Eine reformierte Zeitansage - 475 Jahre Reformation in Hamburg

Wolfgang Huber

Hauptkirche St. Petri in Hamburg

I.
Vor 475 Jahren wurde die Reformation in Hamburg eingeführt. Das geschah mit der Annahme der Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen durch den Rat der Stadt Hamburg am 15. Mai 1529 und mit deren feierlicher Einführung acht Tage später. Freilich hatte die Reformation schon vorher in der Stadt Einzug gehalten. Mit den Pfarrern Zegenhagen in St. Nicolai, Fritz in St. Jacobi und Kempe in St. Katharinen waren schon ab 1526 drei der vier Hamburger Hauptpastoren –  wie sie später genannt wurden – lutherisch geprägt. Und über die zwei großen öffentlichen Disputationen im Mai 1527 und April 1528 war auch dem Rat der Stadt, der natürlich von Haus aus vor allem für Ruhe und Ordnung sorgen wollte, deutlich geworden, dass die Reformation nicht mehr aufzuhalten war. Schon ab 1529 machte sich ihr Einfluss deutlich bemerkbar: Nicht nur weil die lutherischen Pfarrer einer nach dem anderen ehemalige Nonnen heirateten und so den Weg zu dem sprichwörtlich kulturprägenden evangelischen Pfarrhaus beschritten, war dies der Fall. Mit Bugenhagens Kirchenordnung wurden dann Kirchenwesen, Schulwesen und Armenwesen neu geordnet.

Ein Superintendent, gewählt vom Rat, den Diakonen –  also den normalen Pastoren – und den Hauptpastoren, sollte die Kirche leiten, ein „Oberalte“ sollte die Gehälter und Versorgungen der Pfarrer aus dem „Schatzkasten“ bezahlen, eine Aufgabe, die die heutigen Oberalten vermutlich immer noch gerne ausüben  würden. Das Schulwesen wurde exemplarisch mit der Eröffnung des Johanneums 24. Mai 1529 neu strukturiert; der „Hauptkasten“ bildete die Grundlage für die Kranken- und Armenpflege in der Stadt.

Ich bin sicher, dass Sie alle sich – als mehr oder minder „gelernte Hamburger“ (ich habe mir sagen lassen, dass es Generationen dauert, bis jemand wagen kann, sich einen „richtigen Hamburger“ zu nennen) – weitaus besser in der Hamburger Kirchengeschichte auskennen als ich, und dass die Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen im Rahmen dieses Jubiläums schon längst ausreichend in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Stadt gewürdigt wurde.

Daher will ich Ihre Aufmerksamkeit in eine etwas andere Richtung lenken, nämlich auf einen Mitbewerber unter den Feierlichkeiten dieser Tage: Ich will den ehrwürdigen und ehrenwerten Termin, der auf 475 Jahre Reformation in Hamburg verweist, zu einem anderen und weit jüngeren Ereignis in Beziehung setzen, an das wir uns in diesen Tagen erinnert haben.  An ein Ereignis vor siebzig Jahren will ich anknüpfen, nämlich an die evangelische Bekenntnissynode ,  die vom 28. bis zum 31. Mai 1934 zusammentrat. Diese Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche in Barmen wurde ja wesentlich von einem Altonaer Pastor mitgeprägt. Hans Asmussen war es, der damals das Einbringungsreferat zur Barmer Theologischen Erklärung hielt. Sie war nicht nur das wichtigste Ergebnis jener Zusammenkunft in Barmen. Sie wurde vielmehr zum wichtigsten Bekenntnisdokument der Bekennenden Kirche aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Und darüber hinaus müssen wir sagen: Sie ist für den evangelischen Bereich neben der Leuenberger Konkordie von 1973 das wichtigste  Bekenntnisdokument des 20. Jahrhunderts überhaupt. Auf einen besonderen Zug dieses Geschehens will ich Ihre Aufmerksamkeit lenken: Die sechs Sätze der Barmer Theologischen Erklärung waren im wesentlichen von dem damals in Bonn lehrenden Schweizer Theologen Karl Barth formuliert; aber eingebracht wurden sie von Hans Asmussen, dem Lutheraner aus Altona. Es handelt sich nämlich um das erste Dokument seit der Reformation, das den lutherischen und den reformierten Zweig der Reformation  zu gemeinsamem Bekennen zusammengeführt hat.

Ich möchte gern das Zusammentreffen dieser beiden wichtigen Gedenktage inhaltlich aufnehmen und den theologischen Zusammenhang zwischen dem reformatorischen Aufbruch vor 475 Jahren und dem Zeugnis in Barmen vor siebzig Jahren in den Blick nehmen. Zwei Ereignisse waren das, die jeweils dazu genötigt haben, das Verhältnis christlichen Bekennens zu den Strömungen der eigenen Zeit neu und kritisch zu bestimmen. Daran will ich anknüpfen, indem ich nach einer solchen kritischen Verhältnisbestimmung für unsere eigene Zeit frage. Im Blick auf unsere eigene Gegenwart will ich dabei einen ganz bestimmten Aspekt in den Vordergrund rücken, nämlich das Verhältnis zwischen unserem christlichen Glauben und der kulturellen Wirklichkeit unserer Zeit. Aus der Näherbestimmung dieses Verhältnisses will ich Perspektiven für eine „Kirche mit Zukunft“ entfalten. Das ist die Zielsetzung der reformatorischen Zeitansage, die ich Ihnen heute vortragen will.

