Die Rede von Gott und die Weltlichkeit der Welt *

Wolfgang Huber

Humboldt-Universität zu Berlin

I.

Wir sind in eine Wissensgesellschaft eingetreten. Dem Wissen gehört die Zukunft. Dass Wissensbestände in wenigen Jahren veralten, bestimmt die Dynamik dieser Gesellschaft. Wissenschaft ist ihre entscheidende Produktivkraft. Nachdem lange Zeit die Physik das Innovationstempo der Gesellschaft bestimmt hat, nachdem dann die Informationstechnologien diese Gesellschaft revolutioniert haben, sind es jetzt die Lebenswissenschaften, die zu einer Veränderung unserer Lebensverhältnisse im Ganzen führen. Wo bleibt da die Rede von Gott?

Wir erleben in der Mitte Europas einen Traditionsabbruch, an dem auch der christliche Glaube Anteil hat. Die überlieferten Formen, in denen der Glaube und die Lebensorientierung, die sich ihm verdankt, an die nachwachsenden Generationen weitergegeben wurden, haben ihre Stabilität eingebüßt. Die Entwicklung der Gesellschaft ist von ökonomischen und politischen Imperativen bestimmt. Im Verhältnis der drei großen Daseinsmächte Wirtschaft, Politik und Religion hat sich eine dramatische Verschiebung zu Gunsten der Ökonomie und zu Lasten der Religion vollzogen.

Man pflegt diesen Prozess als Säkularisierung zu bezeichnen. Das erscheint mir als eine unzulässige Verharmlosung. Denn wir haben es nicht nur mit einer Verweltlichung ursprünglich religiöser Gehalte, sondern wir haben es in vielen Hinsichten mit einem weittragenden Traditionsabbruch zu tun. Dieser Traditionsabbruch betrifft in besonderer Weise die beiden bislang dominierenden christlichen Kirchen, die evangelische noch immer mehr als die katholische. Er stellt auch die bisherige Verfassung und Organisationsweise der Kirchen in Frage: ihre flächendeckende Präsenz mit einem funktionierenden Kleinverteilungssystem in jedem Dorf, ihren Öffentlichkeitsanspruch – beispielsweise mit einer umfassenden Präsenz des Religionsunterrichts, ihr Deutungsmonopol in Fragen von Leben und Tod, von Sinn und Zukunft menschlicher Existenz. In all diesen Hinsichten reichen traditionsorientierte Begründungen nicht mehr zu. Im Blick auf Gegenwart und Zukunft muss begründet werden, warum – um Beispiele zu nennen – es Religionsunterricht geben soll, worin die Aufgabe der Theologie an der Universität besteht, was gegen eine laizistische Beschränkung der Religion auf die Privatsphäre spricht oder worin sich das Kreuz vom Kopftuch unterscheidet. Verständlich zu machen, was sich nicht mehr von selbst versteht, ist eine außerordentlich spannende, aber zugleich ziemlich anstrengende Aufgabe. Ganz so hatte Dietrich Bonhoeffer sich das vielleicht nicht gedacht, als er davon sprach, wir seien „auf die Anfänge des Verstehens“ zurückgeworfen.

Die Umschichtung, die sich vollzieht, schlägt sich auch in äußeren Daten nieder. Dabei bestehen im Westen und im Osten Deutschlands unterschiedliche Ausgangsbedingungen. Die SED-Herrschaft hat im Osten Deutschlands eine Situation herbeigeführt, in der siebzig Prozent der Bevölkerung ohne jede kirchliche Bindung sind. Von den verbleibenden dreißig Prozent gehören 25 Prozent der evangelischen und fünf Prozent der katholischen Kirche an. Die Vorstellung, das könne sich nach der Vereinigung Deutschlands schnell ändern, war irrig. Denn die Konfessionslosigkeit hatte sich bereits zu einem stabilen Sozialisationsfaktor entwickelt. Sie wird so zuverlässig von einer Generation an die andere weitergegeben wie in manchen Teilen Bayerns das Katholischsein. Auf absehbare Zeit wird für den Osten Deutschlands die Einsicht Wolf Krötkes Bestand behalten, dass die Menschen die Kirche zwar massenhaft verlassen haben, aber nur als einzelne zurückzugewinnen sind. Trotzdem, nein gerade deshalb ist der missionarische Aufbruch richtig, um den wir uns in unseren Kirchen bemühen; aber dieser Aufbruch verlangt langen Atem; schnelle Erfolge sind ihm nicht verheißen.

Und wie verhält es sich im Westen Deutschlands? Gewiss betrug die Zahl der Konfessionslosen im Westen Deutschlands vor 1989 noch weniger als zehn Prozent. Aber in signifikanten Bevölkerungsgruppen war sie schon damals beträchtlich. Unter den männlichen Hochschulabsolventen zwischen 20 und 64 Jahren betrug der Anteil der Konfessionslosen nämlich schon 1987 21 Prozent, unter den weiblichen Hochschulabsolventen derselben Jahrgänge immerhin 16 Prozent. Männlich, Hochschulabschluss und gutes Einkommen: das prädestinierte schon vor der Vereinigung Deutschlands zum Kirchenaustritt. Seit sich im Jahr 1990 der ideologische Materialismus des Ostens und der praktizierte Materialismus des Westens vereinigt haben, hat sich dieser Trend zur Lockerung oder Lösung der Kirchenbindung auch im Westen Deutschlands verstärkt. Das spürt – in einem gewissen Nachholprozess – gegenwärtig insbesondere auch die katholische Kirche. Die Erosion christlicher Traditionen hat sich verstärkt. In dieser Hinsicht bildet die Mitte Europas zwischen den Niederlanden und Tschechien weltweit betrachtet einen Sonderfall.

