Der Sport - ein Vehikel christlicher Werte?

Wolfgang Huber

Anlässlich des Jahresempfangs des Nationalen Olympischen Kommitees

1.

Ein olympiadefreies Jahr ist eines, in dem die nächste Olympiade vorbereitet wird – seien es die Sommer- oder die Winterspiele. Weichen werden gestellt; und für manche Weichen mag es schon zu spät ist. An der Spitze des NOK hat sich ein Wechsel vollzogen; in den Kreis derer, die dem neuen Präsidenten von Herzen eine gute Hand und Segen in seinem Tun wünschen, reihe ich mich gern ein. Ich freue mich sehr über die Gelegenheit, die sich heute für diesen Glückwunsch bietet.

Dass sich das Symposion über „Friedenserziehung durch Sport“ mit diesem Neujahrsempfang verbindet, halte ich für eine besonders glückliche Fügung. So ergibt sich auch eine doppelte Herausforderung. Die Frage nach der Aktualität der olympischen Idee verbindet sich mit der Suche nach dem Friedensbeitrag des Sports. Wie dringend und wie schwierig die Verantwortung für den Frieden ist, steht uns in diesen Tagen einer scheinbar unaufhaltsam näher rückenden Kriegsgefahr sehr deutlich vor Augen. Eine überschwängliche Rede über die Möglichkeiten von Friedenserziehung wird in dieser Situation niemandem über die Lippen kommen. Aber kein Hinweis darauf, dass die Entscheidungen an anderer Stelle getroffen werden, entbindet uns von der Frage, was für den Frieden geschehen kann und wo der jeweils eigene Beitrag liegt.

Selbst wer in bestimmten Konfliktsituationen den Gebrauch rechtlich verantworteter Gewalt als äußerstes Mittel nicht ausschließt, wird in der Pflege von Räumen der Gewaltfreiheit eine wichtige Voraussetzung dafür sehen, dass Gewalt ein äußerstes Mittel bleibt. Konsequenter, als das bisweilen geschieht, sehe ich deshalb eine erste ethische Verantwortung des Sports darin, dass er sich als ein Raum der Gewaltfreiheit versteht und bewährt. Gewaltsamkeit im sportlichen Wettkampf gefährdet nicht nur die Gesundheit des Gegners; und Aggressivität zwischen gegnerischen Sportfans gefährdet nicht nur die einzelne Sportveranstaltung. Beides tastet vielmehr den Sport als einen Raum der Gewaltfreiheit und damit seine Friedensfunktion selbst an. Ich halte es nicht für möglich, über die Friedlichkeit des Sports zu sprechen, ohne die Frage zu stellen, wie der Sport selbst ein Raum des Friedens sein und bleiben kann.

2.

Dass der Sport ein Raum des Friedens sei, ist aber eine der wichtigen Antriebskräfte des modernen Sports, insbesondere der modernen olympischen Bewegung. Ommo Gruppe hat die olympische Idee auf die einfache Formel gebracht, „dass im olympisch verstandenen Sport Erziehung zu sportlichem Können in ausdrücklicher Verbindung mit Erziehung zu Fairness und Friedlichkeit gesehen werden soll und dass dies für alle, die in diesem Sinn Sport treiben, gilt. Olympisch zielt dabei auf eine Form von Ganzheitlichkeit, die Streben nach sportlichem Können und Fairness im Handeln vereint.“ Diese Idee ist keineswegs auf sportliche Höchstleistungen beschränkt, sondern  kann sich auf allen sportlichen Leistungsstufen verwirklichen.

