Gedenkrede in Ketschendorf/Halbe

Wolfgang Huber

1.
Als Alfred im Alter von neunzehn Jahren entlassen wurde, lag ein schwarzer Abgrund hinter ihm. In kürzester Zeit starben in Ketschendorf etwa 6000 Menschen. Die Toten wurden aus dem in der ehemaligen DEKA-Siedlung eingerichteten Internierungslager in das sogenannte Wäldchen gekarrt. Gefangene warfen sie in ausgehobene Massengräber, überschütteten sie mit Löschkalk und scharrten die Löcher zu. Die Erinnerung an die Toten sollte gelöscht und getilgt, ausgelöscht und ausgetilgt werden. Unvorstellbar, sich heute noch einmal hineinzuversetzen, wie es wohl war, als die sterblichen Überreste aus den Massengräbern exhumiert wurden, weil das Wäldchen nicht mehr Wäldchen sein sollten. Die Überführung nach Halbe, auf diesen Waldfriedhof, mag man sich im Rückblick gar nicht ausmalen.

Wer hätte damals damit gerechnet, dass eines Tages die Sterbelisten dieses Lagers wieder auftauchen, dass die Namen entziffert und aus der kyrillischen Schrift wieder übertragen werden? Nun findet wenigstens die Namenlosigkeit ein Ende. Die Erinnerung an die Toten ist nicht gelöscht und getilgt, nicht ausgelöscht und ausgetilgt. Einen schwachen Abglanz davon erleben wir, dass unser aller Namen im Himmel geschrieben sind – aber ganz besonders die Namen derer, deren Gedächtnis auf Erden ausgelöscht und vernichtet werden sollte.

Die Vergangenheit  geht nicht einfach vorüber. Aber sie bleibt unter Umständen lange unaufgedeckt. Auch Alfreds Schicksal kennen wir erst seit kurzem. Erst im Frühjahr des Jahres 1998 wird in München ein schmales Büchlein von etwa einhundert Seiten herausgegeben. Der Autor ist Alfred Jank, Jahrgang 1929. Er hat Ketschendorf überlebt. Fünfzehn Jahre nach seiner Entlassung schrieb er für seine Geschwister auf, unter welchen menschenunwürdigen  Verhältnissen die Gefangenen in diesem Internierungslager gelebt und gelitten haben. Sein eigener Bruder Erwin starb im Lager und wurde wie ein Tierkadaver verscharrt. Alfred Jank hatte den Mut, noch einmal zu durchleben, was er erlitten hat. Er hat es aufgeschrieben. Er hat auf diese Weise die schwer vorstellbaren Zustände in Ketschendorf de Schweigen entrissen.

2.
Der 31. August 1945 war ein warmer Sommertag; manche erinnern sich noch an diesen ersten Nachkriegssommer. Der gerade sechzehn Jahre alt gewordene Alfred war am Nachmittag mit seinem Onkel unterwegs, um die Wiese zu mähen. Als sie mit Fahrrad und Sense durch das heimatliche Dorf am östlichen Rand des Spreewalds fuhren, wurden sie von einem polnischen Soldaten angehalten. Später gesellte sich ein russischer Offizier hinzu. Alfred musste seinen Namen nennen. Der Soldat verglich mit einer Liste  und befahl dem Sechzehnjährigen, dass er von zu Hause einmal Unterwäsche zum Wechseln und eine Decke holen solle. Der Onkel, der seinen Neffen in Schutz nehmen wollte, fragte nach dem Warum und dem Weshalb. Es gab keine Antwort. Der Soldat schlug mit dem Maschinengewehr auf ihn ein.