Die Gründe dafür sind nicht leicht zu nennen. Aber einer lässt sich leicht beschreiben: Gerade dort, wo die Zugehörigkeit zur Kirche über lange Zeit staatlich verordnet und geregelt war, greift die Entkirchlichung besonders massiv zu. Wo – wie in Deutschland – die Kirchenzugehörigkeit erst relativ spät aufhörte, eine staatliche Norm zu sein, hat sich der Rückgang der Kirchenzugehörigkeit besonders nachhaltig vollzogen. Noch heute, das darf man nicht vergessen, ist der Austritt aus der Kirche durch staatliches Recht geregelt. Er kann auf dem Standesamt oder auf dem Amtsgericht vollzogen werden, ohne dass dies von dem Austretenden der Kirche überhaupt mitgeteilt werden muss. Eine direkte Kommunikation über die Gründe des Kirchenaustritts findet nur in den allerwenigsten Fällen statt. Die Beratung mit dem Steuerberater tritt im Vorfeld dieser Entscheidung oft an die Stelle einer Beratung mit dem Seelsorger.

Aber daneben tritt natürlich der Konflikt zwischen Glauben und Wissen. Die neuzeitliche Wissenschaft – genauso übrigens wie die neuzeitliche Rechtsordnung – ging methodisch von der zugleich mutigen und erfolgreichen Prämisse aus, dass sie die Welt so verstehen wollte, „als ob es Gott nicht gäbe“ – „etsi deus non daretur“. Man gab den Glauben an Gott nicht auf, aber man suspendierte ihn methodisch, weil man ihn zur Welterklärung nicht heranziehen wollte. Heute stellt sich die Frage, ob aus dieser zuerst von Hugo Grotius um des Friedens willen formulierten methodischen Hypothese – „als ob es Gott nicht gäbe“ – ein affirmativer Satz wird: „weil es Gott nicht gibt“. Die Frage heißt, ob aus dem methodischen Atheismus ein geglaubter Atheismus wird. Kants Vorhaben, zwischen Wissen und Glauben zu unterscheiden, um gerade so zum Glauben Raum zu schaffen, würde dann abgelöst durch einen Allmachtsanspruch des Wissens, das meint, auf den Glauben nicht mehr angewiesen zu sein. Die zwei Jahrhunderte seit der Aufklärung sind von diesem Konflikt bestimmt. Entschieden ist er noch keineswegs.

Der Entwicklung, die sich mit den Stichworten des Traditionsabbruchs und der Entkirchlichung beschreiben lässt, treten massive Gegenentwicklungen zur Seite. Religion ist ein Megathema des 21. Jahrhunderts. Die Zuwendung zur Religion vollzieht sich in großem Umfang in Gestalt einer Abkehr vom Wissen, einer Abwendung von der Aufklärung. Ein beträchtlicher Teil der Amerikaner – manche sprechen von vierzig Prozent – betrachtet sich als „wiedergeborene Christen“. In einem Teil der osteuropäischen Transformationsländer erleben wir eine Rechristianisierung von erstaunlichem Umfang. In islamischen Ländern hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Reislamisierung vollzogen, deren Umfang und Ausrichtung im Westen in zunehmendem Maß als bedrohlich empfunden wird. Huntingtons Begriff eines „Kampfs der Kulturen“ – eines „clash of civilisations“ – macht nach wie vor die Runde. In Afrika und Lateinamerika wachsen charismatische und evangelikale Gemeinschaften in erstaunlichem Tempo. Ein religiöser Fundamentalismus greift um sich, der angesichts der Entwicklungsdynamik unserer Welt auf einfache Antworten setzt, der im raschen Wandel des Wissens das Beharren auf bestimmten „fundamentals“ zur Verpflichtung erklärt, und der zu einer klaren Einteilung der Welt in Gut und Böse, in Schwarz und Weiß, in Licht und Finsternis neigt.

Je klarer eine solche Religion konturiert ist, desto missbrauchsanfälliger ist sie. Von solchem Missbrauch ist unsere Gegenwart voll. Die Attentäter des 11. September haben sich auf den Willen Allahs berufen und ihr mörderisches Handeln damit gerechtfertigt, sie folgten damit einem göttlichen Befehl. Die Selbstmordattentäter in Israel-Palästina werden dahingehend beeinflusst, ja oft von ihren Eltern darin unterstützt, sie seien Glaubensmärtyrer, wenn sie sich Bomben um den Leib binden und zusammen mit sich selbst andere Menschen in großer Zahl in den Tod reißen.

Wir leben keineswegs in einer Zeit, welche die Religion hinter sich hat. Und es erscheint mir als kurzatmig und kurzsichtig, auf den Missbrauch der Religion, den wir in solchen Zusammenhängen beobachten, mit dem Rückzug in einen religiösen Analphabetismus zu antworten. Gerade in einer solchen Zeit ist vielmehr jede und jeder gefragt, wo er oder sie die eigene religiöse Identität findet. Gerade in einer solchen Zeit muss neu gefragt werden, wie sich die Rede von Gott zur Wirklichkeit der Welt verhält, die wir emphatisch als „Weltlichkeit“, als Wirklichkeit ohne Gott deuten.

II.

Aufs Neue sind wir also dazu herausgefordert, die spezifische Welterfahrung der Moderne zu deuten und theologisch zu verarbeiten. Vor mehr als einem halben Jahrhundert wurde diese spezifische Welterfahrung der Moderne so charakterisiert:

„Die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen, als eben jenes ewig gleiche Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Subjekt und Objekt werden beide nichtig. ... Nicht bloß mit der Entfremdung der Menschen von den beherrschten Objekten wird für die Herrschaft bezahlt: mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext, auch die jedes Einzelnen zu sich selbst.“ (1)

Als ‚Dialektik der Aufklärung’ bezeichneten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die Welterfahrung der Moderne. Ihrem gleichnamigen Werk entstammt das Zitat, das ich gerade verwendet habe.