Ideen freilich dürfen nicht mit der Realität verwechselt werden. Wie nah oder fern sich Idee und Wirklichkeit stehen, wird im Blick auf die olympische Idee im nächsten Jahr ganz gewiss besonders intensiv diskutiert, wenn olympische Sommerspiele in dem Land stattfinden, auf das die olympische Idee sich beruft. Die Olympischen Sommerspiele 2004 in Athen werden viele zu einer besonders kritischen Nachfrage danach veranlassen, was von der olympischen Idee geblieben ist. Bestimmt die Verbindung von sportlichem Können mit Fairness und Friedlichkeit noch die olympische Wirklichkeit? Prägt sie noch die Wirklichkeit des Sports? Hat ein ethisches Nachdenken über den Sport im Zeitalter seiner Kommerzialisierung noch Sinn? Und vermag die christliche Ethik dazu etwas beizutragen? An diese Frage haben diejenigen vermutlich gedacht, die mir und Ihnen heute das Thema zugedacht und zugemutet haben: „Der Sport – ein Vehikel christlicher Werte?“

3.

Dieses Thema hat freilich etwas Verwirrendes an sich. Was ist „der Sport“? Und was sind „christliche Werte“. Diejenigen hier im Kreis, die sich im Sport auskennen, werden alsbald auf die Vieldeutigkeit des Begriffs, auf den Wandel der Sportkultur, auf den Übergang vom alten Sportsgeist zur modernen Sportlichkeit hinweisen. Und diejenigen, die etwas vom Christentum verstehen, werden sich nicht lumpen lassen und an anschaulichen Beispielen den Streit darüber illustrieren, worin denn die „christlichen Werte“ bestehen – in der Nächstenliebe etwa oder gerade in der Hochschätzung des Individuums in seiner Einmaligkeit? Ja manche werden diesen Streit überbieten und sich zu der Erklärung anschicken, der Sinn des christlichen Glaubens bestehe vorrangig überhaupt nicht in der Vermittlung von „Werten“, sondern in einer „wert-losen Wahrheit“, in der dem Menschen in seiner Gottesferne die Güte Gottes nahegebracht wird, ohne jede Bedingung, allein aus Gnade. Andere werden fragen, wieso denn in einer solchen Überlegung „christliche Werte“ besonders ausgezeichnet oder gar mit Vorrang ausgezeichnet werden sollen? Welchen Anspruch auf öffentliches Gehör können sie denn in einer pluralistischen Gesellschaft und erst recht in einer pluralistischen Weltgesellschaft noch erheben?

Auf den beiden Seiten unseres Themas warten also manche Klippen auf uns. Wie aber steht es mit der Verbindung? Der Sport als „Vehikel“ christlicher Werte? Ist das nun nicht eine allzu kühne Verknüpfung? Das Wort „Vehikel“ – Fahrzeug, Transportgerät – legt den Eindruck nahe, der Sport transportiere sozusagen automatisch christliche Werte – ob er das nun ausdrücklich will oder nicht. Aber mit Fahrzeugen oder Lasttieren ist das eben eine eigene Sache. Jesus erzählt nach dem Bericht des Lukasevangeliums das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Eine Schlüsselrolle in diesem Gleichnis spielt das Reittier des reisenden Samaritaners. Auf dieses Tier wird der Mann, der unter die Räuber gefallen und von ihnen halb tot geschlagen worden war, gehoben; so bringt der barmherzige Samariter ihn zum nächstgelegenen Gasthaus. Das Reittier des Samariters wird so zu einem Vehikel der Nächstenliebe. Aber von einem Automatismus kann keine Rede sein; das Tier hätte auch zu ganz anderen Zwecken verwendet werden können. Martin Luther vergleicht in einem kühnen Bild sogar den Menschen selbst mit einem Reittier; alles kommt darauf an, von wem er geritten wird: von Gott oder vom Teufel. In seiner Radikalität behauptet der Reformator, dieses Bild vom Menschen und seinem Geschick sei wesentlich realistischer als die Vorstellung vom „freien Willen“.