II.
Wir erleben derzeit eine Rückkehr der Religion. Das gilt nicht nur in weltweitem Maßstab, in dem gegenwärtig ein Wachstum der Anhängerschaft aller großen Weltreligionen zu beobachten ist. Es gilt auch in Mitteleuropa, obwohl die Lage hier noch immer von einem Rückgang der Kirchenmitgliedschaft geprägt ist. Aber ein neues religiöses Fragen und die Zunahme einer teilweise freilich sehr diffusen Religiosität kann man auch hier feststellen. Religion artikuliert sich derzeit auf besondere Weise im Feld der Kultur. Das Anknüpfen an religiöse Erwartungen in der Freizeitkultur, religiöse Anspielungen in der Werbung, die Aufnahme religiöser Symbole im Kino, aber auch die direkte Umsetzung religiöser Themen im Spielfilm zeigen das deutlich. Sogenannte „Sandalenfilme“ haben eine neue Konjunktur, wie „Troja“ oder „Alexander“ belegen. Religiöse Gegenstände werden eigenständig in großen Spielfilmen in Szene gesetzt, wie nicht nur Mel Gibsons umstrittener Film über die Passion Christi, sondern ebenso Erik Tills Luther-Film mit seiner gerade in Deutschland eindrucksvollen Resonanz gezeigt hat. Das Bild vervollständigt sich, wenn man das Fernsehen hinzunimmt, in dem sich die Anfänge des Christentums unlängst breit dargestellt fanden, aber auch der Kirchenvater Augustin in einem eigenen Film gewürdigt wurde. Hollywood, so kann man feststellen, bemächtigt sich nicht nur eines diffusen religiösen Bedürfnisses, sondern auch der christlichen Kernthemen und Kerngestalten. Wo solches Licht ist, da fallen auch Schatten. Erhebliche theologische Schatten sind darunter, wenn zum Beispiel in Gibsons Film Jesus zu einer Art Leidensheros stilisiert wird, der immer noch mehr Schläge einzustecken und immer noch mehr Blut zu verlieren vermag, um uns zu erlösen, woraus theologisch eine ganz verquere Helden- und Überbietungslogik entsteht.

Aber anderen Bildern und Szenen – auch in diesem Film – eignet eine sehr starke Kraft; das triviale Hollywood kann eben auch sehr dicht und berührend erzählen. Im Lutherfilm, den Sie ja zu Recht an prominenter Stelle in Ihrem Festprogramm finden, wird in einer vermutlich unhistorischen, aber doch sehr eindrücklichen Szene die Botschaft von der freien Gnade Gottes sinnenfällig veranschaulicht: Der junge Mann Luther, der einen Selbstmörder beerdigt, predigt einer ängstlichen Gemeinde aus Totengräbern und zufälligen Zuhörern von Gottes unendlicher Barmherzigkeit. Diese reformatorische Entdeckung von der freien Gnade Gottes, die an einer anderen Stelle des Films auch in ihrem kontroversen theologischen Gehalt dargestellt wird, ist hier in das knappe Bild gefasst, dass Gottes Barmherzigkeit über dem Grab eines Selbstmörders verkündigt wird.

Es war genau diese Entdeckung, die zur Triebfeder des Aufbruches aus dem Mittelalter wurde. Denn jedem Menschen sprach sie eine unverdiente Würde vor Gott und deswegen auch eine unantastbare Würde in der Welt zu, die durch nichts und niemanden mehr zu nehmen ist. Darin verankert sie eine Gewissensfreiheit, in der jener Glaubensmut gründet, für welchen die Reformation ein unvergessliches Symbol geschaffen hat: Der aufrechte Luther vor Kaiser und Reich mit seinem Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.

Bevor man begann, von einer Zivilcourage zu sprechen, die den aufrechten Bürger auszeichnet, trat dieses Bild einer Glaubenscourage in die Welt, die aus der Freiheit eines Christenmenschen wächst. Die Glaubenscourage, zu der die Reformation ermutigt, hat damit zu tun, dass die Würde des Menschen vor Gott und vor der Welt auch, ja gerade dann festgehalten wird, wenn sie in der Wirklichkeit mit Füssen getreten wird. Und das ist geschehen – in besonders bedrückenden Fällen auch durch die christlichen, auch durch die reformatorischen Kirchen selbst. Die Reformation hat nicht nur zur Entstehung des modernen Freiheitsbewusstseins beigetragen, das sich in der Anerkennung einer für alle Menschen gleichen Menschenwürde und in der Formulierung von für alle Menschen gleichen Menschenrechten Geltung verschaffte. Die reformatorischen wie andere Kirchen haben sich der Durchsetzung dieser Einsichten auch immer wieder in den Weg gestellt. Das müssen sie selbstkritisch einräumen. Aber der Maßstab für diese selbstkritische Einsicht ist nichts anderes als die reformatorische Einsicht selbst. 

Die These, die Kirche bedürfe stets der Reformation – ecclesia semper reformanda – , ist eben keine Schönwetterparole, die Auskunft über die Verwendung von überflüssigem Geld gibt: nämlich zu Zwecken der Kirchenreform. Nein: Diese These betrifft den Kern des reformatorischen Selbstverständnisses. Der Einsicht in die ohne menschliches Verdienst zuerkannte Würde vor Gott und die über alles menschliche Leisten hinaus anzuerkennende Würde vor der Welt bildet einen kritischen Maßstab zuallererst für die Kirche selbst. Sie hat ihre eigene Schuld zu bekennen, wo immer sie die Gleichheit der Menschen vergessen, die Verletzung der Gerechtigkeit verschwiegen, die königliche Freiheit der Kinder Gottes verachtet hat. Aber in der Kirche wie jenseits ihrer Grenzen wird sich kein anderer Maßstab finden, der für solche selbstkritische Aufklärung eine radikalere Basis abgäbe als die Botschaft von Gottes freier Gnade selbst. Die kritische Betrachtung des Weges der Kirche führt deshalb nicht vom Evangelium weg; sie führt vielmehr tiefer in das Evangelium hinein.  Ich sage dies zunächst im Blick auf die evangelische Kirche. Doch ich wage es, diese Einsicht auch ökumenisch auszuweiten: Wir haben in den Kirchen eine beschämend lang dauernde Lerngeschichte hinter uns bringen müssen, bis wir mit dem reformatorischen Freiheitsimpuls im eigenen Bereich konstruktiv umzugehen und auch seine gesellschaftlichen Folgen zu bejahen vermochten. Jetzt aber wollen wir festhalten, was uns an Erkenntnis zugewachsen ist.

