Jenseits des Säkularismus? Zum Verhältnis von Religion und Recht

Wolfgang Huber

Ökumenischer Kirchentag Berlin, Französische Friedrichstadtkirche

Werkstatt Religion in der „postsäkularen Gesellschaft“

I.
Ob wir in einer „postsäkularen Gesellschaft“ leben, weiß ich nicht. Ich habe mit dem Begriff des „Postsäkularen“ ungefähr so viele Schwierigkeiten wie mit dem Begriff der „Postmoderne“. Vielleicht ist die Rede von der „postsäkularen Gesellschaft“ nur daraus entstanden, dass wir es uns mit der Behauptung zu leicht gemacht haben, die Gesellschaft sei säkular.

Darum stelle ich die These voran: Säkular ist die Rechtsordnung, aber nicht die Gesellschaft. Selbst wenn die Gesellschaft „postsäkular“ wäre, müsste die Rechtsordnung säkular bleiben. Aber auch wenn die Rechtsordnung säkular ist, braucht die Gesellschaft nicht pauschal als säkular betrachtet zu werden.

Gewiss hat sich in den Gesellschaften Mitteleuropas die Rolle der Religion gewandelt. In einem epochalen Vorgang, der Jahrhunderte überspannt, ist die öffentliche, durch die Kirchen vertretene Religion von der Aufgabe befreit worden, politische Herrschaft legitimieren zu müssen. Die Zeiten, in denen die staatlichen Gesetze in einem festgelegten Turnus sonntags von allen Kanzeln verlesen wurden, damit die Bürgerinnen und Bürger wussten, worin der von ihnen erwartete politische Gehorsam bestand, sind Gott sei Dank vorbei. Die Loyalität gegenüber der politischen Ordnung wird heute auch nicht mehr als ein Gehorsam verstanden, der mit dem Gehorsam gegenüber Gott auf einer Stufe steht. Diese Loyalität ist vielmehr immer begrenzte Loyalität; der neutestamentliche Grundsatz, dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen (Apostelgeschichte 5, 29), hat im demokratischen Rechtsstaat einen ganz praktischen Sinn bekommen.

Mit diesem Wandel im Verhältnis zwischen Religion und politischer Ordnung ist auch der soziale Zwang geschwunden, mit dem die öffentliche Religion zuvor ausgezeichnet war. Man ist frei darin, sich zu einer Kirche zu bekennen oder auch nicht. Die Religionsfreiheit bezieht sich heute nicht nur auf die Freiheit zur Religion; sie beschränkt sich auch nicht auf das Recht, ein von der Mehrheit abweichendes religiöses Bekenntnis zu haben. Sondern sie schließt auch das Recht ein, auf jedes religiöse Bekenntnis zu verzichten. Auch die Freiheit von der Religion ist durch das Recht auf Religionsfreiheit gedeckt. Aber es ist eine Verkehrung, wenn man denkt, die Freiheit von der Religion habe den Vorrang vor der Freiheit zur Religion. Die reformatorische Einsicht, dass Glaubensüberzeugungen ohne Gewalt, allein durch das Wort entstehen, hat in der europäischen Neuzeit in den tatsächlichen Entwicklungen eine Bestätigung gefunden.

Zweifellos gibt es auch Tendenzen, die über eine solche freiheitsfördernde Entkoppelung zwischen Religion und politischer Ordnung hinausgehen, ja sie aufs Neue in Frage stellen. Insbesondere Deutschlands Geschichte im 20. Jahrhundert hat eine geistige Landschaft hinterlassen, in der für manche der Säkularismus selbst zu einer Art Religionsersatz geworden ist. Manche vertreten mit erstaunlicher Unbefangenheit die These, 2000 Jahre Christentum seien genug, und richten sich gedanklich auf ein 21. Jahrhundert ohne Christentum ein.

Doch zugleich gibt es unübersehbare Gegenbewegungen. Menschen fragen nach einer tragfähigen Grundlage für ihr Leben – einer Grundlage, die auch angesichts der Endlichkeit menschlichen Lebens Bestand hat und auch den Fragen nach Schuld und Vergebung nicht ausweicht. Freude wie Leid werden nicht nur erlebt, sie wollen auch verarbeitet werden. Klage und Dank verlangen nach Sprache. Aus der Vereinzelung heraus suchen Menschen nach Gemeinschaft. Mehr Menschen sammeln sich heute in Gottesdiensten als noch vor wenigen Jahren. Die Gesellschaft ist nicht so säkular, wie manche angenommen haben. Diese Beobachtung verbirgt sich hinter die Behauptung, sie sei nun postsäkular geworden. Mich würde es mehr überzeugen, wenn man die Säkularität besser versteht und ihre Grenzen genauer bestimmt.