Das ist eine unbeabsichtigte und doch nicht fern liegende Radikalisierung des Themas: Wofür ist der Sport der Gegenwart ein Vehikel, ein Reittier? Für Gott oder den Teufel, für Spiel oder Kommerz, für den Kult des Körpers oder die Kultur des Friedens? Die Schwierigkeit mit solchen radikalen Fragen besteht in aller Regel darin, dass die Dinge sich in der Wirklichkeit mischen. Der Sport weist vielerlei Schattierungen auf: von der Freude an der Leistung bis zum Doping, von der respektablen, ja dankenswerten wirtschaftlichen Förderung des Breiten- wie des Leistungssports bis hin zu einer skrupellosen Kommerzialisierung, von Transparenz bis Korruption. Die Frage kann also nicht heißen, ob sich christliche Werte automatisch in den Sport übersetzen. Sie heißt eher, ob christliche Ethik und christliches Engagement einen Beitrag zum besseren Verstehen und zur verantwortlicheren Gestaltung des Sports leisten können. So gesehen verbindet sich diese Frage auch nicht mit der Vorstellung von einer exklusiven Verbindung zwischen christlichem Glauben und Sport.

4.

Das wäre auch reichlich vermessen. Denn zunächst liegt der Einwand nahe, dass der christliche Glaube zum Sport von Hause aus gar kein positives Verhältnis hat. Der Verweis auf eine christliche Tradition der Leibfeindlichkeit ist schnell zur Stelle, wenn die Rede auf das Verhältnis zwischen christlichem Glauben und Sport kommt. Der Sport, beispielsweise auch in Gestalt der olympischen Idee, wird deshalb in der Regel auch auf ganz andere Quellen zurückgeführt, auf die griechische Vorstellung von der Kalokagathie etwa, der Einheit zwischen Schönem und Gutem. Der Sport wird damit gedeutet als der Inbegriff des Zusammentreffens von Ethik und Ästhetik, ja als Religion eigener Art.

Coubertin, der Vater der modernen olympischen Idee, sah die Brücke zwischen dem alten und dem neuen Olympismus ausdrücklich darin, „eine Religion zu sein“. Avery Brundage hat das nachdrücklich übernommen. Von glühenden Verfechtern des „Olympismus“ wird dieser bis heute immer wieder als eine eigenständige „Philosophie“ oder gar „Religion“ mit missionarischem Anspruch und Auftrag betrachtet. Auch noch die in Tokyo 1990 verabschiedete Olympische Charta spricht vom „Olympismus“ als einer „philosophy of life, exalting and combining in a balanced whole the qualities of body, will and mind.“ 

Wer freilich den Olympismus als Religion betrachtet, kann der Frage nicht ausweichen, wer seine Götter sind. Die Phase, in der diese Götter in Vaterland, Rasse, Ruhm und Ehre gesehen wurden, steht uns noch deutlich vor Augen. Die Frage, ob sie nun in der wirtschaftlichen Vermarktbarkeit gesehen werden, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Väter der modernen olympischen Idee meinten freilich zumeist ein unbestimmteres religiöses Empfinden, das sich mit dem wiederkehrenden Ritus und der agonalen Struktur der sportlichen Wettkämpfe verbinden sollte.

Freilich gibt es auch eine andere Position, die diese Heraushebung des Olympismus aus der allgemeinen Sportbewegung gerade vermeiden möchte; sie bindet ihn stattdessen zurück an eine Deutung des Sports im ganzen als eines Kulturphänomens. In ihm verknüpft sich die Begegnung mit dem eigenen Körper mit gemeinschaftsstiftenden Erfahrungen und einem völkerverbindenden Potential, das in den Dienst des Friedens treten kann. Wettkämpfe im Bereich des Hochleistungssports heben in dieser Betrachtung zwar das Leistungsprinzip als ein wichtiges Moment des Sports besonders hervor. Aber bis in den Hochleistungssport hinein ist das Leistungsprinzip eingebunden in die besonderen Möglichkeiten der Persönlichkeitsbildung und der Gemeinschaftserfahrung, die der Sport bietet.

In einer solchen Betrachtungsweise soll einer Isolierung des Leistungssports gewehrt werden. Auch die spektakulären Formen des Leistungssports, die im Medienzeitalter herausgehobenes Interesse finden, sind Formen des Sports. Aber was ist Sport? Ich selber erkläre mir dieses Phänomen, indem ich an ihm drei Dimensionen unterscheide, die sich auch sonst im menschlichen Leben finden: die naturale, die personale und die soziale Dimension.

