendanzmöglichkeiten gibt, bei der auch andere Berufsgruppen (Musiker, Diakone usw.) und andere Spezialisierungen mitwirken können.

Zuletzt: Können eigentlich mehrere Intendanten an einem Ort zusammenarbeiten? Kann es an einem Ort in unserer Kirche mehrere künstlerische Leiter geben? Jede soziologische Untersuchung zur Situation des Pfarrberufes in unseren Kirchen signalisiert: Nicht nur die Einbindung in eine Gesamtverantwortung der Organisation wird in der Regel als Freiheitsberaubung betrachtet, sondern auch die Zusammenarbeit mit Kollegen/innen gilt als beschwerlich. Ich glaube aber, dass sich hier sehr viel gewandelt hat und wandeln wird: Die junge Generation ist schon sehr viel teamfähiger, sie kennen außer Konkurrenz und Abgrenzung auch gabenorientierte Zuordnung und Kooperation als Entlastung. Und das glaube ich wohl: Mit diesen Voraussetzungen kann und wird der Pfarrberuf als geistliche Intendanz des Evangeliums in unserer Welt das sein, was er immer schon war: der schönste Beruf der Welt.