Oft ist die reformatorische Erkenntnis in dem vierfachen Allein gebündelt worden: allein Christus, allein die Schrift, allein die Gnade, allein aus Glauben. Allein Christus bildet das organisierende Erkenntnisprinzip reformatorischer Glaubenserkenntnis. In Barmen ist das vor siebzig Jahren programmatisch so aufgenommen worden, dass Jesus Christus allein als das Wort Gottes bekannt wird, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Allein die Schrift verweist auf das kritische Prinzip, das den christlichen Glauben davor bewahren soll, neben der heiligen Schrift andere, gleichrangige  Erkenntnisquellen anzuerkennen. Demgemäß hat die Barmer Theologische Erklärung die falsche Lehre verworfen, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen. Allein die Gnade verweist darauf, worin der Glaube an Gott sein Wesen hat: nämlich darin, dass wir uns ganz und gar Gottes grundloser Barmherzigkeit anvertrauen und deshalb, um wieder Barmen zu zitieren, die Botschaft von Gottes freier Gnade ausrichten an alles Volk. Allein aus Glauben verweist auf das Bild vom Menschen, dessen Menschlichkeit nicht daran gemessen wird, in welchem Maß er mit Vernunft begabt ist und wie er seine eigenen Präferenzen zum eigenen Nutzen durchsetzt; vielmehr wird seine Menschlichkeit darin begründet und dadurch geschützt, dass Gott ihn als sein Ebenbild anredet und ihm die Fähigkeit verleiht, auf diese Anrede zu antworten.

In diesem vierfachen Allein haben wir es bis heute mit einer Mitte, einem Kern, einer Glut zu tun, die vielleicht unter mancher Asche verborgen sein mag, die aber nach wie vor ein beträchtliches Feuer zu entfachen vermag.

Wir schauen dankbar auf diese Wurzeln in der Reformation zurück, allerdings nicht ohne Wissen darum, dass dieser Aufbruch in die moderne Welt  nicht gemeinsam vollzogen wurde, sondern in eine tiefe Spaltung der westlichen Christenheit geführt hat. Von Haus aus wollten Luther und die anderen Reformatoren eine Erneuerung der mittelalterlichen katholischen Kirche; die Reformation zielte ursprünglich nicht auf eine neue, eigene Kirche. Es kam anders; eine tiefe Spaltung durchzog von nun an die Christenheit gerade in unserem Land.  Einfach abfinden können wir uns mit dieser Entwicklung nicht, auch nicht 475 Jahre nach der Reformation. Vielmehr stehen wir als evangelische Kirche und als evangelische Christen bleibend unter einer ökumenischen Verpflichtung . Wenn wir uns an den unverlierbaren Schatz des reformatorischen Erbes erinnern, dann auch deshalb, weil wir ihn einbringen wollen in die ökumenische Gemeinschaft.
 
III.
Es wäre verwegen, Ihnen das Werden und Vergehen, das Kommen und Gehen jener reformatorischen Glutwellen in der neuzeitlichen Geschichte nachzeichnen zu wollen. Nur an eines will ich erinnern: Ob Sie nun an den Pietismus im 17. und 18. Jahrhundert denken und seinen Aufbruch aus dem erstarrten Glaubenshaus der Orthodoxie, oder an August Hermann Franke in Halle und seine Wiederentdeckung der Bildung als zentraler christlicherAufgabe, ob Sie an die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts denken oder gerade hier in Hamburg an das Konzept der Inneren Mission: es hat Gott sei Dank immer wieder neue Aufbrüche aus der reformatorischen Substanz gegeben, die den Satz vor der ecclesia semper reformanda nach seiner realen Seite hin anschaulich machen. Zu diesen Nachbeben auf der nach oben offenen reformatorischen Glaubensglutskala gehört auch die Barmer Theologische Erklärung von 1934, deren Besonderheit, wie wir sahen, gerade in der einigenden Kraft liegt, mit der sie die unterschiedlichen reformatorischen Bekenntnisse miteinander verbindet.

Es war ein gutes, evangelisches, klärendes Wort zur rechten Zeit, mit einer orientierenden Kraft weit über den Anlass hinaus; und es war das erste gemeinsame Bekenntnis evangelischer Christen seit 400 Jahren. Diese sechs Thesen sind eine überzeugende Aktualisierung des gemeinsamen reformatorischen Bekenntniserbes mit weitreichenden Folgen. Die evangelische Kirche hat einen großen Teil ihrer Glaubwürdigkeit nach dem Dritten Reich dieser Barmer Theologischen Erklärung zu verdanken, sie hat – zusammen mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945 - wesentlich dazu beigetragen, dass die Kirchen nach der Katastrophe des Nationalsozialismus einen solch anerkannten und durch staatskirchenrechtliche Regelungen gesicherten Platz in der deutschen  Nachkriegsgesellschaft bekommen konnten. Und umgekehrt gilt: Dass man damals in jener dramatischen Situation (noch) nicht gemeinsam Abendmahl feiern konnte, war zweifellos ein Stachel im Fleisch der ganzen evangelischen Kirche, der bis zur Erklärung gegenseitiger Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen Lutheranern, Reformierten und Unierten schmerzte und erst mit der ausdrücklichen Feststellung der zwischen den bekenntnisverschiedenen reformatorischen Kirchen bestehenden Kirchengemeinschaft in der Leuenberger Konkordie von 1973 nachhaltig entfernt wurde.

 Natürlich gibt es auch berechtigte, allerdings auch von der Gnade der späteren Geburt geprägte Einwände; dass die Barmer Theologische Erklärung keinen Satz zu den verfolgten Juden und Judenchristen enthält und sich rein innerkirchlich äußert, ist oft zu Recht kritisiert worden. Darüber hinaus spiegelt die Barmer Theologische Erklärung auch die aus der Dialektischen Theologie erwachsenen Diastase zwischen Kirche und Kultur, zwischen Theologie und Wissenschaft, zwischen Glauben und moderner Welt. Mit ihrer scharfen Absage an die Erscheinung, die seit mehr als 200 Jahren die Verwüstung der Kirche ... vorbereitet hat (so Hans Assmussen in seinem die Barmer Theologische Erklärung erläuternden Vortrag in Barmen) wird ein Weg der Abgrenzung eingeschlagen, der das Verhältnis zwischen Christentum und Kultur über viele Jahre und Jahrzehnte belastete. Schon vor Jahren wurde deshalb in einem kirchlichen Votum zu Recht gesagt, die evangelische Kirche dürfe keinesfalls übersehen, was auch sie der Aufklärung verdankt:
- das Recht zur freien Religionsausübung und zur Freiheit des Wortes;
- die Befreiung des Verkündigungsauftrages von Herrschafts- und Machtinteresse;
- die Trennung von Kirche und Staat;
- die Wertschätzung der Menschenrechte und einer demokratischen Staatsverfassung.