Am 31. August 1945 wurde Alfred Jank verhaftet. Nach einigen Tagen kam er in das so genannte Speziallager Nr. 5 nach Ketschendorf bei Fürstenwalde. Er wusste damals noch nicht, was ihm bevorstand. In Ketschendorf traf er auf seinen bereits verhafteten älteren Bruder Erwin. Beide überleben wie durch ein Wunder die langen Tage und Monate bis in den Februar des Jahres 1947 hinein. Beide werden dann gemeinsam mit zahlreichen Häftlingen in das Speziallager Nr. 9 des NKDW nach Fünfeichen verfrachtet. Erwin stirbt am 18. März 1948, Alfred überlebt und wird am 18. Juli entlassen. Am Vorabend der Entlassung wird er für den Fall, dass er auch nur irgend etwas über die Zeit seiner Inhaftierung berichten würde, mit sofortiger neuer Verhaftung bedroht.

Wir wissen heute, dass Hitler die Welt über den Rand des Abgrunds hinaus geführt hat. Die mit seinem Namen verbundene totalitäre Politik warf noch ihre langen Schatten, als das stalinistische Regime des Terrors auch in Ketschendorf Schrecken und Angst verbreitete. Am Beispiel von Alfred Jank ahnen wir, was Menschen angetan wurde, über alles Verstehen und Begreifen hinaus.

3.
Wir haben die große Möglichkeit, aus dem Geschehenen zu lernen. Das Vermächtnis derer, die in Ketschendorf ihr Leben ließen und in Halbe eine letzte Ruhestätte fanden, braucht nicht ohne Folgen zu bleiben. Wir können in Europa dafür eintreten, dass nie wieder die Würde von Menschen so mit Füßen getreten wird.

Am 1. Mai 2004, also heute vor einer Woche, wurde ein großer Schritt auf dem Weg vollzogen, zu dem die Zivilcourage vieler Menschen im Jahr 1989 die Tür aufgestoßen hat. Ein weitere wichtiger Schritt ist erfolgt, um die Teilung Europas zu überwinden. Ein bisher nicht vorstellbarer Raum der Freiheit und des Rechts kann nun mit Leben gefüllt und gestaltet werden. Heute, im Angesicht der Toten, rufe ich uns allen zu: Frieden und Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie müssen wir annehmen und gestalten, wenn zukünftig die unveräußerliche Würde des Menschen gewahrt bleiben soll. Unser Land und ganz Europa braucht aufrechte Demokraten. Ich füge hinzu: Christen wollen dazu das Ihre beitragen, Menschen, die ihr Haupt vor Gott beugen, sonst vor niemandem auf dieser Welt. Es sei denn für andere.

4.
Dietrich Bonhoeffer, der Berliner Theologe und Märtyrer im Kampf gegen das Naziregime, hielt, kaum siebenundzwanzigjährig, im Februar 1933 eine Rundfunkansprache über den Begriff des Führers. In seiner Ansprache warnte er davor, dass in Deutschland der Führer zum Verführer geworden sei. Der Christ Bonhoeffer kämpfte gegen Hitler und war an den Vorbereitungen zum geplanten Tyrannenmord beteiligt. Am 9. April 1945 wurde Dietrich Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet. Im gleichen Monat richtete die sowjetische Besatzungsmacht das Speziallager Nr.5 in Ketschendorf ein.

Dem Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge, der Initiativgruppe Internierungslager Ketschendorf und dem Land Brandenburg ist es zu verdanken, dass die Namenlosigkeit ein Ende hat und die Ortlosigkeit überwunden werden konnte. Die Angehörigen haben nun endlich einen Ort für ihre Trauer erhalten. Denen, die trauern und den Toten wird heute ein Stück ihrer unveräußerlichen Würde zurückgegeben. Sie haben ihre Namen wieder. Wir wollen achten, was verleugnet wurde: ihre Würde.

Die offizielle Sterbeliste des NKDW Lagers in Ketschendorf umfasst 4620 Namen. Die Zahl der Toten ist gewiss größer. Sie alle konnten nicht zu ihren Eltern, Geschwistern und Angehörigen zurückkehren. Sie werden voller Verzweiflung davon geträumt haben, in die Arme ihrer liebsten Menschen zurückzugelangen. Ohne Gerichtsverfahren wurde ihnen die Freiheit genommen. Ihr Menschsein wurde geleugnet. Über die Gründe ihres Geschicks erfuhren sie nichts. Die Grundbedürfnisse, die zum Menschsein gehören, wurden negiert.

