Perspektiven einer zukunftsfähigen Gesellschaft

Wolfgang Huber

Chemnitz

Und nach uns...
Perspektiven einer zukunftsfähigen Gesellschaft

Vortrag auf der Jahrestagung der Agrarsozialen Gesellschaft in Chemnitz

1.
„Und nach uns die Sintflut“ - dieses geflügelte Wort, auf das der Titel meines Vortrags anspielt, nötigt dazu, mit einem kleinen „Werbeblock“ zu beginnen. Denn es handelt sich um ein gutes Beispiel dafür, wie prägend die Bibel, der christliche Glaube und die Tradition der Kirche für unsere Gesellschaft sind. Um diesen Satz - wie viele andere - zu verstehen, braucht man etwas Wissen über die Geschichten der Bibel, über die Inhalte der christlichen Religion. Der Umgang mit diesem Wissen ist heute umstritten; dass es zur allgemeinen Bildung gehört, ist nicht mehr selbstverständlich. Manche meinen sogar, es sei nicht einmal zu verantworten, dieses Wissen an die eigenen Kinder weiterzugeben, weil eine Einführung in die Überlieferungen des christlichen Glaubens sie in ihrer freien Entscheidung diesem Glauben gegenüber und somit in ihrem freien Willen einschränken würde. Schränkt es sie wirklich weniger ein, wenn ihnen die Möglichkeit vorenthalten wird, einen solchen Satz verstehen zu können? Ist es eine Einschränkung, wenn ich meinen Kindern Deutsch beibringe, obwohl ich weiß, dass es unendlich viele andere Sprachen gibt, die natürlich ethisch absolut gleichrangig sind? Oder eröffnet die Einführung in diese eine Tradition den Kindern nicht gerade erst die Möglichkeit, auch die anderen kennen zu lernen und eine verantwortliche eigene
Entscheidung zu treffen?

„Und nach uns die Sintflut“ - dieses geflügelte Wort ist aber nicht nur ein Beispiel für die Prägekraft des Christentums in Geschichte und Gegenwart; ihm entspricht auch nach wie vor die Einstellung vieler Menschen. „Was gehen mich die Folgen meines Handelns an?“ fragen sie und beantworten sich diese Frage gleich selbst mit dem Hinweis auf die Sintflut. Wie in einem Brennspiegel erfasst dieser Slogan eine gerade heute weit verbreitete Haltung. Lassen Sie mich deshalb noch einen Augenblick bei der Herkunft dieses Ausspruchs bleiben: „Nach uns die Sintflut“.

In der Bibel hat diese Sintflut, die die gesamte Erde überschwemmt und die nur Noah mit seiner Familie und den Tieren auf der Arche übersteht, eine doppelte Bedeutung: Sie ist zuerst eine Strafe für die sündhafte Undankbarkeit und Gewaltneigung des Menschen. Davon ist Gott, so sagt es das Bild von der Sintflut, so enttäuscht, dass er diese Welt nicht mehr vor Augen haben will. Die Sintflut trägt also alle Züge einer zerstörerischen Überschwemmung, der Lebewesen in großer Zahl zum Opfer fallen. Wenn man die Sintflutgeschichte von dieser Seite her anschaut, dann fällt es schwer, sie mit dem Glauben an Gott als den Schöpfer zusammen zu bringen, der ansah, was er geschaffen hatte und siehe, es war sehr gut – wie es im biblischen Schöpfungsbericht heißt. Diese zerstörerische Antwort auf das zerstörerische Handeln des Menschen lässt sich aus dieser Perspektive nur schwer verbinden mit dem Bekenntnis zu dem Gott, der ein Liebhaber des Lebens ist.

Doch die Sintflut wird in der Bibel von der anderen Seite her wahrgenommen. Die Erschütterung über diese göttliche Reaktion auf das von Menschen herbeigeführte Unheil behält nicht das letzte Wort. Vielmehr wird die Sintflut in der Bibel im Kern als etwas Positives dargestellt - und das ist ihre andere Dimension -, nämlich als Reinigung. Sie wird – in der Liturgie der Osternacht wird das bis zum heutigen Tag deutlich – als ein auf die ganze Erde bezogener Vorgang gedeutet, der in der Taufe des einzelnen Menschen seine persönliche Entsprechung findet. Sie wird zum Zeichen der Bewahrung. „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen, denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. (...) Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. (...) Und ich richte meinen Bund so mit euch auf, dass hinfort nicht mehr alles Fleisch verderbt werden soll durch die Wasser der Sintflut und hinfort keine Sintflut mehr kommen soll, die die Erde verderbe.“ So heißt es am Ende der Sintflutgeschichte. Und das Zeichen des göttlichen Bundes mit Noah ist der Regenbogen, der immer an dieses Versprechen erinnern soll. Der Regenbogen, der sich am Firmament spannt, wird zum Zeichen dafür, dass Gott seiner Schöpfung treu bleibt und den Menschen, so abtrünnig er auch ist, am Leben erhält.

Würden wir diesen Gedanken zu Ende denken, ließe sich dem „Und nach uns die Sintflut“ sogar ein positiver Sinn abgewinnen. Wenn dieser Satz das Vertrauen spiegeln würde, Gott werde uns und die Folgen unseres Handelns reinigen, wenn mit diesem Satz also die Hoffnung auf einen Neubeginn verbunden wäre, dann ließe sich darüber ja reden. Wenn darin das Zutrauen zum Ausdruck kommt, dass wir im Vertrauen auf die Segenszusage Gottes mit der uns anvertrauten Zukunft verantwortlich umgehen wollen – dann, ja dann gewinnt dieser Satz eine ganz neue Bedeutung.