Die Irrfahrt des Odysseus galt Horkheimer und Adorno als Paradigma der Aufklärung. Sie sahen in ihm das exemplarische Beispiel eines „Selbst, das immerzu sich bezwingt und darüber das Leben versäumt“; sie betrachteten ihn als den Prototyp einer Einschätzung, „welche das Überleben vorweg gleichsam vom Zugeständnis der eigenen Niederlage, virtuell vom Tode abhängig macht“.  Im Spiegel der Odyssee beschrieben Horkheimer und Adorno die grundlegende Ambivalenz moderner Subjektzentrierung. Da sie die Entgegensetzung von Subjekt und Objekt und das in ihr liegende Entfremdungspotential unter den Bedingungen der Moderne für unaufhebbar hielten, geriet ihnen die Beschreibung der ‚Dialektik der Aufklärung’ zu einer Art säkularisierter Erbsündenlehre; sie sahen in ihr ein unentrinnbares Verhängnis.

Dieses Verhängnis nahm allerdings ein Ausmaß an, das alles Prognostizierbare weit überstieg. Die Entfremdung des modernen Subjekts in seinem Drang zur Beherrschung der Objektwelt entlud sich Theodor W. Adorno zufolge auf unvorhersehbare und unvorstellbare Weise in der unmenschlichen Perversion der Shoah, des Völkermords am europäischen Judentum. Mit ihm vollzog sich eine äußerste Enteignung, die Enteignung des Todes. „Denn“, so Theodor W. Adorno, „mit dem Mord an Millionen durch Verwaltung ist der Tod zu etwas geworden, was so noch nie zu fürchten war. Keine Möglichkeit mehr, daß er in das erfahrene Leben der Einzelnen als ein irgend mit dessen Verlauf Übereinstimmendes eintrete. Enteignet wird das Individuum des Letzten und Äußersten, was ihm geblieben war. Daß in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar, muß das Sterben auch derer affizieren, die der Maßnahme entgingen.“ (2)

So bedrückend und eindringlich diese Beschreibung auch ist, wird man doch der im Grunde perspektivlosen Interpretation der Aufklärung, die Horkheimer und Adorno vorlegten, das letzte Wort gerade nicht lassen dürfen. Insbesondere ist jede theologische Genugtuung fehl am Platz, die aus dem vermeintlichen Scheitern des Vernunftprojekts der Aufklärung meint schließen zu können, dass dadurch für den Glauben neuer Platz geschaffen sei. Ein solcher theologischer Triumphalismus führt ebenso in die Irre wie eine Resignationstheologie, die nur noch den Tod Gottes konstatiert und mit solcher Hoffnungslosigkeit das „Unterwegssein der Hoffnung“ (J. Moltmann) aufgibt.

Der theologische Triumphalismus schließt aus dem vermeintlichen Scheitern des Vernunftprojekts der Aufklärung auf die Wahrheit des Glaubens jenseits aller Vernunft; er arbeitet also mit einer schlichten Entgegensetzung von Glaube und Vernunft. Die Resignationstheologie schließt aus dem vermeintlichen Erfolg des Vernunftprojekts der Aufklärung auf den Tod Gottes und setzt damit Vernunft und Glaube in Eins. Beiden Positionen ist entgegenzuhalten, dass die Korrespondenz von Glaube und Vernunft weder durch eine Trennung zwischen ihnen noch durch ihre Gleichsetzung aufgelöst werden darf. An dieser Korrespondenz ist vielmehr gerade angesichts der Gewalterfahrungen des vergangenen Jahrhunderts festzuhalten. Schmerzlich hat sich in ihnen gezeigt, dass die Hoffnung auf einen verantwortlichen Gebrauch menschlicher Vernunft tief enttäuscht werden kann; kein Zweifel kann daran bestehen, dass das Projekt der Aufklärung – der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit – bei weitem noch nicht am Ziel, also  unvollendet ist. Aber aus diesen Vorgängen zu schließen, dass die Hoffnung auf verantwortlichen Vernunftgebrauch gegenstandslos und das Projekt der Aufklärung obsolet ist, hieße, jede Vorstellung von menschlicher Selbstbestimmung und menschlicher Freiheit preiszugeben. Es ist keineswegs ein Ausweis besonderer Glaubensstärke, wenn man meint, den Glauben nur durch eine Absage an den Geist der Aufklärung sichern zu können. Wer den Glauben der menschlichen Vernunft entgegensetzt, verspielt ebenso wie der, der beide in eins setzt, die im Glauben enthaltene Kraft der Befreiung und Erneuerung. Er verzichtet auf das Hoffnungspotential des Glaubens; dieses liegt in dem Vertrauen auf eine Erneuerung menschlicher Vernunft im Geist der Liebe.

Paulus hat an einer berühmten Stelle des Römerbriefs das christliche Leben als vernünftigen Gottesdienst auf der Grundlage des göttlichen Erbarmens dargestellt. Er hat den Glauben dahingehend beschrieben, dass Glaubende einen Wandel durch eine „Erneuerung des Denkens“ erfahren und auf dieser Grundlage prüfen können, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene (Römer 12,1-2). Damit hat er ein Korrespondenzverhältnis von Glauben und Vernunft vorgeschlagen, das jenseits der Alternative von Trennung und Gleichsetzung liegt. Dieses bei Paulus vorgezeichnete Korrespondenzverhältnis von Glauben und Vernunft ist grundlegend für das evangelische Verständnis christlichen Glaubens. Es ist unaufgebbar für jedes Nachdenken darüber, was christlicher Glaube zum Aufbau einer Zivilgesellschaft beitragen kann, in der es niemals wieder zu einem Geschehen wie demjenigen der Shoah kommen soll.