Wilhelm Hüffmeier hat dem hinzugefügt, dass die Dimensionen der modernen Welt ... den Synodalen in Barmen nicht positiv gegenwärtig (waren). Sie sind aber auch eine Konsequenz der Reformation, der Kerneinsichten ..., die Barmen aufnimmt und präzisiert. Vor diesem Hintergrund aber stellt sich umso dringlicher die Frage, wie es eigentlich bestellt ist um den Zusammenhang von Protestantismus und Kultur.

IV.
Dass der Protestantismus zum Bereich der Kultur ein ambivalentes Verhältnis hat, ist leicht nachzuvollziehen. Die durch die Reformation angestoßene Symbiose zwischen Protestantismus und deutscher bürgerlicher Kultur hat im 19. Jahrhundert zu einer weitgehenden Identifikation geführt, die gegen Ende jenes Jahrhunderts als Kulturprotestantismus bezeichnet wurde. Nachvollziehbar war die vor allem von Karl Barth – auch unter dem Eindruck des Bankrotts, den dieser Kulturprotestantismus im Gott mit uns des Ersten Weltkriegs erlebte – an dieser Formation geübte Kritik. Die Dialektische Theologie betonte deshalb den kritischen Abstand, die Diastase zwischen Glauben und Kultur, die Freiheit des Wortes Gottes von der Kultur, die Eigenständigkeit der kirchlichen Botschaft gegenüber der Kultur. Die Kulturunabhängigkeit der christlichen Wahrheit sollte dadurch unterstrichen werden. Das war ein wichtiges Fundament für den Widerstand der Bekennenden Kirche gegen die versuchte Gleichschaltung im Dritten Reich.

 Freilich erwies sich diese schlichte Diastase, wie sie aus Karl Barths Position, aber auch aus den Thesen der Barmer Theologischen Erklärung abgeleitet werden konnte, auf Dauer als ungeeignet. Denn entweder musste man nun ständig Kirchenkampfsituationen konstruieren, damit die Diastase sinnvoll werden konnte; oder aber man hatte Mühe, aus der Diastase heraus irgend etwas kulturell Relevantes zu formulieren, das über die Einsicht hinausging, das auch die Kultur irgendwie zur noch nicht erlösten Welt gehört.  

 Trotzdem dauerte es lange, bis es zu einer konstruktiven Annäherung an das Kulturthema in der evangelischen Theologie kam. Tastend stellten solche Versuche sich zunächst in der Gestalt einer Kulturgeschichte des Christentums dar. Ihr geht es darum, gegen den Prozess eines kollektiven, auch innerkirchlichen Vergessens die Prägungen ins Bewusstsein zu heben, die das Christentum unserer Kultur mitgegeben hat. Das reicht von der Rekonstruktion der Einflüsse des Christentums auf die Aufwertung des Alltagslebens, auf den Umgang mit Arbeit, Geld oder Liebe über die Auswirkungen christlicher Überzeugungen auf die Ausbildung der neuzeitlichen politischen Kultur bis zur Interpretation klassischer Kunstwerke im Blick auf die Art und Weise, in der sie sich christliche Gehalte angeeignet haben. Im Kern geht es bei solchen Überlegungen um die Frage, in welchen konkreten Formen sich die Anerkennung der Menschenwürde unter den Bedingungen der Neuzeit im Recht, aber auch in der protestantischen Bildungstheorie und Bildungsbewegung Ausdruck verschafft hat. Der Blick wird auf die bedeutende Übersetzungsleistung gelenkt, die darin liegt, dass ein zentrales religiöses Symbol in säkulare Deutungen und Leitvorstellungen transformiert wurde. Aber eine solche Kulturgeschichte des Protestantismus muss sich ebenso intensiv auch den zerstörerischen Vorgängen in dieser Tradition stellen: der Agitation gegen die moderne bildende Kunst, der Stigmatisierung des Fremden im Namen der eigenen kulturellen Überlegenheit, der theologischen Sanktionierung für die Entrechtung der Juden. Nur durch die kritische Reflexion dieser Schuldgeschichte wird eine geklärte Verhältnisbestimmung zwischen Protestantismus und Kultur möglich sein.

Ein zweiter Zugang, der in der Theologie der Gegenwart intensiv diskutiert wird, fragt nach der Religion in der Kultur. Er geht davon aus, dass das plurale Zeichenuniversum der modernen Kultur in sich selbst eine religiöse Dimension trägt – und zwar nicht erst dann und nicht erst dadurch, dass religiöse Themen in dieser Kultur ausdrücklich aufgenommen werden. Das Moment der Selbsttranszendenz, das in allen kulturellen Hervorbringungen enthalten ist, wird vielmehr in sich selbst als ein religionsproduktiver Faktor gedeutet, der Material zur theologischen Deutung bereitstellt. Die Riten des modernen Tageslaufs, der bei vielen durch den Wechsel von Arbeit und Medienkonsum strukturiert wird, werden in ihrer potentiellen Religiosität interpretiert. Bedenkenswert ist bei einer solchen Suche nach der Religion in der Kultur vor allem der Hinweis darauf, dass religiöse Sinnpotentiale schon längst nicht mehr ausschließlich und vielleicht nicht einmal mehr vorrangig bei den klassischen Religionsgemeinschaften und ihren Deutungsangeboten gesucht werden. Dass die Kirchen ihre Monopolstellung in der Beantwortung religiöser Sinnfragen verloren haben, kommt hier in besonders einprägsamer Weise zum Ausdruck. Doch hochgradig umstritten ist die Frage, welche Folgerung daraus zu ziehen. Sollen Predigten nun ihren Text in Filmen finden statt in der Bibel? Der Ansatz Religion in der Kultur hinterlässt so viele Fragen, wie er Antworten gibt.