2.
Das geflügelte Wort „Nach uns die Sintflut“ geht auf die Marquise von Pompadour (1721-1764) zurück, die Maitresse des französischen Königs Ludwigs XV. Angesichts der verlorenen Schlacht bei Roßbach – in der Nähe von Merseburg gelegen – im Jahr 1757 ist dieses Wort entstanden. In dieser Schlacht hatte Friedrich der Große innerhalb von wenigen Stunden die gegnerische Armee geschlagen und damit die Voraussetzung für den Sieg von Leuthen geschaffen. Dieses Desaster kommentierte die Geliebte des französischen Königs mit dem Satz: „Après nous le déluge“ – „nach uns die Sintflut“. Das war nicht frivol, sondern vorahnend gemeint: Jetzt kann es nur noch ganz schrecklich kommen. Ein Jahr später münzte der Abbé de Mably dieses Wort auf das Verhalten des französischen Parlaments: „L’avenir les inquiète peu: après eux le déluge“ – „Die Zukunft beunruhigt sie wenig: nach ihnen die Sintflut.“ In dieser Fassung enthält der Ausdruck eine der schärfsten Anfragen an politisch Verantwortliche, die je formuliert wurden: Wer nach dem Grundsatz verfährt „Nach uns die Sintflut“, versündigt sich an der Zukunft. Die desaströsen Umstände sind ihm gleichgültig, vor denen er die eigene Haut zu retten versucht. Individualisierung ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, purer Egoismus ohne ein Bedenken der Folgen, eine Politik des kurzfristigen und kurzatmigen Machterhalts, die Preisgabe der Nachhaltigkeit: das sind die Haltungen, die mit dem Bildwort von der Sintflut dann gemeint sind.

Bundespräsident Johannes Rau hat am 12. Mai 2004 in seiner letzten Berliner Rede diese Art von blanker Eigensucht im Blick gehabt, als er die Vorgänge beschrieb, durch die in unserer Gesellschaft Vertrauen ausgehöhlt wird: Vertrauen in die politisch Handelnden ebenso wie in diejenigen, die in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen Verantwortung tragen. Die Haltung „Nach uns die Sintflut“ ist es, deretwegen Reformen in unserem Land derzeit so kläglich misslingen. Diese Haltung ist es, deretwegen nicht einmal ein Gesetz zu Stande kommt, dessen Notwendigkeit im Ernst von niemandem bestritten wird – das Zuwanderungsgesetz meine ich. Diese Haltung ist es, aus der heraus sich Manager aus den Erträgen ihrer Firmen hemmungslos zum eigenen Vorteil bedienen, ohne sich um die Verschlechterung der Lebensbedingungen für den sogenannten „kleinen Mann“ auch nur zu scheren.

3.
Mit der Sintflut ist nicht zu rechnen. Die Bundeszusage Gottes, von der die alttestamentliche Sintflutgeschichte berichtet, hat sich bewährt. Die Sintflutangst, wie sie sich vor dem Jahr 1524 noch einmal in Europa ausgebreitet hat, weil ein angesehener Astrologe eine entsprechende Konstellation vorausgesagt hatte, gehört der Vergangenheit an. Wer wüsste das besser als die in der Landwirtschaft tätigen Menschen. Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht bestimmen bei aller technischen Weiterentwicklung bis heute ihren Lebensrhythmus. Die Kenntnis dieses sich Jahr für Jahr neu entwickelnden Zyklus ist die Grundlage nicht nur für wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch für unsere Ernährung. Und gleichzeitig weiß niemand so gut wie unsere Landwirte, dass dieser Rhythmus zwar im Großen beständig im Detail aber sehr gefährdet ist. Frost zur Unzeit kann eine Ernte ebenso beeinträchtigen wie ein sogenannter Jahrhundertsommer. Diese natürlichen Phänomene werden durch Menschenhand noch zusätzlich negativ beeinflusst, wenn Treibhausgasemissionen zur Klimaerwärmung beitragen oder die Begradigung von Wasserläufen die Hochwassergefahr erhöht. Mehr noch kann sich unbedachtes menschliches Handeln in der Landwirtschaft in anderer Hinsicht negativ auswirken: Eine falsche Früchtefolge, ein ausgelaugter Boden, ein von Erosion bedrohter Hang, gefährliche Viehfütterung, ein überzüchtetes Tier: Ein zunächst kleiner Fehler, ein unbedachter Versuch kann Auswirkungen für viele Jahre, wenn nicht Generationen haben.