Wo eine Korrespondenz von Glaube und Vernunft vorausgesetzt wird, lassen sich auch die Zuständigkeitsbereiche des Glaubens und der Vernunft nicht mehr in einer räumlich vorgestellten Trennung von Heiligem und Profanem separieren. Die Metapher des „Christusraumes“ kann schon aus diesem Grund nicht im Sinn eines von der Weltwirklichkeit abgeteilten Raumes verstanden werden. Der Gedanke einer Korrespondenz von Glaube und Vernunft nötigt vielmehr dazu, sowohl eine derartige Trennung zwischen einem heiligen und einem profanen Wirklichkeitsbereich als auch deren schlichte Gleichsetzung hinter sich zu lassen.

III.

Es geht also darum, die Rede von Gott und die Wirklichkeit der Welt weder beziehungslos auseinandertreten noch miteinander zusammenfallen zu lassen. Doch welches Verständnis der Wirklichkeit soll dafür die Grundlage abgeben? Ist heute das Wirklichkeitsverständnis, auf das sich gesellschaftliche Verständigungsprozesse beziehen, vom Wirklichkeitsverständnis des Glaubens nicht vollständig geschieden? Ist in einer Zeit, die nach Wolf Krötkes Einsicht von den Phänomenen der Gottvergessenheit und des Gottesschweigens geprägt ist, für eine Verbindung der Rede von Gott mit der Wahrnehmung der Welt überhaupt noch Raum? (3) Haben wir es nicht im einen Fall mit einem auf die Immanenz beschränkten, im andern Fall aber mit einem transzendenzoffenen Wirklichkeitsverständnis zu tun? Kann man über die Feststellung, dass beide Auffassungen der Wirklichkeit unvereinbar sind, hinauskommen?

Zur Beantwortung dieser Frage will ich zwei Theologen miteinander ins Gespräch bringen, die beide an dieser Universität gelehrt haben und noch heute auf unterschiedliche Weise die Atmosphäre prägen, in der an dieser Universität Theologie getrieben wird und werden soll: Romano Guardini und Dietrich Bonhoeffer. Beide haben sie an der Humboldt-Universität gewirkt. Als der 1885 geborene Guardini 1923 seine Professur in Berlin antrat, begann der 1906 geborene Bonhoeffer gerade das Studium der evangelischen Theologie. Zunächst studierte er in Tübingen, von 1924 an in Berlin, wo seine Familie lebte. Schon 1927, gerade 21jährig, promovierte er an der Berliner Fakultät, an die er 1929 als Assistent für systematische Theologie zurückkehrte. 1930 folgte die Habilitation. Während Bonhoeffer die Lehrbefugnis schon am 5. August 1936 entzogen wurde, kam es 1939 zur Aufhebung des Berliner Lehrstuhls von Romano Guardini.

Beide gehörten sie zu dieser Universität. Die Differenz der Generation wie der Konfession ließ es offenbar zu einer engeren Berührung nicht kommen. Den Abstand zwischen dem anerkannten Professor, der ein Magnet für viele Studierende, auch für evangelische Theologen, war, und dem jungen Privatdozenten kann man sich leicht vorstellen. In Eberhard Bethges Bonhoeffer-Biographie wird er erkennbar, wenn es über Bonhoeffers erste Lehrerfahrungen heißt: „Auch wenn Männer wie Guardini in jenem Winter (gemeint ist: 1931/32) die Massen außerhalb der Routine-Vorlesungen anzogen, blieb für den Anfänger immer noch etwas übrig, sofern er sich nicht durch allzugroße Langweiligkeit disqualifizierte. Eine treue Minderheit schälte sich auch bald heraus, die sich von der Stärke und Besonderheit des Neuen beeindrucken ließ.“ (4)

Mit Guardinis Werk ist der junge Bonhoeffer zuerst indirekt über die Dissertation von Cord Cordes in Berührung gekommen. (5) Guardinis Studie über „Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk“ aber hat er in der Fassung von 1939 (6) besessen und benutzt, wie sich nicht nur an Anstreichungen am Rand, sondern auch in den Fragmenten für Bonhoeffers 'Ethik' zeigt. (7)  Es spricht manches dafür, dass Bonhoeffer bei seinem Versuch, den Begriff des Natürlichen für die evangelische Ethik wiederzugewinnen (8), durch eine kritische Würdigung des katholischen Naturbegriffs angeleitet war. Zu den Brücken in die katholische Welt hinein, die Bonhoeffer kennenlernte, gehörte auch das Werk Romano Guardinis.

Soweit Guardinis Denken überhaupt mit evangelischer Theologie in Beziehung gesetzt wird, wird am ehesten der Vergleich mit Paul Tillich gezogen. Als Theologen, die sich in besonderer Weise dem Thema der Grenze zugewandt haben, fallen sie sich gewissermaßen von selbst ins Wort. Dieser Nachbarschaft auf den ersten Blick möchte ich eine geistige Verwandtschaft des zweiten Blicks hinzufügen. Beim zweiten Blick erschließen sich verborgenere, aber dadurch vielleicht auch tiefere Affinitäten. Bei dem Versuch, sie darzustellen, will ich mit einer Beobachtung zu Bonhoeffer beginnen.