Denn weder der historisch-rekonstruierende Blick auf die Kulturgeschichte des Christentums noch die religiöse Interpretation der Gegenwartskultur befreit von der Notwendigkeit, eine kulturtheologische Ortsbestimmung des christlichen Glaubens in seiner evangelischen Gestalt zu entwickeln. Auch wenn bewusst ist, dass dies nur eine Perspektive auf Kultur neben anderen sein kann, ist es doch unerlässlich, dass diese Perspektive im klaren Bezug zu einem evangelisch geprägten Wahrheitsbewusstsein entwickelt werden muss. Es geht also um die Bereitschaft zur Prägnanz in der Bestimmung des Verhältnisses von Glaube und Kultur.

Dabei müssen wir nüchtern feststellen: Die Präsenz des Christlichen im öffentlichen Raum, seine Bedeutung für unser kulturelles Selbstverständnis, sein möglicher Beitrag zur Ausbildung einer gegenwartsbezogenen Ich-Identität verstehen sich nicht mehr von selbst. Traditionelle Selbstverständlichkeiten und Selbstverständnisse haben sich aufgelöst. Die christlichen Prägungen unserer Kultur werden allenfalls noch in ihrem ethischen Gehalt geahnt. Irgendwie, so heißt die Auskunft, sei unser aller Ethik christlich geprägt, wir mögen der Kirche angehören oder nicht. Die darüber hinausreichenden christlichen Prägungen unserer Kultur sind dagegen auch für viele Gebildete unbekannt geworden. Die Ikonographie der europäischen Kunst, die ohne Kenntnis ihrer christlichen Stoffe schlechthin unverständlich ist, die biblischen Anspielungen in der Literatur – bis hin zu Bertolt Brecht – , die Geschichte der europäischen Musik, die gerade auf ihren Höhepunkten geistlichen Charakter trug: all das ist für viele unserer Zeitgenossen in eine fremde Welt entrückt. Unbekannt ist auch, auf welche Weise die Spielregeln unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens an die christliche Herkunft unserer Kultur gebunden sind. Damit scheinen aber auch die Quellen ihrer Erneuerung für viele Menschen verschüttet zu sein. Weithin verschüttet ist für viele auch der Zusammenhang zwischen der politischen Kultur der westlichen Demokratie, in die auch Deutschland im gerade vergangenen Jahrhundert hineingefunden hat, mit dem Christentum; am Konzept der gleichen, unantastbaren Würde jeder menschlichen Person haben wir uns diesen Zusammenhang verdeutlicht. Aber diese politische Kultur wird in aller Regel nur in ihrer säkularen Gestalt, in ihrer für die verschiedenen Überzeugungen in gleicher Weise offenen Form wahrgenommen. Ihre Herkunft gerät in Vergessenheit.

Ist es nicht beispielsweise ein unrühmlicher Beleg für kulturellen Gedächtnisverlust, dass wir heute bei Fragen der ethischen Grundorientierung der modernen Gesellschaft weithin wie selbstverständlich mit dem Begriff des Werts arbeiten? Er entspricht einem Zeitgeist, der von der Vorherrschaft der Ökonomie geprägt ist. Die Ökonomie ist zum Kristallisationspunkt öffentlicher Auseinandersetzungen geworden. Im Verhältnis zwischen den Lebensbereichen Wirtschaft, Politik und Kultur kommt der Wirtschaft die Leitfunktion zu. Aber gerade dadurch wird auch wieder neu nach der Rolle von Politik und Kultur gefragt. Der Glaube, der in den letzten Jahrzehnten für viele nur noch eine Deutungsperspektive weltlicher Erfahrungen war, wird wieder in seinem transzendenten Bezug zum Thema. Die Kirche, die in den letzten Jahrzehnten für viele nur noch als politische Akteurin und sozialethische Mahnerin erkennbar war, wird wieder als Raum für die Begegnung mit dem Heiligen wahrgenommen. Auf die Frage, was die wichtigste Aufgabe der Kirche sei, wurde lange Zeit geantwortet: der diakonische Einsatz für Alte und Kranke sowie das Eintreten für die Schwachen in der Gesellschaft. Auch wenn diese Antwort ihre Bedeutung behält, sagen inzwischen doch viele, die wichtigste Aufgabe der Kirche sei die Eröffnung eines Raums für die Begegnung mit dem Heiligen, die Botschaft von Gottes Zuwendung zu seiner Welt, die Sorge für die Seelen. Die religiöse Tiefenschicht des menschlichen Lebens wird wieder entdeckt. Und von der Kirche wird erwartet, dass sie bei der Auseinandersetzung mit dieser Tiefenschicht klare Orientierung gibt.

V.
Für eine Erneuerung des Verhältnisses von Christentum und Kultur muss also bei diesem theologischen Gedächtnisverlust angesetzt werden. Es muss gefragt werden, was die Kirche zur Erneuerung des kulturellen Gedächtnisses beitragen kann. Es muss aber vor allem die Frage nach der Wahrheit gestellt werden, die die evangelische Kirche bezeugt und bekennt.

Denn es kann keine Rede davon sein, dass die Kirche sich bei einer neuen Verhältnisbestimmung von Glaube und Kultur einfach den kulturellen Anforderungen ihrer Zeit unterwerfen sollte. Es wäre verfehlt, wenn sie sich einfach zur Lieferung derjenigen Werte bereit fände, die gerade heute als gesellschaftlich besonders erwünscht erscheinen. Den Menschen aufs Maul zu schauen, wozu Luther die Kirche aufforderte, bedeutet eben nicht, ihnen nach dem Munde zu reden. Dagegen bildet das vierfache Allein der Reformation ein unentbehrliches Bollwerk. Die Reformation begründete die Kraft des Glaubens nicht auf seine gesellschaftliche Unentbehrlichkeit. Den Auftrag der Kirche begründete sie weder aus ihrer Nützlichkeit gegenüber dem Staat noch aus einem Herrschaftsanspruch der Kirche selbst. Sie deutete die Freiheit des Glaubens als eine Grenze für jeden politischen Machtanspruch, aber ebenso  auch als eine Grenze für alle kirchlichen Zwangsmaßnahmen.