Sport hat eine naturale Dimension. Er ist eine Handlungsform, in welcher Menschen von den natürlichen Bedingungen des eigenen Lebens, der eigenen Körperlichkeit Gebrauch machen. Er vollzieht sich in aller Regel als Bewegungshandeln in Raum und Zeit; in diesem Bewegungshandeln verbindet sich die Natur des Menschen mit der ihn umgebenden Natur. In Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit hat dieses Bewegungshandeln einen wichtigen Maßstab und ein wichtiges Ziel.

Sport hat eine personale Dimension. Er dient der Entfaltung der persönlichen Würde; er ist Ausdruck menschlicher Kreativität und Gestaltungskraft. Im Sport begegnet der Mensch sich selbst in der Einheit von Körper, Seele und Geist.

Sport hat schließlich eine soziale Dimension. Im Sport begegnen Menschen einander. Sport ist eine Form menschlicher Kooperation. Das Zusammenspiel ist für ihn ebenso ursprünglich wie der Wettkampf. Er ist das Urbild einer Sozialität, in der Kooperation und Konkurrenz keine Alternative bilden, sondern unlöslich miteinander verschwistert sind. Im Sport erfahren Menschen, dass sie aufeinander angewiesen sind und sich wechselseitig stärken, dass sie einander herausfordern und miteinander wetteifern können.

5.

In diesen drei Dimensionen ist Sport nicht Religion, aber er ist offen für die religiöse Dimension, für den Gottesbezug menschlichen Lebens. Das gilt gerade auch für die naturale, auf die eigene Körperlichkeit bezogene Dimension des Sports. Denn es stimmt gar nicht, dass Leibvergessenheit oder gar Leibfeindlichkeit das bestimmende Motiv für das Verhältnis des christlichen Glaubens zur eigenen Körperlichkeit wäre. Dietrich Kurz hat vielmehr ganz zu Recht drei wichtige Hinweise hervorgehoben, die der christliche Glaube dafür gibt, wie das Verhältnis zum eigenen Körper verstanden, gestaltet und geordnet werden kann. Unser Körper als Schöpfungsgabe, die Endlichkeit unseres leiblichen Lebens und unsere Verbundenheit mit anderen in unserem Körpersein – das sind die drei Dimensionen, die er hervorhebt.

Unter ihnen steht die Einsicht vornean, dass für den christlichen Glauben der eigene Körper als von Gott gegeben, als Teil von Gottes guter Schöpfung verstanden wird. „Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“ (1. Mose 1,31). Dass Gott seine Schöpfung gutheißt, ist die Grundlage des Segens, mit dem er sie begleitet. Denn Segnen heißt ja nichts anderes als gut-heißen, gut-sprechen, durch die göttliche Zusage zum Guten wenden. Die griechischen und lateinischen Wörter für Segen – benedicere und eulogein – heben das auch sprachlich hervor.

Als uns von Gott anvertraute Gabe können wir unseren Körper genießen, feiern, müssen ihn aber auch bewahren und pflegen. Mit starken Worten unterstreicht der Apostel Paulus das, den man in besonderer Weise als einen Anwalt der Leibfeindlichkeit zu charakterisieren pflegt. „Wisst ihr nicht – so heißt es bei ihm - , dass euer Leib ein Tempel des heiligen Gottes ist?“ (1. Korinther 6,19). Den Leib als Tempel Gottes zu bezeichnen, ist ein kräftiges Bild; aber zur Vergötzung des Körpers gibt dieses Bild keinen Anlass. Vielmehr ist zwischen beidem konsequent zu unterscheiden. Der Sinn unseres Lebens zeigt sich auch in körperlichen Vollzügen, aber er entstammt nicht unserem Körper. Was unser Leben wertvoll macht, zeigt sich auch an unserem Körper und an dem, was wir mit ihm tun; aber der Wert unseres Lebens entstammt nicht unserem Körper. Das ist der Sinn der radikalen Kritik des „Fleisches“, die in der christlichen Tradition ebenfalls auf den Apostel Paulus zurückgeht: „So sind wir nun nicht dem Fleisch schuldig, dass wir nach dem Fleisch leben“ (Römer 8,12).