Für Dietrich Bonhoeffers Wirklichkeitsverständnis ist charakteristisch, dass die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit der Welt in ihrer unlöslichen Zusammengehörigkeit gesehen werden. Denn die Wirklichkeit Gottes erschließt sich, so Bonhoeffer, „nicht anders als indem sie mich ganz in die Weltwirklichkeit hineinstellt, die Weltwirklichkeit aber finde ich immer schon getragen, angenommen, versöhnt in der Wirklichkeit Gottes vor. ... Es geht also darum, an der Wirklichkeit Gottes und der Welt in Jesus Christus teilzuhaben, und das so, daß ich die Wirklichkeit Gottes nie ohne die Wirklichkeit der Welt und die Wirklichkeit der Welt nie ohne die Wirklichkeit Gottes erfahre.“ (9)

Bonhoeffers Perspektive hat eine eindeutige Richtung. Sie ist christozentrisch und darin theozentrisch. Die Wirklichkeit Gottes ist der Ausgangspunkt. Doch diese Gotteswirklichkeit begegnet in dem menschgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Gott hat sich auf die Welt eingelassen; deshalb können die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit der Welt nicht voneinander getrennt oder gegeneinander ausgespielt werden. Bonhoeffer lehnt darum ein Denken in zwei Räumen strikt ab. Das Verhältnis zwischen der Wirklichkeit Gottes und der Wirklichkeit der Welt kann nicht in Form einer Bereichsscheidung gedacht werden. Die Wirklichkeit Gottes muss vielmehr als die Wirklichkeit der Welt konstituierend betrachtet werden. Bonhoeffer drückt das in den Begriffen des ‚Letzten’ und des ‚Vorletzten’ aus. „Es gibt also kein Vorletztes an sich, so also, daß sich irgendetwas an sich als Vorletztes rechtfertigen könnte, sondern zum Vorletzten wird etwas erst durch das Letzte, das heißt in dem Augenblick, in dem es bereits außer Kraft gesetzt worden ist. Das Vorletzte ist also nicht Bedingung des Letzten, sondern das Letzte bedingt das Vorletzte.“

Diese Überlegung bestimmt den Wirklichkeitsbegriff Bonhoeffers, der durch und durch relational gefasst ist. Es gibt keine Weltwirklichkeit, die aus der Sicht des Glaubens nicht in einer Beziehung zur Wirklichkeit Gottes stünde. Für den Glaubenden ist die Existenz in all ihren Bezügen in Christus gegründet und durch Christus bestimmt. Lebensbereiche in dem Sinn ihren eigenen Gesetzen zu überlassen, dass sie für den Glaubenden einfach extra Christum, außerhalb der Gotteswirklichkeit ihren Ort und ihren Grund hätten, ist für eine solche Betrachtungsweise nicht vorstellbar.

Daraus ergibt sich auch der theologische Ort der Kultur. Bonhoeffer bezeichnet sie neben den Mandaten der Kirche, des Staates sowie von Ehe und Familie als göttliches Mandat, (10) also als eines der grundlegenden Felder, auf denen Menschen die ihnen von Gott zugetraute und aufgetragene Verantwortung in der Gestaltung der Wirklichkeit wahrnehmen. Der Begriff der Kultur tritt in dieser Funktion an die Stelle, an der in einer früheren Fassung von Bonhoeffers Mandaten-Lehre der Begriff der Arbeit steht. (11) Über die Gründe für diese Verschiebung kann man nur Vermutungen anstellen, da Bonhoeffer den Begriff der Kultur, der diesen Überlegungen zu Grunde liegt, nicht mehr entfaltet hat. Aber dass auch die Kultur - wie weit oder eng man ihren Begriff auch immer fassen will - für den Glaubenden immer schon auf Christus und damit auf die Wirklichkeit Gottes bezogen ist, steht für Bonhoeffer außer Frage.

Bei Bonhoeffer verbindet sich also eine Konzentration auf die Gottesbeziehung mit einer entschiedenen Hinwendung zur Wirklichkeit der Welt. Dieser Grundzug tritt in den Aufzeichnungen aus der Haft im Tegeler Wehrmachtuntersuchungsgefängnis noch deutlicher hervor; aber sie ist in den Ethik-Manuskripten bereits angelegt. Wenn Bonhoeffer in den theologischen Briefen aus dem Gefängnis eine ‚nicht-religiöse Interpretation’ der biblischen Begriffe fordert und gar von einem ‚religionslosen Zeitalter’ spricht (12),  dann ist das Interesse leitend, dass die Gottesbeziehung nicht auf einen von der Weltwirklichkeit ausgegrenzten Bereich - Religion genannt - beschränkt und damit gerade von der Wirklichkeit menschlicher Lebensvollzüge im Ganzen abgetrennt wird. Nicht eine vermeintliche Diagnose, dass Religion im Sinn der gelebten Gottesbeziehung zum Verschwinden komme, sondern im Gegenteil die theologische Einsicht, dass Glauben ein Lebensakt ist, der es mit der Einheit von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit zu tun hat, bestimmt die kühnen Formulierungen der späten theologischen Briefe.

Auch für Romano Guardini, so scheint mir, ist eine Bewegung des Denkens charakteristisch, wie ich sie gerade am Beispiel Bonhoeffers beschrieben habe: die Verbindung zwischen christologischer Konzentration und Hinwendung zur Welt.

