Die Kirchen als sozialer Dienstleister - Zwischen sozialpolitischem Reformdruck und dem Anspruch christlicher Nächstenliebe

Wolfgang Huber

Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

I.
Ist die Kirche ein sozialer Dienstleister? Ich habe dieses Thema für meinen heutigen Vortrag nicht selbst gewählt. Aber ich halte es für hilfreich, das Handeln der Kirche einmal an einem derart säkularen Kriterium zu messen. Erfüllt die Kirche die Erwartungen, die an sie als einen sozialen Dienstleister gestellt werden? Kann sie diese Erwartungen erfüllen? Was lernt sie dabei von der Wirtschaft? Und gibt es gar Einsichten, die sie an die Wirtschaft weitergeben kann?

Ohne Zweifel haben sich die Bedingungen für das Gespräch über solche Fragen verbessert. Wir sind in dieser Hinsicht weiter als vor zehn oder zwanzig Jahren. Ich bin dankbar dafür, dass dieser Prozess hin zu einem besseren Dialog zwischen Kirche und Wirtschaft in den letzten Jahren beherzt vorangetrieben worden ist. Ich danke Herrn Hundt – der aus zwingenden Gründen nicht mehr unter uns sein kann – herzlich für alle Initiativen, die er in dieser Richtung unternommen hat. Und ich freue mich darüber, dass ich den kirchlichen Part in diesem Dialog heute mit Kardinal Lehmann zusammen wahrnehmen kann. Wir sind in diesem Dialog in gemeinsamer Richtung engagiert, wie unser gemeinsames Wirtschafts- und Sozialwort von 1997 deutlich gemacht hat.

Handelt es sich wirklich um eine Beschreibung von außen, wenn wir – wie der Titel meines Vortrags es ankündigt – die Kirche als „sozialen Dienstleister“ betrachten? Geht es dabei wirklich um eine Zuschreibung, die erst unter den Bedingungen der Moderne möglich geworden ist? Die heute so geläufig gewordene Rede von der „sozialen Dienstleistung“ hat ohne Zweifel einen christlichen Ursprung. Aber kaum jemand erinnert sich an diesen Ursprung, wenn heute von „Dienstleistung“ die Rede ist. Denn damit ist heute erfolgreiches Agieren im dritten Sektor, aber kaum jemals der konkrete Dienst am Nächsten gemeint. Deshalb mag es gut sein, sich an den Ursprung der Vorstellung von der Kirche als sozialem Dienstleister zu erinnern.
 
II.
„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.“

„Der barmherzige Samariter“ - dieses Gleichnis ist nicht nur ein gutes Beispiel für die Prägekraft von Bibel und Christentum in Geschichte und Gegenwart; es ist nach wie vor ein hilfreicher Schlüssel für die Bewertung aktueller Situationen und für den Zugang zu dem richtigen oder zumindest dem besseren unter mehreren sich bietenden Wegen. Und es ist zum Urbild helfender Zuwendung zum Nächsten geworden. Seine Wirkungsgeschichte reicht bis dahin, dass die „unterlassene Hilfeleistung“ zu einem Straftatbestand wurde. Wenn wir die Bereitschaft zur „Dienstleistung“ von Christen und von der Kirche erwarten, dann haben wir – bewusst oder unbewusst – dieses Gleichnis im Sinn.

Doch mit welcher seiner Figuren wollen wir uns identifizieren: mit dem Priester oder dem Leviten, die untätig vorüber gehen, mit dem Samariter, der das Notwendige tut, oder dem Wirt, der sich seine ja nicht unwichtige Hilfe angemessen bezahlen lässt, mit dem, der unter die Räuber fiel, oder den Räubern selbst? Abwegig ist keine von diesen Alternativen. So hat es beispielsweise in den letzten Wochen eine Diskussion darüber gegeben, ob unsere Diakonie nicht allzu sehr zum Wirt geworden sei, der sich seine Dienste bezahlen lässt, und nicht mehr so viel vom Samariter hat, der zur selbstlosen Hilfe bereit ist. Solche selbstlose, Eigenes aufgebende Hilfe bräuchten wir mehr, heißt es dann, wenn die Kultur der Barmherzigkeit in unserer Gesellschaft noch eine Chance haben soll.