Dieses Wissen um die Verantwortung unseres Handelns für unsere Zukunftsfähigkeit, für die Nachhaltigkeit unseres Lebens und Wirtschaftens, ist seit Jahrhunderten in der Landwirtschaft fest verankert. Zuerst für die Forstwirtschaft  und dann für die Landwirtschaft wurde der Gedanke der Nachhaltigkeit formuliert; auf einen sächsischen Forstwirt des 18. Jahrhunderts, aus der Familie von Carlowitz stammend, geht das Wort „Nachhaltigkeit“ ursprünglich zurück. Für die Bereiche der Forst- und Landwirtschaft wurde zunächst die Vorstellung von einem Generationenvertrag geprägt, dem zufolge wirtschaftlich effektives Handeln sich nicht nur am eigenen Vorteil, sondern auch am Nutzen für die nächste Generation ausrichtet. Heute fangen wir an, die Weisheit dieser gerade in der Landwirtschaft verankerten Einsichten neu zu begreifen. Heute sehen wir – zumindest ansatzweise – ein, dass zukunftsfähiges Handeln sich an solchen Grundsätzen der Nachhaltigkeit und des Generationenvertrags ausrichten muss. Doch selbstverständlich sind solche Einsichten nicht; wie anders wäre es zu erklären, dass die Bundesregierung sogar einen „Rat für Nachhaltigkeit“ eingerichtet hat. Und meistens beschränkt man die Anwendung dieser Konzeption auf den Bereich der Ökologie. Doch so wichtig dieser Bereich ist, so wichtig ist es, dass wir neben der ökologischen und der ökonomischen auch die soziale und kulturelle Nachhaltigkeit im Blick haben. Ob unsere Gesellschaft zukunftsfähig ist, entscheidet sich nicht nur daran, ob wir mit den natürlichen Ressourcen verantwortlich umgehen und unsere Wirtschaft leistungs- und wettbewerbsfähig erhalten. Es entscheidet sich ebenso daran, ob wir die Institutionen des sozialen Zusammenlebens pfleglich behandeln und ob wir unsere kulturelle Identität bewusst bewahren und weiterentwickeln. Sonst könnte es sein, dass wir wichtige Elemente des sozialen Zusammenhalts und des kulturellen Erbes innerhalb kurzer Zeit verspielen, ohne dass irgendein tragfähiger Ersatz dafür in Aussicht steht.
Am Beispiel des Sonntags erläutere ich, was ich meine. Die Landwirtschaft gehört zu denjenigen gesellschaftlichen Bereichen, in denen Sonntagsarbeit in gewissem Umfang, in Erntezeiten verstärkt, unausweichlich ist. Aber gerade in der Landwirtschaft weiß man zugleich, dass der Rhythmus der Sieben-Tage-Woche, der Wechsel von Arbeit und Ruhe, die gemeinsame freie Zeit für Gottesdienst und soziale Aktivitäten ein hohes Gut darstellen. Gerade wer am Sonntag notwendiger Arbeit nicht ausweichen kann – ich spreche auch aus eigener Erfahrung – , wird den Schutz des Sonntags auf besondere Weise hochhalten wollen. Heute aber wird unter Verweis auf vermeintliche Erfordernisse der Globalisierung dagegen der Schutz des Sonntags immer stärker zur Disposition gestellt. Ohne Sonntag gibt es aber nur noch Werktage – wie wir als evangelische Kirche vor wenigen Jahren in einer öffentlichen Kampagne gesagt haben. Es ging uns dabei um die Bewahrung einer wichtigen sozialen Institution, um die kulturelle Qualität des Zusammenlebens, um den Raum für die Freiheit der Religion. Es ging und es geht uns weiterhin um Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit.

4.
Das ist der Horizont, in dem ich einige Perspektiven für eine zukunftsfähige Gesellschaft entwickeln möchte. Dabei beginne ich mit der elementaren Einsicht, dass die Zukunft einer Gesellschaft ihre Grundlage im Leben und in den Lebensmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen hat. Der Wunsch nach Kindern und der Raum für Kinder entscheiden in diesem Sinn über die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft. Deshalb komme ich gar nicht darum herum, in dem, was man die „Fertilitätskrise“ unserer Gesellschaft nennt, auch eine Krise ihrer Zukunftsfähigkeit zu sehen. In den letzten Wochen ist erneut intensiv auch öffentlich diskutiert worden, was der demographische Wandel in dieser Hinsicht für Deutschland insgesamt und besonders für die östlichen Regionen Deutschlands bedeutet.

In Wahlkämpfen ist deshalb von der Familie immer wieder die Rede. Doch in der konkreten Politik steht sie am Rand. In Wahlkämpfen wird die Bedeutung der Familie herausgestrichen; Verbesserungen für sie werden gefordert. Hinterher bleibt nicht viel davon übrig.  Für die Familien wurden beispielsweise im letzten Bundestagswahlkampf im Wesentlichen Ankündigungen gemacht, die gar nicht zur Bundeskompetenz gehören; Ganztagsschulen und Kindertagesstätten nenne ich als Beispiele. Im Bereich des Bundes selber fallen dagegen eher die Versäumnisse auf. So hat beispielsweise das Bundesverfassungsgericht gefordet, dass bei jeder Veränderung in der gesetzlichen Alterssicherung die Position von Familien verbessert werden muss; Doch im Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz blieb diese Forderung unberücksichtigt. Ebenso hat das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass Familien mit Kindern durch die Pflegeversicherung nicht schlechter gestellt werden dürfen.  Denn bei der Absicherung von typischen Altersrisiken muss der Beitrag berücksichtigt werden, den Eltern dadurch leisten, dass sie Kinder bekommen und erziehen, die später einmal zu den notwendigen Leistungen beitragen können. Familienpolitik zwischen Ankündigungen und Umsetzungsdefiziten - darüber könnte man wahrscheinlich ganze Bücher schreiben. Es geht aber nicht ums Lamentieren, dieser Befund ist aber Anlass, die grundsätzlichen Schwierigkeiten unserer familienpolitischen Debatte zu bedenken.

Ausgangspunkt der meisten Überlegungen in dieser Zeit in Deutschland ist die erschreckend niedrige Geburtenrate, die kaum zu glaubende Armut an Kindern, die Teile unserer Gesellschaft kennzeichnet. Bei der Auseinandersetzung mit diesen problematischen Entwicklungen ist aus evangelischer Sicht zweierlei besonders zu bedenken.

„Seid fruchtbar und mehret euch“ heißt eine viel zitierte biblische Verheißung für das menschliche Leben in Ehe und Familie. Eine absolute ethische Verpflichtung, Kinder zu bekommen, ergibt sich daraus nicht. Sowohl eine kinderlose Ehe wie auch ein Leben ohne Ehe und ohne Kinder können den höchsten ethischen Idealen genügen. Das wird nicht nur durch die große, auch in der evangelischen Kirche nach wie vor lebendige, gepflegte und nicht zuletzt biblisch ausdrücklich begründete Tradition der Ehelosigkeit deutlich. Es ergibt sich vielmehr zugleich im Blick auf Paare, die keine leiblichen Kinder bekommen und dies auch nicht durch die Mittel der modernen Reproduktionsmedizin ausgleichen wollen oder können. Auch sie leben nicht etwa in einer unvollständigen oder ethisch kritikwürdigen Lebensform; auch sie können wichtige und gerade aus ihren Situationen heraus ganz eigene Beiträge leisten; beispielshaft kann man nennen, wie sie im Patenamt oder in ehrenamtlichem Engagement in einen weiteren Bereich einbringen, was andere im engeren Bereich der eigenen Familie leisten.