Die Person Jesu Christi steht bei Guardini unverkennbar im Mittelpunkt: „Der christliche Glaube bedeutet eine geistige Bewegung, durch welche der Mensch zu Christus tritt. Damit auf jenen Standort tritt, wo die offenbarende Gestalt, Christus, steht. Glauben bedeutet also auch, zur Welt in einem Verhältnis stehen, wie Christus stand. Bedeutet, einen Standort haben ‚in’ ihr, aber nicht ‚von’ ihr; mit einer Wirklichkeit verbunden sein, die der Welt gegenüber souverän ist; mit einer Qualitätsfülle des Seins, der Wertung, des Handelns in Verbindung getreten sein, die aus der Welt nicht abgeleitet werden kann, aber für diese normativ und heilbegründend ist.“ (13)

Auch hier ist das Konstitutionsverhältnis zwischen der in Christus erschlossenen Wirklichkeit Gottes und der Wirklichkeit der Welt deutlich bestimmt. Die Hinwendung zur Welt vollzieht sich gerade aus der Anerkennung des göttlichen Gegründetseins der Welt, das sich in Christus erschließt. Deshalb verwirklicht und bewährt sich christlicher Glaube in den verschiedenen Bereichen weltlicher Existenz.

Die Zuordnung zwischen göttlicher und weltlicher Wirklichkeit fasst Guardini allerdings nicht in der Unterscheidung zwischen Letztem und Vorletztem - einer Unterscheidung, die ja gerade das Vorletzte in seiner Vorläufigkeit durch den Bezug auf das Letzte aufwertet. Sondern er bedient sich einer an Heidegger angelehnten Eigentlichkeitssemantik; die Unterscheidung zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem bricht sich bei Guardini immer wieder Bahn. Eindrucksvoll zeigt sich das in dem 1947 gehaltenen Vortrag über das Wesen des Kunstwerks. Die abschließenden Sätze dieses Vortrags heißen: „So mündet auch das echte Verhältnis zum Kunstwerk in etwas Religiösem aus. Die voraufgehenden Überlegungen haben gezeigt, daß ich dem Kunstwerk nicht gerecht werde, wenn ich es ‚genieße’, sondern daß ich die Begegnung des schaffenden Menschen mit dem Ding mitvollziehen muß. Ich trete in den Raum ein, der hier entsteht, und lebe in der sich erhebenden reineren Welt. Indem ich sie schaue, werde ich von ihr erfaßt. In mir selbst wird ‚das Bessere’ angerufen und aus der Bindung und dem Druck freigemacht, worin das tägliche Dasein es hält. Eben darin aber ahne ich, was ich eigentlich bin, und fühle die Verheißung, einst werde ich dieses Eigentliche einholen dürfen. Richtiger gesagt: einst, in der letzten Zukunft, wenn das Eigentliche der Welt überhaupt auf sie zukommt, werde auch mein Eigentliches mir entgegentreten und mir zu eigen werden.“ (14)

Guardini hat die Vorstellung des Glaubens von der Wirklichkeit der Welt, die in der Wirklichkeit Gottes gegründet ist, und das neuzeitliche Weltbild scharf gegeneinander kontrastiert. Drei Faktoren hat er für das neuzeitliche Weltbild als charakteristisch angesehen: „die in sich ruhende Natur, das autonome Persönlichkeitssubjekt und die aus eigenen Normen schaffende Kultur“ (15).  Wenn er deren Ende diagnostizierte, ging es ihm nicht darum, „den echten Ertrag des neuzeitlichen Erfahrens und Arbeitens preiszugeben“ (16).  Sondern er erwartete, dass sich eine Einsicht Bahn brechen werde, die vor den zerstörerischen Folgen des neuzeitlichen Projekts nicht länger die Augen verschließt. Nahezu prophetisch klingt, wie er diese Erwartung im Blick auf das Naturverhältnis des Menschen entfaltet: „Die Neuzeit liebte es, die Maßnahmen der Technik mit ihrem Nutzen für die Wohlfahrt des Menschen zu begründen. Damit deckte sie die Verwüstungen zu, welche ihre Skrupellosigkeit anrichtete. Die kommende Zeit wird, glaube ich, anders reden. Der Mensch, der sie trägt, weiß, daß es in der Technik letztlich weder um Nutzen noch um Wohlfahrt geht, sondern um Herrschaft. ... Das bedeutet unabsehliche Möglichkeiten des Bauens, aber auch des Zerstörens. ... So trägt das Verhältnis zur Natur den Charakter äußerster Entscheidung: entweder gelingt es dem Menschen, das Herrschaftswerk richtig zu machen, und dann wird es gewaltig - oder aber alles geht zu Ende.“ (17)

In verblüffender Weise berühren sich Guardinis Diagnosen in seiner - bei allen Frag-würdigkeiten - bedeutenden Schrift über ‚Das Ende der Neuzeit’ von 1956 mit Bonhoeffers Überlegungen. Besonders deutlich lässt sich das dort beobachten, wo die Auswirkungen der neuzeitlichen Autonomievorstellung auf den Glauben dargestellt werden: „Wie sich eine rein wissenschaftliche Wissenschaft, eine rein wirtschaftliche Wirtschaft, eine rein politische Politik herausbildet, so auch eine rein religiöse Religiosität. Diese verliert immer mehr die unmittelbare Beziehung zum konkreten Leben, wird immer ärmer an Weltgehalt, beschränkt sich immer ausschließlicher auf ‚rein religiöse’ Lehre und Praxis und hat für viele nur noch die Bedeutung, gewissen Kulminationspunkten des Daseins, wie Geburt, Eheschließung und Tod, eine religiöse Weihe zu geben.“ (18)  Guardini charakterisiert hier genau diejenige Segmentierung der Lebensbereiche, durch die auch Religion zu einem abgesonderten Lebensbereich neben anderen wird; er charakterisiert genau diejenige Lage, die Bonhoeffer im Blick hatte, wenn er von der Religion sprach, die nach seiner Überzeugung zu Ende ging.