III.
Aber sind Wirt und Samariter wirklich die beiden Personen, mit denen wir uns heute am ehesten identifizieren? Manche halten es für eine „deutsche Krankheit“, sich in der Rolle des Überfallenen zu fühlen und in allen anderen erst einmal zumindest potentielle Räuber zu sehen. Dieses Gefühl, beraubt und allein gelassen zu sein, scheint bei vielen die gegenwärtige Diskussionslage zu bestimmen. Das Gefühl, dass der Wärmestrom gesellschaftlicher Solidarität versiegt, breitet sich aus. Vor allem der Staat versagt nach der Einschützung vieler Menschen gegenüber der Aufgabe, eine verlässliche und für sie angemessene Versorgung sicher zu stellen. Mit seinem Rückzug, so heißt der Eindruck, bestimmen Konkurrenzdenken und wirtschaftliches Profitinteresse das Feld. Der Streit um die Sozialreformen ist untergründig ein Streit um die Verantwortungsverteilung zwischen Wirtschaft und Staat. Es erscheint mir als unausweichlich, sich darüber nüchtern klar zu werden: Wenn gegenwärtig die Plausibilität von anstehenden Reformmaßnahmen diskutiert wird, dann geht es hintergründig um die Machtverschiebung zwischen Staat und Wirtschaft. Die Wirtschaft kann – davon bin ich überzeugt – diese Diskussion nur dann bestehen, wenn sie sich auf diese Frage wirklich einlässt. Die Frage richtet sich darauf, ob die Art und Weise, in der wir auf die Erfordernisse der Globalisierung reagieren, mit den Erfordernissen der sozialen Gerechtigkeit vereinbar ist oder nicht.

Aber auch das sei in aller Deutlichkeit hinzugefügt: Wenn man soziale Gerechtigkeit als Leitprinzip bewahren will, darf man nicht jedes und alles unter diesen Begriff subsumieren. Wenn man den Sozialstaat zukunftsfähig erhalten will, muss man sich davor hüten, ihn systematisch zu überfordern. Weder soziale Gerechtigkeit noch Sozialstaat sind Leitbegriffe für ein pures Besitzstandsdenken. Aber in ihnen drückt sich die Vorstellung von einem politischen Gemeinwesen aus, das einmal auf die kurze Formel gebracht wurde: Die Stärke des Staates bemisst sich am Wohl der Schwachen. Wir dürfen unseren Blick nicht von denen abwenden, die am Straßenrand liegen. Die notwendige Leistungsorientierung darf die ebenso notwendige soziale Sensibilität nicht verkümmern lassen.

IV.
Den Sozialstaat zu erhalten, ohne ihn zu überfordern, darin scheint mir die eigentliche Herausforderung zu bestehen; darin liegt die zentrale Spannung, wie sie im Vortragstitel formuliert ist: „Zwischen sozialpolitischem Reformdruck und dem Anspruch christlicher Nächstenliebe“. Das ist keine Spannung, die allein die Kirchen betrifft. Sondern es ist die Spannung, in die sich unsere Gesellschaft insgesamt befindet. Der „Reformdruck“ steht dabei für alle Maßnahmen, die den Sozialstaat zukunftsfähig erhalten sollen. „Nächstenliebe“ steht für das Grundbedürfnis der Menschen nach Anerkennung. An welchem Punkt der Entlastung von gewachsenen und weiter wachsenden Anforderungen nun schlägt die Reform in einen Angriff auf den Sozialstaat als solchen um? Muss nicht, wer morgen sicher leben will, heute für Veränderungen kämpfen? Was muss getan werden, um auch für zukünftige Generationen ein Leben in Solidarität und Gerechtigkeit möglich zu machen?

Viele Menschen bezweifeln, dass die Belastungen im anstehenden Reformprozess gerecht verteilt sind. Es gibt berechtigte Sorgen über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Ost- und Westdeutschen, und es gibt Glaubwürdigkeitslücken, deretwegen die Proteste der letzten Monate nachvollziehbar sind. Dazu gehört auch, dass die aktuellen Einschnitte mit steuerpolitischen Maßnahmen zusammentreffen, die Wohlhabende günstiger stellen als Menschen mit geringeren Einkünften und zugleich die Einnahmenseite der öffentlichen Haushalte weiter verschlechtern. Die von den damit in Zusammenhang stehenden Kürzungen auf der Ausgabenseite Betroffenen sehen darin ein elementares Gerechtigkeitsproblem. Man sollte diesen Einwand nicht leicht nehmen. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe bei einer gleichzeitigen Senkung des Spitzensteuersatzes, und, wichtiger noch: bei gleichzeitiger Beibehaltung aller Ausnahmetatbestände und Steuerschlupflöcher, die dazu führen, dass heute kaum noch ein Spitzenverdiener den Spitzensteuersatz zahlt, lässt die Schere zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft weiter auseinander klaffen.