Doch neben die hohe Achtung vor solchen Lebenssituationen und Lebensformen muss die Ermutigung treten, sich für Kinder zu entscheiden. Viele in der Generation der heute Zwanzig- bis Vierzigjährigen fühlen sich jedoch durch die Dreifachbelastung von Bildung, Beruf und Familie überfordert. Sie erleben, wie Paul Baltes das unlängst genannt hat, einen „Lebensstau“, dem sie sich nicht gewachsen fühlen. Die Verschiebung des Kinderwunsches ist eine verbreitete Reaktion. Bei manchen mag auch eine allzu nüchterne Abwägung zwischen Lebensstandard und Kinderwunsch eine Rolle spielen; bei anderen handelt es sich weit eher darum, dass sie mit guten Gründen in Kindern ein Armutsrisiko sehen. Nicht einfach eine individuelle Verweigerung der Verantwortung, die mit dem Aufziehen und Aufwachsen von Kindern verbunden ist, sondern diese Kombination zwischen gesellschaftlicher Zukunftsscheu und persönlichem Lebensstau bewirkt die Fertilitätskrise, die sich in unserer Gesellschaft weit dramatischer zeigt als in vielen vergleichbaren Gesellschaften. Nicht nur die erfreuliche Zunahme der Zahl älterer Menschen, sondern ebenso der besorgniserregende Rückgang in der Zahl der jüngeren bildet deshalb eine dringliche Herausforderung für eine Politik, die wirklich den Namen „Reformpolitik“ verdient. Ein Jahr nach der Agenda 2010 hat Bundeskanzler Gerhard Schröder das ausdrücklich und mit bemerkenswertem Nachdruck anerkannt und unterstrichen.

Freilich ist zur demographischen Entwicklung auch noch eine andere Bemerkung nötig. Gewiss droht nicht die Menschheit insgesamt auszusterben, wenn die Deutschen weniger Kinder zur Welt bringen. Die Geschichte ist reich an Völkern, die vergangen sind und gerade dadurch neue Völker haben entstehen lassen. Nach wie vor gilt auch, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern und zu anderen Epochen seiner Geschichte heute ein dicht besiedeltes Land ist. Die Demographie allein ist keine zureichende Quelle weiterführender Einsicht. Wir müssen vielmehr einräumen, dass wir uns in dieser Gesellschaft auf eine Konzeption im Verhältnis zwischen den Generationen eingestellt haben, in der die jetzige Generation nur so viel Zukunftssicherheit hat, wie sie auf die nächste Generation bauen kann. Die Weichenstellung dahin ist vor einem halben Jahrhundert durch Konrad Adenauers Rentengesetzgebung erfolgt. Die Folgen werden inzwischen unter dem provozierenden Stichwort eines „Methusalem-Komplotts“ diskutiert. Wird es diese nächste Generation geben? Wird sie zu solchen Leistungen bereit sein? Diese Frage muss die Gemüter erregen.

Noch unter einem anderen Gesichtspunkt aber hat es die Zukunft nicht bloß mit Zahlen zu tun. Ganz offenkundig beschäftigt uns auch die Frage nach kultureller Identität und Kontinuität in die Zukunft hinein. Ich merke das derzeit sehr intensiv an der großen Reizbarkeit, mit der die Frage nach der Stellung des Islam in unserer Gesellschaft und nach der Integration der großen muslimischen Minderheit in unser Land diskutiert wird. Auch diejenigen, die selbst ohne religiöse Bindung leben, reden in diesem Zusammenhang neu über die christliche Prägung Deutschlands und Europas. Die Besorgnis erregende und inakzeptable Verknüpfung zwischen terroristischen Gewalttaten und muslimischem Glauben gibt dieser Diskussion eine ganz unausweichliche Zuspitzung. Diese Diskussion muss geführt werden; und von Sprechern des Islam muss endlich eine wirklich überzeugende Abgrenzung von allen religiösen Rechtfertigungen des islamistischen Terrors erwartet werden. Aber beim Nachdenken über die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft geht es offenbar um mehr: Wir müssen ein bewusstes Ja zur eigenen Identität und zur eigenen Zukunft mit der Bereitschaft verbinden, Fremdes zu verstehen und Fremde im Maß des Möglichen in unsere Gesellschaft zu integrieren. Beides gehört auf Dauer unumgänglich zusammen.

Unsere Kirche engagiert sich bewusst und mit Nachdruck für Familien. Sie plädiert für einen Perspektivenwechsel hin zu den Kindern. Wir stellen dabei fest, dass es heute wieder in verstärktem Maße zu den wichtigsten Wünschen der allermeisten jungen Menschen zählt, eine Familie und eigene Kinder zu haben. Darin, dass dieser Wunsch für so viele Menschen nicht Wirklichkeit wird, liegt eine der zentralen Herausforderungen für unser Gemeinwesen. Neben den äußeren Voraussetzungen, die unbedingt und schnellstens verbessert werden müssen, erfordert dies eine Arbeit auch an den inneren Rahmenbedingungen. Die gesellschaftlich wirksamen Werte, Normen und Rollenbilder verdienen verstärkte Beachtung. Vor allem junge Frauen werden heute verstärkt mit der dreifachen Erwartung im Blick auf Bildung, Beruf und Familie konfrontiert. Dieser Konflikt, den in der Regel die jungen Frauen ausfechten müssen, und der ihnen auch durch die unbedingt zu steigernde Unterstützung der Väter und durch externe Angebote nicht abgenommen werden kann, muss thematisiert werden. Die Chancen, solche Rollenerwartungen zu erfüllen, müssen, wo immer das geht, verbessert werden. Es muss Gründe für das Zutrauen geben, dass aufgeschobene Bildungs- und Berufserwartungen bei Frauen wie Männern auch in späteren Lebensphasen noch verwirklicht werden können. Das Ausmaß, in dem in anderen Ländern Universitätsstudien für ältere Weiter- oder Neubildungsstudenten offen stehen, sollte uns in diesem Zusammenhang sehr nachdenklich stimmen.