Hinter jedem Namen steht ein Antlitz. Zu jedem Namen gehört eine Biografie. Jeder Name ist mit einem einzigartigen und unverwechselbaren Menschen verbunden. Christen vertrauen darauf, dass unser Menschsein von Gott bejaht ist. Es behält Bestand, auch noch in der äußersten Erniedrigung. Aus dieser Zusage kann man Kraft schöpfen, auch noch angesichts dieser 4620 Namen. In der Bibel heißt es: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei meinem Namen gerufen; du bist mein!“(Jes 43,1)

Die Konsequenz, die Christen immer wieder daraus gezogen haben, lautet: Es ist unsere Aufgabe, unserer Berufung zum Menschsein zu entsprechen. Gott entsprechende Menschen dürfen nicht entmündigt und ihrer Freiheit beraubt werden. Aber sie dürfen auch andere Menschen nicht entmündigen und ihrer Freiheit berauben. Unsere Verantwortung ist gefragt.

Wir wissen, dass Menschen immer wieder ihrer Berufung zum Menschsein widerstreben. Sie beteiligen sich daran, dass andere Menschen traumatisiert, in die Verzweiflung getrieben und dem Tod ausgeliefert werden. Aber wir finden uns damit nicht ab. Wir lassen uns nicht auf die Behauptung ein, die Welt sei in einen Teufelskreis des Bösen gefangen. Wo wir können, wollen wir ihn durchbrechen.

5.
Der mit dem Leben davongekommene Alfred Jank ist 169 groß und wiegt bei seiner Entlassung 44 Kg. Er macht sich auf den Weg nach Hause. Sein Entlassungsschein gilt als Zugfahrkarte. Von seiner Kreisstadt aus wandert er die Landstraße entlang. Sein Vater – per Telefon verständigt – kommt ihm entgegen. Eindrücklich schildert Alfred seine Heimkehr: „…von weitem sehe ich ein Motorrad mit Seitenwagen herankommen. Jetzt erkenne ich meinen Vater. Kurz vor mir drosselt er die Geschwindigkeit. Da rufe ich: Vati, ich bin’s! Dann verliere ich jede Beherrschung und falle meinem Vater um den Hals. Meine Freudentränen sind nicht mehr aufzuhalten. Das erste Mal im Leben sehe ich auch bei meinem Vater feuchte Augen.“

Im dem alten Gebet des 126. Psalms heißt es:

Wenn der Herr die Gefangenen  Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.
Dann wird unser Mund voll Lachens
Und unsere Zunge voll Rühmens sein.
Dann wird man sagen unter den Völkern:
Der Herr hat Großes an ihnen getan!
Der Herr hat Großes an uns getan;
Des sind wir fröhlich.
Herr, bringe zurück unsere Gefangenen,
wie du die Bäche wiederbringst im Südland.
Die mit Tränen sähen, werden mit Freuden ernten.
Sie gehen hin und weinen
Und streuen ihren Samen
Und kommen mit Freuden
Und bringen ihre Gaben.

Alfred Jank berichtet weiter:

„…Als wir daheim auf dem Hof eintreffen, werde ich schon von Mutti erwartet. Eine solche Begrüßung, nach drei Jahren der Trennung können Worte nicht beschreiben. Ich weiß nur noch, dass ich einen Schwächeanfall bekomme und am ganzen Körper zittere, als ich die Umarmung meiner Mutter spüre.“

Ja, die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. In dieser Gewissheit halten wir das Gedächtnis an die Gefangenen von Ketschendorf lebendig, an die, die dort starben und an die, die überlebten. Friede sei mit ihnen.