Zu einem realistischen Bild der sozialen Lage in Deutschland gehört auch die folgende Feststellung: Ganz unabhängig von der bevorstehenden Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe ist seit dem Jahr 2000 die Zahl der Sozialhilfeempfänger in Deutschland gestiegen. Zugleich wächst die Zahl der Hilfsbedürftigen, die auch in diesem Netz noch nicht zureichend aufgefangen werden. In 380 deutschen Städten gibt es inzwischen Einrichtungen von der Art der Berliner Tafel, der Pankower Suppenküche der Franziskaner oder der Obdachlosenhilfe der Berliner Stadtmission; Tag für Tag versorgen sie eine halbe Million Menschen in Not mit Lebensmitteln. Immer häufiger stehen an diesen Orten Menschen an, die jäh aus einer bürgerlichen Existenz abgestürzt sind.

Wir brauchen einen klaren und nüchternen Blick auf diese Situation, die natürlich mit der Höhe und dem Umfang von Sozialhilfe und anderer Transferleistungen zu tun hat, mehr aber noch mit komplexen sozialpsychologischen Zuständen zusammenhängt, die ganzheitliche Hilfsansätze erfordern. Wer es in Deutschland geschafft hat, einen Antrag auf Arbeitslosengeld II oder auf Sozialhilfe vollständig und zutreffend auszufüllen und dann auch noch alle ihm zustehenden Leistungen pünktlich zu erhalten, befindet sich nicht mehr auf der untersten Stufe der Armut. Dort leben Menschen, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht in der Lage sind, ihre Rechte selbständig, vollständig und erfolgreich wahrzunehmen. Mit Blick auf diese Personen, diese Mitbürgerinnen und Mitbürger, treten wir mit Nachdruck für den Erhalt und den Ausbau psychosozialer, diese Menschen erreichender Beratungen und Hilfen ein.
Dies war einer der Gründe dafür, dass ich mich vor zwei Wochen in einer Grundsatzrede nachdrücklich für eine Ausrichtung der zweifellos notwendigen und noch vor uns liegenden Reformen an der konkreten Lebenssituation der Menschen ausgesprochen habe. Die Reform ist um der Menschen willen da, nicht die Menschen um der Reform willen. Es ist deshalb ebenso verkehrt, eine Reform an den Menschen vorbei durchzusetzen, wie es verkehrt ist, die um der Menschen notwendige Reform gar nicht anzugehen. Es geht um eine transparente Reform, die von den Betroffenen mitvollzogen werden kann. Eine Reform um der Menschen willen hat dabei nicht nur die jetzigen Empfänger von Sozialtransfers im Blick und auch nicht nur die heute im Erwerbsleben Aktiven, sondern sie ist an allen Menschen, an den Lebenden wie an den Angehörigen der nächsten Generation, ausgerichtet. Und weil das Leben der Menschen und gesellschaftliche Entwicklungen nur in Grenzen vorhersehbar sind, muss eine solche Reform eine atmende Reform sein, eine, die auf neue Entwicklungen, aber auch auf die Erkenntnis von Fehlern reagieren kann.

Beteiligung und Befähigung sind bestimmende Kategorien von sozialer Gerechtigkeit. Risikoabsicherungen und Kompensationen für Notlagen treten dem ergänzend zur Seite; aber sie bilden nicht das Zentrum. Familienpolitik und Bildungspolitik werden vielmehr zu Kernthemen einer zukunftsorientierten und zukunftsfähigen Sozialpolitik. Sie stehen im Zentrum einer Reformpolitik, die diesem Namen gerecht wird.

Dafür aber kann man nicht nur auf den Staat schauen. Als einzelne wie als Institutionen müssen wir uns in diese Richtung bewegen und zur Verantwortung bereit sein. Dann können wir uns auch weiterhin zu der Leitidee bekennen, für die im Wirschafts- und Sozialwort der Kirchen von 1997 die Formel gefunden wurde: „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“.