Die weltliche Obrigkeit fand ihre Grenze, wie Luther schon einschärfte, an der Freiheit des Gewissens; aber auch für die Kirche galt, dass sie ihrem Wahrheitsanspruch nur durch das Wort, nicht aber durch Zwang Resonanz verschaffen durfte.

Mit dieser neuen Betonung der Freiheit des Glaubens verband sich eine neue Einsicht in die Weltlichkeit der Welt. Die Säkularität der Welt und ihrer Erkenntnis setzte sich schrittweise, zum Teil gegen erhebliche Widerstände durch. Damit vollzog sich der Übergang zum neuzeitlichen Verständnis wissenschaftlicher Welterkenntnis. Der Protestantismus beharrt darauf, dass diese Welterkenntnis nicht etwa eine Abwendung vom Glauben, sondern ein Ausdruck des christlichen Glaubens selbst ist. Diese Bejahung der Weltlichkeit der Welt und ihrer wissenschaftlichen Entschlüsselung hat für das Verhältnis von Protestantismus und Kultur eine zentrale, kaum zu überschätzende Bedeutung. Evangelische Theologie hat deshalb zum wissenschaftlichen Umgang mit der Welt und zum Fortschritt in den Wissenschaften ein grundsätzlich positives Verhältnis. Das schließt die Kritik bestimmter Entwicklungen nicht aus, sondern ein, wie man am Beispiel der aktuellen bioethischen Debatten verdeutlichen kann.

Eine Erneuerung des Verhältnisses von Christentum und Kultur fängt daher nicht mit neuen Dialogen zwischen Repräsentanten des Christentums und Repräsentanten der Kultur an. Vor allen derartigen Dialogen, so sinnvoll sie sein mögen, muss der christliche Glaube selbst in seiner spirituellen Kraft und in seinem unaufgebbaren Glaubenswissen wieder wahrgenommen und artikuliert werden. Es geht nicht darum, die Plausibilität des christlichen Glaubens durch sekundäre Stützungsaktionen oder spektakuläre Events deutlich zu machen und neben der Bedeutung der Diakonie auch das Gewicht des Christentums für unser kulturelles Selbstverständnis zu betonen. Dies führt nur zu einer Musealisierung der Ursprünge, die dann ebenso unverbindlich besucht werden wie mittelalterliche Altarbilder im Museum. Sondern es geht darum, der systematischen Entleerung des Glaubens entgegenzuwirken und die Bedeutung des Glaubens für Erfahrung und Wissen wieder neu zu explizieren.

Die Kirche, so sagt der Heidelberger Theologe Michael Welker in diesem Zusammenhang, muss erkennen lassen: Das Glaubenswissen ist interessant und spannend, es ist überraschend und erhellend zugleich. ... Dieses Wissen ist für die Lebensqualität des einzelnen und für die Qualität menschlichen Zusammenlebens unverzichtbar. Viele Themen, die wir ohne religiöse Sprache und religiöse Erkenntnis verdrängen müssen, könnten wieder zur Sprache gebracht werden: Die interessanten Spannungen zwischen Natur und Kultur, die fruchtbaren Spannungen zwischen der Gottebenbildlichkeit des Menschen und dem Auftrag an ihn, über die Natur zu herrschen, die Spannungen zwischen Recht und Barmherzigkeit, die Konflikte zwischen Gewissheit und Wahrheit, die Grenzen unserer Moral und das Phänomen der Sünde, die tragischen Verstrickungen des Lebens, die Frage von Schuld, die Probleme von Opfer und Sühne, die Annahme der Endlichkeit unseres Lebens. .... Gottesdienste mit Stil und mit Spannung wären möglich, wenn das Inhaltliche wieder stimmen würde. Um diese inhaltliche Bestimmtheit geht es, wenn wir – wie schon die Reformation des 16. Jahrhunderts – ins Zentrum der Bemühungen um eine Erneuerung unserer Kirche neben die Erneuerung des Gottesdienstes eine Verstärkung unserer Bildungsbemühungen stellen. Dass der Glaube verstanden wird und dass Menschen über ihren Glauben Auskunft geben können, ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass der christliche Glaube in wirklicher Zeitgenossenschaft gelebt werden kann. Solches Verstehen des eigenen Glaubens bildet auch die entscheidende Voraussetzung für die Dialogfähigkeit mit anderen Religionen.  Die heute nötige Dialogfähigkeit folgt gerade nicht dem Modell von Nathans drei Ringen,  die ein Suchen nach der Wahrheit und ein Ringen um die Wahrheitsfrage ohnehin unnötig und vergeblich machten. Der heute nötige Dialog verbindet die Vergewisserung der eigenen Identität mit dem Bemühen um Verständigung mit anderen. Das eine wie das andere ist an der Frage nach der Wahrheit orientiert. Nach der Wahrheit aber kann man nur fragen, wenn man auch zum Streit um die Wahrheit bereit ist.

VI.
Die Reformation vollzog eine weltgeschichtlich bedeutsame Konzentration auf die Frage nach dem Glauben. Glaube in ihrem Sinn ist nicht nur eine Deutung von Erfahrungen mit der Wirklichkeit dieser Welt, sondern eine Erfahrung mit dieser Erfahrung selbst und damit eine Erfahrung ganz eigener Art. Aber diese Erfahrung ist auf kulturelle Ausdrucksformen angelegt und angewiesen. Neben dem neuen Bemühen um die Inhalte des Glaubens steht deshalb als vergleichbar wichtige Aufgabe die Gestaltung von Spiritualität in persönlicher wie in gemeinschaftlicher Form.