Die wirklich dramatischen Auswirkungen des demographischen Wandels liegen noch vor uns. Die eigentliche Herausforderung wird sich zeigen, wenn in etwa zwanzig bis dreißig Jahren die geburtenstarken Jahrgänge bis 1967, die zur Zeit voll im Erwerbsleben stehen, die Altersgrenze erreichen und sich zur Ruhe setzen wollen. Die riesigen Probleme, die dies insbesondere für unsere Rentenversicherung mit sich bringen wird, sind ja schon vielfach beschrieben worden. Es ist wichtig zu betonen, dass sich diese Probleme auch nicht durch die verstärkte Nutzung sogenannter kapitalgedeckter Vorsorgeinstrumente allein lösen lassen.

In dieser sich abzeichnenden Verteilungsdiskussion wird es mit großer Sicherheit darum gehen, die einzelnen Bedürfnisse, Leistungen und Leistungsmöglichkeiten genau anzusehen. Dazu zählt zum Beispiel die ohne jede ethische Wertung zu treffende Feststellung, dass ein junges Paar mit zwei Kindern, bei dem ein Elternteil die Kinderbetreuung übernimmt und das daher von einem Gehalt lebt, gegenüber einem gleichaltrigen und gleich ausgebildeten Paar ohne Kinder und mit zwei Gehältern in dieser Familienphase wesentlich weniger Geld zur Verfügung haben wird - und zwar auch nach Berücksichtigung aller staatlichen und sozialversicherungsrechtlichen Transfers. Wenn wir nun die Erwartung haben, dass der Lebensstandard beider Paare, also beider Männer und beider Frauen im Alter ungefähr gleich sein soll, so ergibt sich daraus wiederum ohne jedes ethische Urteil über den eingeschlagenen Lebensweg, dass der Lebensstandard auch in der Erwerbsphase etwa gleich sein sollte - warum sollte sich das eine Paar in diesem Lebensabschnitt deutlich mehr leisten können als das andere und gleichzeitig erwarten, im Alter gleichgestellt zu werden? Dies aber bedeutet, dass das kinderlose Paar in der Erwerbsphase einen wesentlich kräftigeren finanziellen Beitrag zur Altersvorsorge leisten kann und muss als das Paar mit Kindern. Präziser formuliert: Dem Beitrag, den das Paar mit Kindern durch Versicherungszahlungen und Kindererziehung leistet, muss der Beitrag entsprechen, den das andere Paar nur durch Zahlungen leistet - wie genau das auch immer auszugestalten sein wird.

Da wir in diesen Fragen ganz am Anfang einer einschneidenden und viele Traditionen unserer Gesellschaft in Frage stellenden Entwicklung stehen, ist es eine zentrale Aufgabe der Kirchen, hier für einen sachlichen Blick zu werben, für gerechte, solidarische und vor allem nachhaltige Lösungen einzutreten, Partei für die Familien, die Kinder und insbesondere die nach uns kommenden Generationen zu ergreifen, dabei falschen ideologischen oder auch nur vermeintlich ideologischen Überhöhungen zu widersprechen und so Verantwortung vor Gott und den Menschen zu praktizieren.

5.
Neben dem Perspektivenwechsel zu den Kindern und dem Eintreten für die Förderung von Familien ist der Schutz der natürlichen Ressourcen, die Sorge um die Schöpfung, der Umweltschutz ein Aspekt der Zukunftsfähigkeit, den ich heute hervorheben möchte. Es gebe kein Land, das für dieses Thema so viel Sensibilität entwickelt habe wie Deutschland, hat Bundespräsident Johannes Rau dieser Tage erklärt. Das ist ein starkes Wort. Aber richtig ist: Die Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung ist sogar als Staatsziel anerkannt; dabei hat man sich sogar die Betrachtung der Natur als Schöpfung zu eigen gemacht, die uns nicht einfach als Rohstoff zur Verfügung steht, sondern uns zum Bebauen und Bewahren, zur verantwortlichen Nutzung und Pflege also anvertraut ist. In unserer Gesellschaft hat sich darüber in den letzten Jahrzehnten ein weitgehender Konsens ausgebildet. Doch gerade im Blick auf die Landwirtschaft ist zugleich deutlich geworden, wie schwierig die Detailfragen sind, die hier zu berücksichtigen sind. Was nachhaltige Landwirtschaft ist, in welchem Verhältnis ökologische und ökonomische Erwägungen dabei stehen, ob die landschaftspflegende Tätigkeit von Landwirten ausreichend wahrgenommen und honoriert wird, all das sind Fragen, die noch keineswegs bis zum Ende ausgetragen sind. Für meine persönliche Lebenserfahrung sage ich: Die Bedeutung der Landwirtschaft für die Pflege der Landschaft steht mir so deutlich vor Augen und hat für mein eigenes Leben eine so große Bedeutung, dass ich die ökologische Bedeutung landwirtschaftlicher Tätigkeit nicht auf den Bereich des ökologischen Landbaus eingeschränkt sehen kann, so wichtig dieser Bereich ohne Zweifel ist.