V.
Die Kirche steht als ethische Mahnerin und mit ihrer Diakonie als sozialer Dienstleister in der Mitte dieser Entwicklung und in der Mitte dieser Diskussion. Im täglichen Alltagsgeschäft treten dabei hier und da natürlich Spannungen auf. Bewohner eines evangelischen Altenheims sind nicht glücklich über eine offene Drogenarbeit in ihrer Nachbarschaft; große Träger stöhnen unter den von ihnen als Last empfundenen Regelungen des BAT. In der Gesamtheit ergibt sich aus dieser Vielfältigkeit des christlichen Engagements im Rahmen unserer Kirche aber gerade ein Blick, der deutlich macht, dass eine realistische Sicht der Notwendigkeit sozialpolitischer Reformen keineswegs im Widerspruch steht zum Anspruch christlicher Nächstenliebe. Als Kirche und Diakonie bekennen wir uns dazu, sozialer Dienstleister zu sein; deshalb sehen wir, dass schon das jetzige System gewaltige Ungerechtigkeiten mit sich bringt, dass nicht jeder Empfänger von Transferleistungen alleine deswegen als arm zu gelten hat und dass auch nicht jeder, der Steuern und Sozialabgaben zu zahlen hat, schon dadurch zu den wirklich Leistungsfähigen gehört. Am deutlichsten wird dies bei den Familien, die nach wir vor über Gebühr belastet sind und in einem Maße die notwendige staatliche Entlastung, etwa im Bereich der Kinderbetreuung, vermissen, das viele junge Paare dazu veranlasst, sich ihren Kinderwunsch nicht zu erfüllen.

Soweit es also um den sozialpolitischen Reformdruck in unserer Gesellschaft geht, gibt es für die Kirche in ihrer Gesamtheit, aber gerade auch in ihrer Rolle als sozialer Dienstleister keine Spannung zu ihrem Anspruch, den Wert der christlichen Nächstenliebe wachzuhalten. Dieser Wert, den wir in der politischen Diskussion meist mit "Solidarität" bezeichnen, gehört zu denjenigen Grundlagen unserer Gesellschaft, die sich unmittelbar aus dem christlichen Glauben ergeben und konkret: aus der Überzeugung ableiten, dass alle Menschen gleichermaßen zu Gottes Ebenbild geschaffen sind. Dieser Grundwert der Solidarität ist daher - ebenso wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter - ein gutes Beispiel dafür, wie prägend die Bibel, der christliche Glaube und die Tradition der Kirche für unsere Gesellschaft sind.

Um dies - wie vieles andere - zu verstehen, braucht man etwas Wissen über die Geschichten der Bibel, über die Inhalte der christlichen Religion. Der Umgang mit diesem Wissen ist heute umstritten; dass es zur allgemeinen Bildung gehört, ist nicht mehr selbstverständlich. Manche meinen sogar, es sei nicht einmal zu verantworten, dieses Wissen an die eigenen Kinder weiterzugeben, weil eine Einführung in die Überlieferungen des christlichen Glaubens sie in ihrer freien Entscheidung diesem Glauben gegenüber und somit in ihrem freien Willen einschränken würde. Schränkt es sie wirklich weniger ein, wenn ihnen die Möglichkeit vorenthalten wird, die christliche Überlieferung zu verstehen? Ist es eine Einschränkung, wenn ich meinen Kindern Deutsch beibringe, obwohl ich weiß, dass es unendlich viele andere Sprachen gibt, die natürlich ethisch absolut gleichrangig sind? Oder eröffnet die Einführung in diese eine Tradition den Kindern nicht gerade erst die Möglichkeit, auch die anderen Traditionen kennen zu lernen und eine verantwortliche eigene Entscheidung zu treffen?

Am Beispiel des Sonntags erläutere ich, was ich meine. Gerade die Menschen, die - aus welchen Gründen auch immer - gezwungen sind, auch sonntags zu arbeiten, wissen, dass der Rhythmus der Sieben-Tage-Woche, der Wechsel von Arbeit und Ruhe, die gemeinsame freie Zeit für Gottesdienst und soziale Aktivitäten ein hohes Gut darstellen. Gerade wer am Sonntag notwendiger Arbeit nicht ausweichen kann – ich spreche auch aus eigener Erfahrung – , wird den Schutz des Sonntags auf besondere Weise hochhalten wollen. Heute aber wird unter Verweis auf vermeintliche Erfordernisse der Globalisierung dagegen der Schutz des Sonntags immer stärker zur Disposition gestellt. Ohne Sonntag gibt es aber nur noch Werktage – wie wir als evangelische Kirche vor wenigen Jahren in einer öffentlichen Kampagne gesagt haben. Es ging uns dabei um die Bewahrung einer wichtigen sozialen Institution, um die kulturelle Qualität des Zusammenlebens, um den Raum für die Freiheit der Religion. Es ging und es geht uns weiterhin um Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit.