Die Unterscheidung zwischen der Hochschätzung des Körpers als Tempel Gottes und einem Körperkult, in dem der Körper selbst zum Götzen gemacht wird, ist in der christlichen Tradition tief verankert. Diese Unterscheidung gewinnt heute eine besondere Aktualität. Man muss nicht an die Exzesse im Verhältnis zum eigenen Körper denken, die augenblicklich in den hybriden Plänen zu reproduktivem Klonen und in den weltanschaulichen Vorstellungen, mit denen solche Pläne gerechtfertigt werden, zum Ausdruck kommt. Und doch kann man in dieser Diskussion ein Verhältnis zum menschlichen Körper und seiner genetischen Ausstattung entdecken, die von der Vorstellung geprägt ist, dass der Mensch sich aus eigenen Kräften zu „verewigen“ vermag. Verweigerung gegenüber der eigenen Endlichkeit erweist sich als ein wichtiges Motiv auch in manchen Formen eines übertriebenen Körperkults. Auch im Verhältnis zum eigenen Körper kann es furchtbar sein, wenn die Menschen Gott spielen.

Wir wissen heute mehr über unseren Körper als frühere Generationen; wir haben mehr Möglichkeiten, auf ihn Einfluss zu nehmen. Doch je weiter Wissen und technische Möglichkeiten reichen, desto wichtiger ist es, elementare Unterscheidungen im Bewusstsein zu halten. Zu ihnen gehört die Unterscheidung zwischen dem, was für Menschen machbar ist und was der Machbarkeit entzogen bleibt. Im Verhältnis zum eigenen Körper begegnet diese Erfahrung besonders intensiv. Menschliches Leben entsteht und vergeht; Anfang und Ende des eigenen Lebens liegen nicht in unserer Hand. Sport kann nicht nur die wichtige Erfahrung vermitteln, dass wir mehr zu meistern vermögen, als wir zunächst dachten. Er vermittelt nicht nur die Erfahrung, dass wir Grenzen hinausschieben können. Er verhilft auch dazu, Grenzen zu erfahren und anzuerkennen. „Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde“ heißt es beim Propheten Jesaja (Jesaja 40,6).

Den Körper als Gottes Tempel zu achten ist etwas anderes als den eigenen Körper als Gott zu verherrlichen. Das ist besonders wichtig im Verhältnis zu anderen. Die Verherrlichung des gesunden Körpers nämlich schlägt unweigerlich in die Verachtung des kranken Körpers um. Wenn sich das agonale Prinzip der olympischen Idee verselbständigt, dann wird die Freude über den Erfolg zu einem Kult der Siegertypen. Das olympische Bild vom Menschen braucht deshalb die Korrektur durch das jesuanische Bild vom Menschen. Die Verletzlichkeit des menschlichen Lebens, die Würde des Leidenden, die Kraft, die sich nur in der Schwachheit zeigt: wenn all das nicht mehr als zum Menschsein gehörig wahrgenommen wird, dann leidet die Menschlichkeit Schaden.

Was wir von der menschlichen Würde halten, zeigt sich in besonderen Maß daran, wie wir mit der Würde derer umgehen, die unseren Idealen von Schönheit, Fitness und Erfolg nicht entsprechen. Nicht nur Fairness, sondern Compassion ist ein Wert, der auch im Sport wieder mehr Raum braucht.