Besonders komplex wird die Frage nach unserem zukunftsfähigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen dadurch, dass sie nicht für eine Nationalgesellschaft isoliert gelöst werden können. Besonders deutlich gilt das bei den großräumigen Herausforderungen wie dem Klimaschutz; sie lassen sich überhaupt nur durch internationale Zusammenarbeit angehen. Dafür, wie genau die handelbaren Zertifikate für Treibhausgasemissionen in Deutschland zuzuteilen sind, hat auch die Kirche keine unmittelbare Lösung zur Hand; denn aus der Bibel lässt sich dafür keine unmittelbare Klarheit gewinnen; aber dass es gut wäre, wenn es durch internationale Zusammenarbeit gelänge, dieses und andere weltweite Probleme in den Griff zu bekommen, sollte doch einvernehmlich festzustellen sein.

Lassen Sie mich an dieser Stelle hinzufügen: Wenn unsere Kirche sich bei solchen Themen auch zu konkreten Lösungsmöglichkeiten äußert, dann nicht deshalb, weil sie Vorschriften machen, sondern weil sie zu konkreter Verantwortung ermutigen will. Diese Ermutigung zu konkreter Verantwortung wird nachvollziehbar nur in der Diskussion über anstehende Schritte. Aber über solche Schritte kann und muss auch immer wieder kontrovers diskutiert werden. Für das Christsein entscheidend ist nicht die einzelne Antwort auf diese oder jene Frage. Denn das Christsein entscheidet sich bekanntlich am Glauben an Jesus Christus selbst. Ethische Gleichförmigkeit oder moralische Homogenität gilt gemeinhin eher als ein Kennzeichen von Sekten, nicht von Kirchen. In der Kirche werden Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher politischer Orientierung durch die Taufe miteinander verbunden. Durch die Zustimmung zu einer bestimmten politischen Position, die im Namen der Kirche vorgebracht wird, ist man noch kein Christ. Und auch dadurch, dass man einer solchen Position nicht zustimmt, hört man nicht auf, Christ zu sein. Miteinander nach den Wegen zu suchen, auf denen wir heute Verantwortung wahrnehmen können, ist eine Aufgabe, für die unterschiedliche Perspektiven geradezu notwendig sind. Es ist zugleich eine Aufgabe, bei der Christen und Nichtchristen sich treffen sollten. Um dieser Verantwortung willen bringt sich unsere Kirche auch in die öffentliche Diskussion ein.

6.
Nichts ist gegenwärtig heftiger umstritten als die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit. Umstritten ist sie, weil das Maß, in dem sie verwirklicht ist, nicht einfach an der absoluten Höhe des umverteilten Geldes abgelesen werden kann. Wichtiger ist heute, ob soziale Gerechtigkeit nachhaltig gesichert werden kann, ob also das, was heute versprochen wird, auch morgen eingehalten werden kann. Der Zweifel daran ist der tiefste Grund für die gegenwärtige Vertrauenskrise der Politik. Ein ebenso unverzichtbarer Maßstab sozialer Gerechtigkeit liegt in der Frage, ob der Spielraum bewahrt wird, das Nötige für die wirklich Schwachen zu tun, für diejenigen, die von der Möglichkeit ausgeschlossen sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, oder für diejenigen, die durch Alter und Krankheit daran gehindert sind. Aber schwach sind in den Verteilungskämpfen der Gegenwart auch diejenigen, die keine Stimme haben: die Kinder, die an Wahlen weder direkt noch indirekt beteiligt sind, die Angehörigen künftiger Generationen, über deren Lebensmöglichkeiten wir verfügen, ohne sie zu fragen.

Sie alle müssen wir im Blick haben, wenn wir fragen: Wieweit ist das soziale System überhaupt noch zu finanzieren? Staat, Länder, Gemeinden und die Sozialkassen haben riesige Schuldenberge aufgehäuft. Diese Gesellschaft finanziert einen großen Teil ihrer gemeinsamen Aufgaben zu Lasten kommender Generationen. Deshalb ist es wichtig zu fragen: Wie können die Sozialausgaben so gestaltet werden, dass sie selber kein Faktor werden, der neue Arbeitslosigkeit und Armut produziert? Wie kann der Kreis der Beitragszahler erweitert werden, um die Einnahmen des Staates für die Sozialsysteme abzusichern?

Immerhin sind im statistischen Jahresdurchschnitt von 50.000 € Geldzufluss bei Deutschen heute nur 23.600 € Arbeitseinkommen (so Der Spiegel 39/2003), wovon durchschnittlich 23% Steuern- und Sozialbeiträge abgehen. Statistische Durchschnittszahlen verfälschen die Wirklichkeit, wie man gerade an diesem Beispiel sehen kann. Denn sie geben keine Auskunft über die wachsenden Einkommensunterschiede, die sich gerade dann zeigen, wenn man nicht nur das Arbeitseinkommen, sondern alle Einkunftsarten in den Blick fasst. Aber bemerkenswert ist eben doch, dass aufs Ganze gesehen mehr als die Hälfte dieser Einkünfte nicht auf Arbeitseinkommen zurückgehen. Jenseits des Arbeitseinkommens verfügen die Deutschen in höchst unterschiedlichem Ausmaß über Zinsen, Mieteinnahmen und Erbschaften, über mehr oder weniger Kursgewinne, über Gewinne aus Unternehmen und so weiter. Zudem kostet eine Lohnerhöhung um 100 € erfordert de facto Mehraufwendungen von 154,50 €, bringt dem Arbeitnehmer aber im Netto durchschnittlich nur 49,- €. Natürlich müssen in Wahrheit keineswegs nur die um 100 ,-- € erhöhten Lohnkosten, sondern auch die zusätzlichen Lohnnebenkosten von 45,50 € aus der Arbeit des Arbeitnehmers erbracht werden. Die Vorstellung, die Lohnnebenkosten seien eine zusätzliche Leistung des Arbeitgebers, führen ja in Wahrheit in die Irre. Insofern ist diese Struktur im Kern eine Belastung für die Arbeitnehmer selbst.