Noch unter einem anderen Gesichtspunkt aber hat es die Zukunft unserer Gesellschaft, der soziale Zusammenhalt, der Frieden in unserem Land und in unserer Welt nicht bloß mit Zahlen zu tun. Ganz offenkundig beschäftigt uns auch die Frage nach kultureller Identität und Kontinuität in die Zukunft hinein. Ich merke das derzeit sehr intensiv an der großen Reizbarkeit, mit der die Frage nach der Stellung des Islam in unserer Gesellschaft und nach der Integration der großen muslimischen Minderheit in unserem Land diskutiert wird. Auch diejenigen, die selbst ohne religiöse Bindung leben, reden in diesem Zusammenhang neu über die christliche Prägung Deutschlands und Europas. Die Besorgnis erregende und inakzeptable Verknüpfung zwischen terroristischen Gewalttaten und muslimischem Glauben gibt dieser Diskussion eine ganz unausweichliche Zuspitzung. Diese Diskussion muss geführt werden; und von Sprechern des Islam muss endlich eine wirklich überzeugende Abgrenzung von allen religiösen Rechtfertigungen des islamistischen Terrors erwartet werden. Aber beim Nachdenken über die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft geht es offenbar um mehr: Wir müssen ein bewusstes Ja zur eigenen Identität und zur eigenen Zukunft mit der Bereitschaft verbinden, Fremdes zu verstehen und Fremde im Maß des Möglichen in unsere Gesellschaft zu integrieren. Beides gehört auf Dauer unumgänglich zusammen.

Ich sage also noch einmal: Insofern es um den sozialpolitischen Reformdruck in unserer Gesellschaft geht, gibt es für die Kirche in ihrer Gesamtheit, aber gerade auch in ihrer Rolle als sozialer Dienstleister keine Spannung zu ihrem Anspruch, den Wert der christlichen Nächstenliebe wachzuhalten. Insofern es aber um den auch sozialpolitisch bedingten Reformdruck auf die Einzelheiten unseres Sozialstaates geht, trifft dieser Reformdruck - ich sage ganz deutlich: in seinen positiven wie in seinen negativen Elementen - auch die Kirchen mit Diakonie und Caritas in ihren gewachsenen Strukturen. Nicht alles davon wird zukunftsfähig sein, und die Frage nach dem Leitbild zwischen Samariter und Wirt, die ich eingangs gestellt habe, muss uns zu Recht beschäftigen. Wir befinden uns in einem durchaus noch offenen Diskussionsprozess, bei dem der Erhalt einer Einrichtung oder einer Struktur aus ethischer Sicht nicht der entscheidende Wert sein kann, andererseits aber auch ein Abbruch aller, oft ja aus Erfahrung gewonnener Traditionen genauso wenig automatisch weiterführend ist. Ich verweise an dieser Stelle gerne darauf, dass sich ja auch die Kirche in ihrem diakonischen Bereich in Arbeitgeberverbänden oder jedenfalls sehr analogen Strukturen organisiert hat. Die auf dieser Grundlage zu bearbeitenden Fragen sind im Detail gar nicht so anders sind als viele Fragen, denen sich Unternehmen in dynamischen Branchen gegenübersehen. Festzuhalten ist aus meiner Sicht aber, dass wir auch zukünftig Strukturen solidarischer Hilfe brauchen. Wir als Kirche sind nachdrücklich dazu bereit, uns weiterhin in diesem Bereich zu engagieren - sowohl als Dienstleister mit unseren eigenen unternehmerischen Interessen als auch in unserem unverzichtbaren Engagement als Anwalt der Schwachen und Armen mit dem Interesse der Veränderung. Dabei wird es stets darum gehen, mit dem Anspruch christlicher Nächstenliebe für eine nachhaltige sozialpolitische Reform einzutreten.