Ein Ende des Glaubens ist das nicht. Im Unterschied zu Bonhoeffer verwendet Guardini auch für das, was allein aus den Aporien der Neuzeit retten kann, den Begriff der Religion. Drastisch ist das Bild, mit dem er deren Notwendigkeit beschreibt. „Ohne das religiöse Element wird das Leben wie ein Motor, der kein Öl mehr hat. Es läuft sich heiß. Alle Augenblicke verbrennt etwas. Überall sperren sich Teile, die genau ineinander greifen müßten. Mitte und Bindung gehen verloren. Das Dasein desorganisiert sich - und dann tritt jener Kurzschluß ein, der sich seit dreißig Jahren (1956 ist das geschrieben) in immer steigendem Maße vollzieht: es wird Gewalt geübt. Durch sie sucht sich die Ratlosigkeit einen Ausweg. Wenn die Menschen sich nicht mehr vom Innern her gebunden fühlen, werden sie äußerlich organisiert; und damit die Organisation arbeitet, setzt der Staat seinen Zwang dahinter. Kann aber auf die Dauer aus Zwang existiert werden?“ (19)

Guardinis Überlegung endet in dem starken Vertrauen auf eine neue Entschiedenheit des christlichen Glaubens: „Der christliche Glaube selbst ... wird eine neue Entschiedenheit gewinnen müssen. Auch er muß aus den Säkularisationen, den Ähnlichkeiten, Halbheiten und Vermengungen heraus.“ (20) Was wir heute kritisch als Selbstsäkularisierung des christlichen Glaubens wahrnehmen und wovon wir uns in einer bewussten Zuwendung zum Glaubensthema zu befreien versuchen: Guardini hat es bereits mit einer Klarheit wahrgenommen, die im Abstand eines halben Jahrhunderts staunen lässt. (21)  Das gilt auch dann, wenn man die existenzphilosophische Prägung und die Eigentlichkeitssemantik bei Guardini kritisch betrachtet. Deren Problematik zeigt sich insbesondere dort, wo die Vorläufigkeit der Welt mit dem Verdikt des Uneigentlichen belegt wird. Dabei ist doch gerade die Vorläufigkeit der Welt ihr Eigentliches, ihr Wesen.

Bonhoeffer und Guardini treffen sich darin, dass sie von einer kritischen Diagnose der Gegenwart aus die Frage nach der Zukunftskraft und der Zukunftsgestalt des christlichen Glaubens stellen. Der Glaube sieht die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit der Welt zusammen. Er ist eine Erfahrung, die wir mit allen Erfahrungen machen können. (22) Er sondert sich nicht von der weltlichen Erfahrungswirklichkeit ab, sondern lässt sich auf sie ein. Aber er deutet sie in einer Weise, in der die Vorläufigkeit und Relativität dieser Erfahrungswirklichkeit nicht geleugnet, sondern ins Licht gesetzt wird. In diesem Sinn ist der christliche Glaube gelebtes Bilderverbot.

Aber der Glaube ist nicht nur eine Deutungsperspektive weltlicher Erfahrungen, sondern zugleich eine Erfahrung eigener Art. Das Johannesevangelium schildert diesen besonderen Charakter der Glaubenserfahrung eindrücklich am Beispiel des ungläubigen Thomas. Die Begegnung des Thomas mit dem Auferstandenen erfährt ihre Zuspitzung in der Aussage Jesu: „Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du. Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben.“ (23)  Der Glaube ist eine eigene Erfahrungswelt; manche zeitgenössischen Theologen sprechen in diesem Zusammenhang - in einer nur vermeintlichen Korrektur früherer Enthmythologisierungsforderungen - auch von ‚mythischen Erfahrungen’ (24).  Kennzeichnend für diesen Erfahrungscharakter des Glaubens ist seine Offenheit für eine Wirklichkeit, die sich nicht aus den Kategorien menschlicher Weltbemächtigung ableiten lässt, sondern sich selbst dem Menschen entgegenbringt. Die Vermittlung dieser Wirklichkeit wird im christlichen Glaubensverständnis dem Wirken des Heiligen Geistes zugesprochen. Der Glaube, der so entsteht, ist in seinem Kern ein unbedingtes Vertrauen auf die schöpferische und befreiende Zuwendung Gottes. Als dankbare Antwort auf Gottes zuvorkommende Güte ist er kein menschliches Werk, sondern verdankt sich selbst dem Wirken Gottes.

Glaube in diesem Sinn ist nicht nur eine Deutung von Erfahrungen mit der Wirklichkeit dieser Welt, sondern eine Erfahrung eigener Art. Aber diese Erfahrung ist auf eine kulturelle Ausdrucksform angelegt und angewiesen. Diese kulturelle Ausdrucksform des Glaubens nennen wir Religion. In diesem Sinn ist das Bemühen um Religion, um gestaltete Spiritualität in persönlicher wie in gemeinschaftlicher Form die wichtigste Weise, in der die Kultur des Glaubens gestaltet und weiterentwickelt wird.

Denn der Glaube ist in seiner Entstehung und in seiner Vergewisserung zuallererst, um an Schleiermacher anzuknüpfen, auf ein darstellendes Handeln angewiesen, in dem die Glaubenden ihre Beziehung zu Gott wie ihre wechselseitige Beziehung in der Gemeinschaft der Glaubenden zum Ausdruck bringen. Neue Aufmerksamkeit für diese Darstellungsformen des Glaubens entsteht nur, wenn die Kirchen sich auf ihre eigene Botschaft besinnen und sie wirksam unter die Menschen bringen: die unvertretbare und lebenswichtige Botschaft von Gottes Gnade, den Einspruch gegen die Selbstverliebtheit des Menschen, der aus der befreienden Wirklichkeit der Liebe Gottes kommt, die Erneuerung des Verhältnisses zur Welt durch die Verheißung der Zukunft Gottes.