Genau daran kann man sehen, warum man nicht isoliert von Gerechtigkeit, aber auch nicht isoliert von Solidarität reden darf, sondern beide im Zusammenhang mit den Forderungen nach Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit sehen muss. Wenn man unter diesem Gesichtspunkt das Gemeinsame Wort der Kirchen "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" von 1997 noch einmal durchsieht, so fällt auf, dass tatsächlich schon dort Solidarität und Gerechtigkeit in aller Regel zusammen mit Nachhaltigkeit zur Sprache gebracht werden.

Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik scheint der Kern der Bedeutung von Solidarität relativ klar: Es meint den Zusammenhalt von Menschen in unterschiedlichen Situationen, der die Bewältigung von Belastungen gemeinschaftlicher und individueller Art ermöglichen soll. Solidarität zielt auf den Ausgleich von Belastungen. In einer solidarischen Gesellschaft wird eine Balance zwischen Reichen und Armen, zwischen Starken und Schwachen gesucht, nicht mit dem Ziel der Gleichmacherei. Der Ausgleich zielt vielmehr darauf, dass die eigenen Kräfte gestärkt werden, dass Lebensrisiken gemeinsam getragen und dass die Schwachen ein menschenwürdiges Leben führen können. Nach unserer Rechtsordnung steht allen ein "Existenzminimum" zu, zu dem auch ein Mindestmaß an soziokultureller Teilhabe gehört. Die Balance zwischen Arm und Reich, zwischen Stark und Schwach ist in unserer Gesellschaft bislang einigermaßen gewahrt: Das trägt zur Wirtschaftskraft unseres Landes bei und kennzeichnet die Kultur unseres Zusammenlebens.

Damit der soziale Friede gewahrt bleibt, empfiehlt das Gemeinsame Wort ein sorgfältiges Austarieren der Unterschiede, das langfristig auf ein möglichst stabiles, aber eben nicht statisches Gleichgewicht zielt. Zwischen völliger sozialer Nivellierung einerseits und völligem Verzicht auf jeden Ausgleich gilt es, nach einem vernünftigen Mittelweg zu suchen. Das heißt in einer demokratischen Gesellschaft möglichst konsensfähige Ergebnisse auszuhandeln, die dieses Ziel erreichen lassen.

Darüber besteht nicht nur innerhalb der Evangelischen Kirche ein weitgehender Konsens, sondern er ragt auch weit in die Gesellschaft hinein. Ob man diesen Konsens mitträgt und welche Aspekte für den Ausgleich man dabei betont, hängt unter anderem davon ab, wie man die Ergebnisse einer Problemanalyse bewertet und welche Maßstäbe man dabei anlegt. Wer die unglaublichen Abfindungen für "in die Wüste geschickte" Vorstandsmitglieder von Großkonzernen mit der Mindestwitwenrente oder auch dem neuen "Arbeitslosengeld II" vergleicht, muss fragen, wie viele solcher extremen Einkommensunterschiede sich eine Gesellschaft leisten kann. Ich lasse keinen Zweifel daran, dass eine Selbstbegrenzung an der Spitze dieser Pyramide derzeit um der Glaubwürdigkeit unseres Gesellschaftssystems insgesamt unerlässlich ist. Der Vertrauensschaden, der in diesem Zusammenhang exemplarisch am Mannesmann-Prozess deutlich geworden ist, ist schon jetzt immens.

Dabei geht es nicht um Pauschalurteile oder gar um pauschale Verurteilungen. Wichtig ist aus meiner Sicht , die bestehenden Probleme und auch die soziale Ausgangssituation möglichst präzise zu analysieren. Pauschalierungen schaden in jedem Fall. Am Beispiel der Lage der Rentnerinnen und Rentner lässt sich dies für mich besonders anschaulich machen: Einige sagen: Die Rentner müssen solidarisch sein und abgeben, andere sagen: Jede Rentenkürzung ist der Einstieg in die Verarmung breiter Gesellschaftsschichten. Beides ist gleich falsch.

Es gibt auf der einen Seite eine erhebliche Zahl von Rentnerinnen und Rentnern, vor allem westdeutsche Frauen, die schon heute Renten erhalten, die durch zusätzliche Leistungen wie die Grundsicherung im Alter aufgestockt werden müssen, damit überhaupt das Sozialhilfeniveau erreicht wird. Für diese Menschen ist schon das Aussetzen einer Rentenerhöhung ein massives Problem. Andererseits verfügen - so die Zahlen für das Jahr 1999 - 78%, also mehr als drei Viertel aller Versorgungsempfänger neben ihrer eigenen Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung auch noch über andere Einkünfte, sei es aus Betriebsrenten, sei es aus Zinsen, sei es aus Vermietungen von Wohneigentum. Diese zusätzlichen Einnahmen machten etwa 42% am gesamten Bruttoeinkommen der Rentner aus. Wer dagegen die steigenden Sozialabgaben stellt, mit denen heute das Arbeitseinkommen junger Eltern belastet wird, der wird jedenfalls nicht undifferenziert fordern können, an den Einkommen der älteren Generation dürfe man überhaupt nicht rütteln. Im Gegenteil: Es gibt sehr wohl reiche Rentner, die auch ihren Beitrag leisten können und müssen.