II.
Hätte die Rede von der säkularen Gesellschaft als Totalbeschreibung jemals gestimmt, hätte man sich ja gar nicht erklären können, wieso die Kirchen als Teil dieser Gesellschaft überhaupt nach wie vor eine Rolle spielen. Sie hatten aber beispielsweise in der Wende der Jahre 1989/90 ein großes Gewicht und verstehen seitdem in vielen Teilen Europas ihre Aufgabe als Teil der Zivilgesellschaft neu. Wenn es stimmen würde, dass wir in einer säkularen Gesellschaft leben, bräuchte man sich auch nicht darum zu kümmern, dass in unserer Gesellschaft mehrere Religionen vertreten sind; denn gesellschaftlich wäre das dann ja irrelevant. Der Begriff der multireligiösen Gesellschaft hätte gar nicht entstehen können, wenn die Behauptung von der säkularen Gesellschaft richtig wäre. Religion ist offenbar ein Faktor in der gesellschaftlichen Pluralität; der Islam ist in Deutschland wie in Europa neben dem Christentum die zweitgrößte Religion. 3,4 Millionen Muslime in Deutschland, darunter mehr als eine halbe Million mit deutscher Staatsangehörigkeit, bilden einen wichtigen gesellschaftlichen Faktor. 

Um der Zukunft der Gesellschaft willen muss man es also ernst nehmen, dass wir in eine multireligiöse Situation eingetreten sind. Nicht nur im Blick auf das Christentum, sondern auch im Blick auf andere Religionen ist neu nach ihrer Rolle im öffentlichen Raum zu fragen. Religiöse Argumente werden auf neue Weise auch im politischen Diskurs verwendet. Der Kampf der Kulturen, von dem Samuel Huntington schon vor Jahren gesprochen hat, nimmt in wachsendem Maß religiöse Züge an. Plötzlich tritt uns die Verbindung von Religion und Gewalt wieder in einer Form entgegen, von der wir angenommen hatten, sie sei überholt.

III.
Die Rechtsordnung muss funktionieren, auch wenn man voraussetzt, dass es Gott nicht gäbe. So haben es schon Theologen des späten Mittelalters gelehrt; Hugo Grotius hat diese Überzeugung dem modernen Völkerrecht in die Wiege gelegt. Von den elementaren Grundsätzen des Rechts – dem sogenannten Naturrecht – haben diese Denker behauptet, sie seien aus sich selbst heraus einsichtig und verständlich. Sie müssten selbst dann Gültigkeit beanspruchen, wenn man annähme, es gäbe keinen Gott. Als nach der Reformation die Anhänger der verschiedenen Konfessionen sogar mit kriegerischer Gewalt gegeneinander vorgingen, gewann diese Überlegung eine unerwartete Aktualität. Das Zeitalter der konfessionellen Bürgerkriege rief geradezu nach einer Rechtsordnung, die vom konfessionellen Bekenntnis unabhängig war. Der säkulare Charakter der Rechtsordnung ist also eine notwendige Antwort auf den unfriedlichen Charakter der Religion. Dieser Tatsache muss man sich stellen, ob einem das bequem ist oder nicht. Sie wird verharmlost, wenn Hans Küng in seinem „Projekt Weltethos“ die These vertritt: „Kein Weltfriede ohne Religionsfrieden“. Man muss nämlich zunächst feststellen: Kein Weltfrieden ohne die Unterscheidung des Rechts von der Religion. Der Beitrag der Religionen zum Frieden muss deshalb einschließen, dass sie nicht den Anspruch an das Recht erheben, es müsse die Forderungen einer Religion mit den Mitteln der staatlichen Gewalt durchsetzen. Die Religionen sollen die Befolgung ihrer Gebote vor allem durch Überzeugung erwirken. Die staatliche Gewalt  können sie dafür nur insoweit in Anspruch nehmen, als das um des Rechtsfriedens selbst willen nötig ist. Forderungen an die Rechtsordnung haben ihren Maßstab immer daran, ob sie der Freiheit und dem Frieden aller dienen; auch wenn solche Forderungen im Namen der Religion vorgebracht werden, müssen sie den Nichtglaubenden genauso zu Gute kommen wie den Glaubenden.