Weil es in diesem darstellenden Handeln auf die inhaltliche Bestimmtheit des Glaubens ankommt, ist dieser Glaube auf eine theologische Lehre angewiesen, die in einer von Gottvergessenheit und Gottesschweigen bestimmten Zeit orientierende Kraft zu entfalten vermag. Wolf Krötke tut dies in einer beispielgebenden Weise. Er verbindet den aufrichtigen Blick auf die Wirklichkeit unserer Welt mit dem aufrichtenden Blick auf die Wirklichkeit Gottes. Indem er Gottes Klarheiten in den Mittelpunkt rückt, verhilft er zur Klarheit auch über die Wirklichkeit der Welt. Indem er die Wahrheit Gottes, die Liebe Gottes, die Macht Gottes und die Ewigkeit Gottes als die Klarheiten hervorhebt, ohne die eine Rede von Gott nicht möglich ist, zeigt er zugleich, was unserem Menschsein fehlt, wenn es in ihm nicht mehr um die Wahrheit geht, wenn ihm die Liebe fehlt, wenn es von der Verantwortung der Macht nichts weiß und wenn ihm die Ewigkeit als erfüllte Zeit fremd ist. So zeigt auch Wolf Krötke, was die Rede von Gott und die Weltwirklichkeit der Welt allein zusammen halten kann: das Menschsein Jesu, das eben beides zugleich ist: nicht nur ein Bild der conditio humana, sondern zugleich ein Gleichnis der Klarheiten Gottes: seiner Wahrheit, seiner Liebe, seiner Macht und seiner Ewigkeit. (25)

Dass Wolf Krötke uns noch lange dabei hilft, dies beides zusammenzuhalten – das Reden von Gott und die Wahrnehmung unserer Welt – , das ist mein herzlicher Wunsch an diesem Tag: auf viele Jahre theologischer Existenz.


Fußnoten:

* Abschlussvortrag beim Kolloquium „Sprachräume für Gott – Lebensräume für Menschen“ zu Ehren von Wolf Krötke am 22. Februar 2004 in der Humboldt-Universität zu Berlin.


(1) Th.W. Adorno /M. Horkheimer, Dialrktik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main 1988, 32f.

(2) Th.W. Adorno, Negative Dialektik, 7. Aufl. Frankfurt/Main 1992, 355.

(3) Diese Einsicht verbindet zwei bedeutende Bücher von W. Krötke miteinander: W. Krötke, Die Kirche im Umbruch der Gesellschaft, Tübingen 1994; ders., Gottes Klarheiten. Eine Neuinterpretation der Lehre von Gottes „Eigenschaften“, Tübingen 2001. 

(4) E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, München 1967, 251.

(5) C. Cordes, Der Gemeinschaftsbegriff im deutschen Katholizismus und Protestantismus, Leipzig 1931; vgl. Bonhoeffers Rezension von 1932 in: Dietrich Bonhoeffer, Ökumene - Universität - Pfarramt 1931-1932 (DBW 11), Gütersloh 1994, 367-369.

(6) R. Guardini, Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk, 2. Aufl. Leipzig 1939. Die erste, 1933 erschienene Auflage trug den Titel: Der Mensch und der Glaube. Versuche über die religiöse Existenz in Dostojewskijs großen Romanen.

(7) D. Bonhoeffer, Ethik, 2. Aufl. Gütersloh 1998, 141, 147, 352. Die Guardini-Rezeption aufgedeckt zu haben, ist das Verdienst der Neuausgabe der Bonhoefferschen Ethik durch I. Tödt, H.E.Tödt, E.Feil und Cl. Green in DBW 6; vgl. dort auch das Nachwort S. 424.

(8) D. Bonhoeffer, Ethik, a.a.O., 163 ff.

(9) D. Bonhoeffer, Ethik, a.a.O., 40 f.

(10) D. Bonhoeffer, Ethik, a.a.O., 392 ff.

(11) D. Bonhoeffer, Ethik, a.a.O., 54 ff.

(12) D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Gütersloh 1998
(DBW 8), z.B. 404 f., 509, 529, 546, 652 ff.

(13)  R. Guardini, Gedanken über das Verhältnis von Christentum und Kultur (1926), in: ders., Die Unterscheidung des Christlichen, Mainz 1935, 177-221 (188).


(14) R. Guardini, Über das Wesen des Kunstwerks, 3. Aufl. Tübingen / Stuttgart 1950, 52.

(15) So Guardinis eigene Zusammenfassung in: R. Guardini, Das Ende der Neuzeit. Die Macht, Mainz / Paderborn 1986, 47.

(16) Ebenda.

(17) R. Guardini, Das Ende der Neuzeit, a.a.O., 51.

(18) R. Guardini, Das Ende der Neuzeit, a.a.O., 81.

(19) R. Guardini, Das Ende der Neuzeit, a.a.O., 85.

(20) R. Guardini, Das Ende der Neuzeit, a.a.O., 90.

(21) Vgl. dazu W. Huber, Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998.

(22) Vgl. E. Jüngel, Unterwegs zur Sache, München 1972, 8: "Denn der Glaube ist auf jeden Fall eine Erfahrung, die wir mit der Erfahrung machen und machen müssen." sowie W. Huber, Die Spannung zwischen Glauben und Lehre als Problem der Theologie, in: ders., Konflikt und Konsens. Studien zur Ethik der Verantwortung, München 1990, 15-43 (22): "Der Glaube also ist die durch Jesus eröffnete Erfahrung der Zeit, die wir mit allen Erfahrungen in der Zeit machen können."

(23) Johannes 20, 29.

(24) Vgl. J. Fischer, Glaube als Erkenntnis. Studien zum Erkenntnisproblem des christlichen Glaubens, München 1989.

(25) Vgl. W. Krötke, Gottes Klarheiten, Tübingen 2001, 290.