Neue Aufmerksamkeit für diese Darstellungsformen des Glaubens entsteht aber nur, wenn die Kirchen sich auf ihre eigene Botschaft besinnen und sie wirksam unter die Menschen bringen: die unvertretbare und lebenswichtige Botschaft von Gottes Gnade, den Einspruch gegen die Selbstverliebtheit des Menschen, der aus der befreienden Wirklichkeit der Liebe Gottes kommt, die Erneuerung des Verhältnisses zur Welt durch die Verheißung der Zukunft Gottes.

Gestalt gewinnt diese Botschaft nur, indem sie das Gewand der Kultur anlegt. Glaubensäußerungen tragen immer eine kulturelle Gestalt. Sie sind in sich selbst symbolische Deutungen der jeweiligen Lebenswirklichkeit. Es ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer inneren Notwendigkeit, wenn an dieser kulturellen Gestalt ausdrücklich gearbeitet wird – sei es an der sprachlichen Gestalt von Predigten und Gebeten, an der poetischen und musikalischen Gestalt von Liedern, Kantaten oder Messen oder an der künstlerischen Gestalt von Kirchengebäuden, Plastiken und Bildern. Es gibt keine gesellschaftliche Präsenz des christlichen Glaubens an der Frage nach seiner kulturellen Vergegenwärtigung vorbei. Insofern gilt die Grundaussage der diesem Themenfeld gewidmeten Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland aus dem Jahr 2002 – Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive – auch für uns in den reformatorischen Kirchen: Es geht nicht um einen Kampf der Kulturen (Huntington), sondern um einen Kampf um Kultur!

Wer wie Hamburg eine solches Niveau von Kirchenmusik in seinen Kirchen aufgebaut und bewahrt hat, muss von niemandem eine Belehrung über den Kampf um Kultur entgegennehmen. Aber sind wir in Hamburg oder anderswo auch als Kirche des Wortes auf so hohem kulturellem Niveau? Sind wir vertraut mit den Entwicklungen der bildenden Kunst? Haben wir die Herausforderungen im Bereich der laufenden Bilder schon ausgelotet? Nutzen wir gute Ausstellungen, kooperieren wir mit anderen Kulturpartnern im Bereich der Bildung? Hier gibt es ganz gewiss noch manchen Nachholbedarf. Ich freue mich über jede neue Initiative und gute Konzeption in diesem Bereich; das Vorhaben, einen Kulturbeauftragten des Rates der EKD zu berufen, wird sich, so hoffe ich, in solche Initiativen einfügen. Denn neue Anstrengungen im Blick auf die kulturelle Gestalt des Christentums sind heute an der Zeit.

Niemals war der christliche Glaube exklusiv an eine einzige kulturelle Gestalt gebunden. Niemals war er eingesperrt in die kulturellen Ausdrucksformen, die ihm von seiner Vergangenheit her mitgegeben waren. Gewiss ist das kulturelle Erbe wichtig, das uns in den Kirchen und durch die Kirchen anvertraut ist. Ich denke exemplarisch an die unzähligen Kirchengebäude in Stadt und Land und die gewaltige Aufgabe, sie als Kulturdenkmäler zu bewahren und sie zugleich mit neuem geistlichem Leben zu erfüllen. Diese Aufgabe ist unserer Generation insbesondere im Bereich der neuen Bundesländer deshalb in besonderem Maß aufgegeben, weil dort die meisten Kirchengebäude nicht nur vier, sondern mehr als sechs Jahrzehnte lang der ideologischen Feindseligkeit und damit auch dem baulichen Verfall preisgegeben waren. Doch Wiederherstellung kann sich gerade in diesem Fall niemals in bloßer Restauration erschöpfen. Deshalb müssen wir uns gleichzeitig um einen lebendigen Dialog mit der Kultur der eigenen Gegenwart bemühen. Wenn ganz bewusst auch der Dialog mit der Musik unserer Zeit gesucht oder das Kirchengebäude für die Präsentation zeitgenössischer Malerei genutzt wird, wenn Gottesdienstformen entwickelt werden, in denen moderne Popmusik ihren Ort hat, dann sind das unterschiedliche Beispiele für die Suche nach zeitgenössischen und zeitgemäßen kulturellen Ausdrucksformen des Glaubens.

VI.
Letztlich - und damit komme ich zum Schluss - sind es in meinen Augen vier Aufgaben, die für eine Kirche mit Zukunft fundamentale Bedeutung haben:

Erstens leben wir in einer Zeit, in der dem Missionsauftrag der Kirchen ein neuer Sinn zuwächst; ihre Überzeugungsarbeit ist gefragt. Aber um solche Überzeugungsarbeit leisten zu können, brauchen die Kirchen und die Menschen, die für den christlichen Glauben einstehen, nicht nur eine neue Auftragsgewissheit, sondern auch die kulturell ansprechende Fähigkeit, über die Tragkraft des Glaubens selbstbewusst Auskunft zu geben. Ganz besonders gilt das auch von den Christen im Alltag des Lebens. Denn der Glaube ist in unserer Gesellschaft weithin privatisiert; die eigene Glaubensbindung wird allenfalls noch bei den Übergangsriten des Jahres- und Lebenslaufs öffentlich wahrnehmbar. Die Kluft zwischen privatisierter Religion und öffentlicher Kirche ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Diese Kluft wieder zu verringern, gehört zu den großen, keineswegs leicht zu lösenden Aufgaben. Glaubenscourage ist nötig, wenn man – ohne Bekehrungspenetranz – auch im öffentlichen Leben, im Beruf oder in den persönlichen Beziehungen sein Christsein erkennbar machen will. In dieser alltäglichen Gegenbewegung gegen die Privatisierung des Glaubens sehe ich eine der wichtigsten Aufgaben bei der Neubestimmung der kulturellen Kompetenz des Christentums.