7.
Eng verbunden mit der Zukunftsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme ist die Zukunftsfähigkeit des Arbeitsmarktes. Über die zentrale Frage, wie wir zur Schaffung neuer Arbeitsplätze in Deutschland kommen können, gibt es seit Jahren eine sehr intensive und keinesfalls entschiedene Diskussion. Sie wird vor allem unter den Experten geführt, mit all den beschwerlichen Folgen für die Betroffenen, die sich trotz aller gegenteiligen Beteuerungen oft vergessen fühlen. Die Uneinigkeit der Experten und die Entschlusslosigkeit der Politiker ist aber auch beschwerlich für die, die sich um Arbeitslose und ihre Familien kümmern, weil sie das alles nicht mehr verstehen und ihr Vertrauen in die Kompetenz der Politik verlieren. Gerade die katastrophalen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit zeigen: Arbeit ist ein wichtiger Teil im Leben von Menschen. Mit Arbeit wird nicht nur Geld verdient, sondern sie prägt die Persönlichkeit, schafft Selbstwertgefühl und Erfolgserlebnisse; sie lässt Menschen an ihrer Lebenswelt aktiven Anteil nehmen. Weil diese Teilhabe am öffentlichen Leben für Arbeitslose nicht mehr gegeben ist, und weil Menschen mit ihrer Arbeit auch ihr Selbstwertgefühl verlieren, darum ist Arbeitslosigkeit zutiefst ungerecht und unsolidarisch und gebiert tausend weitere Übel, die nicht nur den sozialen Frieden, sondern auch den Respekt vor der Demokratie unterhöhlen.

Schließlich gehört zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft sicher auch der Blick über die Grenzen der eigenen Gesellschaft hinaus. In meinen bisherigen Ausführungen habe ich die deutsche Gesellschaft und die Bundesrepublik als Sozialstaat im Blick gehabt. Aber sich darauf zu beschränken, wäre mit der elemtaren Überzeugung von der gleichen Würde aller Menschen unvereinbar, die im Licht des Glaubens alle Gottes Kinder und zu seinem Ebenbild erschaffen sind.  Was dies konkret bedeutet, wird uns in den nächsten Jahren angesichts der EU-Osterweiterung und des von uns allen erhofften weiteren Zusammenwachsens Europas beschäftigen. Dass dabei die weltweite Gemeinschaft, insbesondere die Solidarität mit den Menschen in Afrika, nicht verloren geht, wird ein wichtiges Anliegen der Kirche sein.

Deswegen beobachten wir auch die aktuellen Verhandlungen in der Welthandelsorganisation mit großer Aufmerksamkeit. Man kann die Augen nicht davor verschließen: Protektionistische Einfuhrzölle und Exportsubventionen tragen zur Armut in den Ländern des Südens bei. Sie entziehen den Bauern in Entwicklungsländern mögliche Existenzgrundlagen und verschärfen die Gegensätze auf unserem Globus. Man muss zugleich wahrnehmen: In diese Verhandlungen müssen auch die Interessen und Gesichtspunkte einer Landwirtschaft eingebracht werden, die zusammen mit der Produktion von Nahrungsmitteln noch andere wichtige Funktionen wahrnimmt. Doch auch angesichts eigener großer Probleme dürfen wir nicht die Augen vor den internationalen Fragestellungen verschließen. Das Scheitern der Verhandlungen in Cancun, wie auch immer es im einzelnen zu beurteilen ist, hat jedenfalls deutlich gemacht, dass auch für die Länder des Südens eine Schmerzgrenze erreicht ist. Welthandelsregeln, die weiter die reichen Länder und Unternehmen stärker schützen und den Armen zu wenig Spielraum für eine eigene wirtschaftliche Entwicklung lassen, sind, so zeigt dieser Vorgang, mit Druck und vagen Versprechungen der Industrieländer nicht mehr durchzusetzen. Wir müssen vielmehr verstärkt nach dem Schnittpunkt gemeinsamer Interessen suchen. Die Einsicht wächst, dass Handel und Wirtschaft als wesentliche Instrumente zur Bekämpfung und Reduzierung der weltweiten Armut gesehen werden müssen. An dieser Stelle wird eine globale Dimension von Gerechtigkeit und Solidarität wahrnehmbar, die manche tagesaktuelle sozialpolitische Frage zwar nicht unwichtig macht, aber doch relativiert – das heißt: zu den Problemen in anderen Teilen dieser globalisierten Welt in Beziehung setzt.

8.
Zukunftsfähig ist eine Gesellschaft nur, wenn sie gerecht ist. Sinnbild der Rechtsprechung und bis heute Fassadenschmuck vieler Gerichte ist die Justitia - eine Frauengestalt, die immer mit zwei Attributen ausgestattet ist: Einer Waage, in der die beiden streitenden Meinungen gegeneinander abgewogen werden, und einer Augenbinde, die ihre Blindheit andeutet: Justitia soll ihr Urteil ohne Ansehen der Person fällen. Beides macht deutlich, dass Gerechtigkeit immer auch eine Beziehungsfrage und deshalb auch eine Gestaltungsaufgabe ist: So sehr ein Konsens besteht, dass es einen der menschlichen Willkür entzogenen Maßstab „Gerechtigkeit“ gibt, so sehr ist doch auch deutlich, dass der Inhalt dieser Gerechtigkeit im Einzelnen nicht naturrechtlich vorgegeben ist, sondern gemeinsam gestaltet werden muss. Solidarität, Subsidiarität und Nachhaltigkeit sind drei Begriffe, in denen sich  die wichtige Aspekte der Zukunftsfähigkeit zusammenfassen lassen. Sie sind Zielvorgaben, die gleichzeitig deutlich machen, dass eine große Gestaltungsaufgabe vor uns liegt. Dass wir uns dieser Aufgabe gemeinsam stellen, die eigene Verantwortung wahrnehmen, dabei aber auch dem Gottvertrauen Raum lassen, darum, so glaube ich, geht es heute – um der Zukunft willen.