IV.
Eine Religionsgemeinschaft, die auf die Rechtsordnung Einfluss nehmen will, kann das in der so entwickelten Perspektive also nur, wenn sie sich zum Anwalt einer universalistischen Perspektive macht. Die gleiche Würde aller Menschen muss ihr Ausgangspunkt sein. Die elementaren Menschenrechte sind ihr wichtigstes Thema. Der Schutz, die Bewahrung und die Entfaltung menschlichen Lebens sind ihre wichtigsten Ziele. Sie macht geltend, dass menschliche Würde erst dann radikal begriffen ist, wenn sie von den Eigenschaften und Leistungen des Menschen unabhängig gedacht ist. Eine solche radikale Begründung für Würde und Recht des Menschen findet der christliche Glaube darin, dass der Mensch nicht durch seine eigenen Eigenschaften und Leistungen erst zur Person wird, sondern dass er eine solche mit Würde ausgestattete Person ist, weil er von Gott geliebt und anerkannt ist. Um dieser göttlichen Liebe und Anerkennung willen ist Gott in Christus Mensch geworden; um ihretwillen stehen Tod und Auferweckung Jesu im Zentrum des christlichen Glaubens.

Damit die Menschenwürde radikal gedacht und deshalb auch konsequent geachtet wird, bringen Christen ihr Bekenntnis in den Streit um die richtige Gestaltung des Rechts ein. Sie haben das keineswegs immer so getan. So sehr sich die geschilderte Vorstellung von der Würde des Menschen aus dem christlichen Glauben ergibt, so sehr muss man doch auch bekennen, dass die christlichen Kirchen lange gebraucht haben, bis sie sich zu dieser Erkenntnis durchgerungen haben. Es gibt keinen Grund dafür, die christliche Einsicht in das Verhältnis von Religion und Recht mit Triumphgeheul zu verkünden. Es gibt aber auch keinen Grund dazu, diese Einsicht zu verschweigen. Sie muss vielmehr geltend gemacht werden – nach innen wie nach außen.

Das wird unweigerlich in einen Streit um die Religion münden. Denn mit der so entwickelten Perspektive ist ein religiöses Selbstverständnis unvereinbar, das den einen mehr Rechte zubilligen möchte als den anderen. Die Vorstellung, man könne dieses größere Recht dann auch noch mit Waffengewalt durchsetzen, lässt sich auf dieser Grundlage nicht aufrechterhalten. In unterschiedlichen Varianten begegnen wir heute aber in allen drei monotheistischen Religionen der Vorstellung, für die Durchsetzung der eigenen Vorstellungen mit Waffengewalt könne durchaus die göttliche Autorität in Anspruch genommen werden. Selbstmordattentate werden so gerechtfertigt; heilige Kriege werden so ausgerufen; die Bitte um den Segen für die eigenen Waffen im Kampf gegen eine „Achse des Bösen“ wird so begründet. Doch der eine Gott, zu dem sich je auf ihre Weise Juden, Christen und Muslime bekennen, wird dadurch in Wahrheit zu einem Gott des eigenen Stammes, der eigenen Nation, des eigenen Weltmachtanspruchs gemacht. Er wird als der eine Gott auf diese Weise aber gerade verleugnet. Deshalb betrachte ich die Berufung auf den Gottesnamen zur Rechtfertigung von Gewalt als eine Blasphemie.

V.
Das Ergebnis dieser Überlegung ist, so hoffe ich, deutlich geworden. Es lässt sich in zwei Sätzen zusammenzufassen. Man muss zwischen Religion und Recht klar unterscheiden. Und: Der wichtigste Beitrag der Religion zum Recht besteht darin, die gleiche Würde jedes Menschen zu verfechten und für die gleichen Rechte der Menschen einzutreten. 

Sich an diesen beiden Einsichten zu orientieren, ist alles andere als bequem. Der gegenwärtigen Tendenz, den Krieg wieder zu einem Mittel der Politik zu machen, laufen sie strikt entgegen. Sie vertragen sich auch nicht mit der Absicht, bestimmte Phasen in der Entstehung und Entwicklung des menschlichen Lebens aus der Schutzzone des Rechts herauszunehmen. Die Verantwortung für den Frieden und der Schutz des Lebens sind heute zwei herausgehobene Beispiele für das Verhältnis von Religion und Recht. Aber es sind nicht die einzigen. 

Wir leben in Europa von einer großen Erfahrung: Die Unterscheidung von Recht und Religion kommt beiden zu Gute: der Religion und dem Recht. Aber wenn wir heute auch andere für diese Einsicht gewinnen wollen, stehen wir vor einer riesigen Aufgabe.