Ein zweiter Aspekt liegt darin, dass wir die unvermeidliche Kürzungs-, Reduktions- und Einsparungsphase, durch die wir als Kirche gehen, nicht so enden lassen, dass wir uns auf unsere Kerngemeinde und in unsere Kirchenmauern zurückziehen. Um bei einer berühmten Formulierung Schleiermachers anzulehnen: Der Knoten der Spargeschichte sollte nicht so auseinander gehen, dass die Kirche mit dem Sparen und die Kultur mit der Barbarei der Schulden auseinander gehen. Der Anspruch, dass wir als Kirche selbst mit einer geringeren Zahl an Gemeinden und Gemeindegliedern die ganze Kirche Jesu Christi und die Kirche Jesu Christi ganz repräsentieren, hängt nicht an der Zahl der Mitglieder oder an der Höhe des Kirchensteueraufkommens, sondern an unserem Auftrag, die Botschaft von Gottes freier Gnade auszurichten an alles Volk. Gut von Gott zu reden und dem Nächsten Gutes zu tun, diese beiden Grundvollzüge von Kirche bleiben auch dann auf alle Menschen bezogen, wenn die Zahl der Menschen kleiner wird, die diese beiden Grundhandlungen selbst kennen und stellvertretend für andere vollziehen.

Ein dritter Aspekt soll ebenfalls betont werden: Kulturelle Kompetenz und missionarische Öffnung sind die Perspektiven, von denen aus der Weg der Kirchen in der Mitte Europas in den Blick genommen werden muss. Damit wird das Tun des Gerechten nicht zweitrangig. Die Präsenz der Kirche in der Gesellschaft und ihr Handeln zugunsten derer, die nicht für sich selber sprechen können, wird nicht ins zweite Glied gerückt. Immer werde es Menschen geben, die beten, das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten, so hat Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis Adolf Hitlers betont. Das Tun des Gerechten hat er damit eingespannt in einen Bogen, der durch die Haltung des Gebets und durch das Warten auf die Zeit Gottes bestimmt ist.

Diese Haltung kann die Christenheit über die Grenzen der verschiedenen Konfessionen miteinander verbinden. Es ist klar, dass wir von Kirche unter Absehen von ihrem ökumenischen Horizont nicht mehr reden können. Der Ökumenische Kirchentag im Sommer 2003 war in dieser Hinsicht eine ermutigende Erfahrung. Das erreichte Maß ökumenischer Gemeinsamkeit ist ein hohes Gut, das zu bewahren und weiterzuentwickeln wir alle miteinander verpflichtet sind.

Dafür ist vor allem dreierlei erforderlich: Zum einen geht es darum, den gemeinsamen Glauben zu bekennen, wie er in der Heiligen Schrift begründet und in den Bekenntnisüberlieferungen unserer Kirchen bezeugt ist. Sodann geht es um eine Kultur der Anerkennung, in der wir uns in unseren Verschiedenheiten wechselseitig respektieren und auf dem Weg einer versöhnten Vielfalt vorangehen. Schließlich ist es unsere Aufgabe, uns angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen  um gemeinsame Positionen zu bemühen und ihnen Gehör zu verschaffen.

Das Gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von 1997 ist für dieses Bemühen nach wie vor ein herausragendes Beispiel. Die Verantwortung für den Frieden angesichts des Irakkriegs, die Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit unseres Sozialstaats angesichts evidenter Reformnotwendigkeiten und die Verantwortung für das menschliche Leben zwischen Werden und Sterben sind drei Beispiele, die zeigen, wie dringlich das gemeinsame Zeugnis der Kirchen in unserer Gesellschaft ist.

Der vierte und letzte Aspekt heißt so: Unser Beten führt in das Tun des Gerechten; und wo Gerechtigkeit geschieht, ereignet sich ein Vorschein der Zeit Gottes, auf die wir warten. Deshalb ist die Kirche Jesu Christi von Anfang an diakonische Kirche. Heute wird diese Dimension – allein schon wegen ihres gewaltigen institutionellen Ausbaus – besonders stark wahrgenommen. Neugierig auf Kirche sind Menschen in unserer Gesellschaft oft in allererster Linie, weil sie neugierig sind auf helfenden Glauben, weil sie Zutrauen haben zu einer helfenden Kirche. Es ist  sicher einer der größten Aktivposten der Kirche, dass die Chance gegeben war, Caritas und Diakonie so auszubauen, wie es in den letzten Jahrzehnten gelungen ist. Aber zu wünschen ist, dass in Caritas und Diakonie deutlicher zum Leuchten kommt, inwiefern sie eine Ausdrucksform des Glaubens und nicht nur ein Beitrag zum Funktionieren des Sozial- und Wohlfahrtsstaats sind. Zu wünschen ist, dass der Zusammenhang zwischen Diakonie und Seelsorge deutlicher spürbar wird. Zu wünschen ist, dass die Diakonie ihren Ort in der missionarischen Situation der Gegenwart bewusst bejaht.

VII.
Am Ende bin ich wieder beim Anfang angelangt: Eine reformatorische Zeitansage für eine Kirche mit Zukunft hängt daran, dass wir den Grundimpuls der Reformation für unsere Zeit aufnehmen. Durch Konzentration auf das Wesentliche wollen wir das Feuer wieder entfachen, das in der reformatorischen Glut unserer Kirche enthalten ist. Wir wollen die geistliche Substanz wieder frei legen, um die es damals ging und heute geht. Gottes freie Gnade wollen wir verkündigen, damit Menschen ihre Freiheit wahrnehmen und nach ihr leben. In dieser Freiheit können sie Gott Gott sein lassen, weil sie nicht mehr selbst Gott spielen müssen. Sie können menschlich werden und handeln – in Verantwortung vor Gott und den Menschen. Sie können sich beteiligen am Aufbau eines kulturellen Gedächtnisses, das wert schätzt, was uns an Eigenem anvertraut ist, ohne es absolut zu setzen. Sie können eintreten für eine solidarische Gesellschaft, in der die Wahrnehmung des Fremden so wichtig ist wie das Eintreten für die Schwachen und das Fechten für die Lebensrechte derer, die nach uns kommen. Für diese Aufgabe können auch wir die Glaubenscourage in Anspruch nehmen, für die Martin Luther stand und aus der heraus er mit aufrechtem Blick sagte: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.