Wenn von „christlichen Werten“ überhaupt die Rede sein soll, muss dieser Wert vornean stehen. Die Nächstenliebe, von der das Neue Testament spricht, und die Verantwortung für den Nächsten, zu der es einlädt, orientieren sich in besonderer Weise am Leid des Mitmenschen. Jesus selbst wird als einer geschildert, der sich den Leidenden zuwendet und sie aufrichtet. Eine seiner kurzen Erzählungen, die Weltgeschichte gemacht haben – man braucht kaum eineinhalb Minuten, um diese Geschichte vom barmherzigen Samariter ungekürzt vorzulesen – , stellt denen, die in einem vermeintlich höheren Interesse am leidenden Mitmenschen vorübergehen, den wenig geachteten Fremden gegenüber, der sich vom Leid seines Mitmenschen aufhalten lässt. Leid zur Sprache kommen zu lassen, vermeidbaren Schmerz zu vermeiden, Compassion nicht zu verweigern und die Verantwortung für die Integrität des andern nicht zu versäumen: das ist eine Dimension der Mitmenschlichkeit, für die der christliche Glaube steht. Er hat diese Dimension in seiner Geschichte selbst oft genug verdunkelt. Christliche Kirchen haben bisweilen eher Menschen ihre Schuld vorgehalten als ihr Leid mit ihnen getragen; sie haben mehr von der Sünde geredet als von der Compassion – jenem Grundimpuls der Mitmenschlichkeit, der in seiner deutschen Übersetzung als „Mitleid“ allenfalls noch lächelndes Achselzucken auslöst. Dabei kann man sogar noch bei Fernsehübertragungen von Sportereignissen beobachten, wie es Menschen anrührt, wenn wirkliche Compassion, echte Fürsorge für einen gefährdeten oder verletzten Gegner, den Geist des Wettkampfs und des Siegenwollens in die Schranken weist.

6.

Erst diese Compassion nämlich, eine Leidempfindlichkeit, die sich von Wehleidigkeit gründlich unterscheidet, schafft eine Basis dafür, dass sich in uns und um uns eine Kultur der Achtung entwickeln kann. Wo nur derjenige Anerkennung genießt, der sich durch besondere Leistungen oder besonderes Glück hervortut, steht es um eine solche Kultur der Achtung nämlich schlecht. Solange wird nämlich die Achtung der einen mit der Geringschätzung der anderen erkauft. Auch im Sportbetrieb ist das nicht unbekannt. Die mediale Vermarktung des Sports trägt dazu erheblich bei. Ich will nicht missverstanden werden: Leistung verdient Anerkennung; und der Stolz über Gelungenes braucht seinen Raum, die Freude über den Sieg eingeschlossen. Doch der Sieger, der vergisst, wie ihm als Verlierer zu Mute war, verfällt dem Hochmut. Der Leistungsfähige, der für die kontingenten Bedingungen der eigenen Leistungsfähigkeit blind ist, erweist sich genauso als ein Tor wie der reiche Kornbauer, von dem Jesus in einer anderen seiner kleinen Erzählungen sagt, mit allem seinem Reichtum habe er seinem Leben keinen einzigen Tag hinzufügen können.

In aller Regel betrachtet man das Fairness-Prinzip als das grundlegende Prinzip, durch das christliche Werte in den Sport Eingang gefunden haben. Meine Überlegung zielt darauf, diesen Beitrag tiefer anzusetzen. Nicht erst in der Fairness, sondern in der Compassion vermittelt der christliche Glaube ein Verhältnis zum andern, das den sportlichen Wettkampf davor bewahrt, in eine Missachtung des Gegners umzuschlagen. Den Zusammenklang von Wettkampf und Compassion kann der Sport auf einprägsame Weise darstellen und durch den herausgehobenen Stellenwert, der ihm in den Medien zukommt, den Menschen nahe bringen. Darin läge auch ein höchst wirksamer Beitrag des Sports zum Frieden.

7.

Damit schließt sich der Kreis. Die Frage nach „christlichen Werten“ allein, so scheint es, genügt nicht. Friedensfähig ist gerade ein Sport, der sich nicht selbst als Religion versteht, der den menschlichen Körper als „Tempel Gottes“ achtet, ohne ihn selbst zu vergötzen, und der bei allem Willen zum Sieg die Compassion mit den Leidenden, den Unterlegenen, den am Rande Stehenden nicht vergisst. Ein solcher Sport kann sich tatsächlich als ein Raum der Gewaltfreiheit bewähren und so seinen Beitrag zum Frieden leisten.