Ansprache zum Konzert für "Brot für die Welt" mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

Wolfgang Huber

Wie es ist, wenn Wasser strömt, haben wir gerade gehört – in Felix Mendelssohn-Bartholdys eindrucksvoller Musik, eindrücklich dargeboten. Wie es ist, wenn das Recht wie Wasser strömt, fragen wir mit dem Leitwort für dieses Konzert.

Dieses Leitwort stammt von dem Propheten Amos. Bei ihm steht es in einem Zusammenhang eigener Art, in einem Zusammenhang von eigener Härte: „Hasset das Böse und liebet das Gute, richtet das Recht auf im Tor“ – so fängt der entsprechende Abschnitt an, der auf die Aufforderung zuläuft: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“

Unser tägliches Wasser gib uns heute!
... und auch morgen und übermorgen,
nicht nur denen, die an der Quelle sitzen,
nicht nur denen, die die Wasserrechnung bezahlen können,
nicht nur denen, die wissen, wo die Vorräte liegen,
nicht nur denen, die Ressourcen steuern können,

auch denen, die auf dem Trockenen sitzen,
auch denen, die nie Regen gesehen haben,
auch denen, denen man den Hahn zugedreht hat,
auch denen, denen die Zunge am Gaumen klebt,
denen Brot und Wasser mangelt,
die weder Sekt noch Selters kennen,
auch denen, die Kilometer laufen müssen
für einen Eimer Wasser,
"Wen dürstet, der komme;
und wer da will,
der nehme das Wasser des Lebens umsonst." (Offb. 22, 17)

„Pro Elbe“ – so heißt eine Initiative, die gerade mit einem Umweltpreis ausgezeichnet wurde. In Magdeburg hat sie ihren Ort. Ich habe die letzte Woche in Magdeburg zugebracht und die Elbe betrachtet, den letzten großen Fluss in Deutschland, der noch nicht vollständig der Begradigung und Reglementierung unterworfen ist. Hier, wo in Erinnerung ist, welche Folgen es hat, wenn wir Flüsse begradigen und weite Landstriche versiegeln, ist bewusst, dass strömendes Wasser auch zur Gefahr werden kann. In diesem Land, in dem wir noch immer mit kostbarem Trinkwasser Autos putzen, fangen wir erst an, ein neues Verhältnis  zum Wasser entwickeln, das doch ein kostbares Lebensmittel ist, von vielen Menschen auf diesem Globus schmerzlich entbehrt. Vor allem auch Kindern fehlt sauberes Wasser an vielen Stellen, was sie von Anfang an in Durst und Hunger aufwachsen lässt. Allmählich erst spüren wir, warum der nie versiegende Bach für viele Menschen ein zentrales Problem der Gerechtigkeit ist: Unser tägliches Wasser gib uns heute – Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Auch deshalb heute am Anfang: Wassermusik.
Das Recht ströme wie Wasser -
es fließe reichlich wie ein Meer von Tönen,
alles benetzend mit Klang,
alles durchtränkend mit Widerhall,
sprudelnd von komplexen Harmonien,
gleichmäßig wie ein schreitendes Menuett;
tragend wie ein Ostinato,
es perle wie Läufe auf den Tasten,
es walle wie Wellen von Triolen,
es rausche wie Kaskaden von Arpeggien,
wie eine Landschaft von Sequenzen
in Terzen, Sexten und Dezimen,
es springe davon in Staccato und Rubato,
es tanze wie ein Rondo,
es spüle hinweg wie mitreißende Arien,
es bewege wie schwingende Bluenotes,
es betöre das Ohr mit lieblichen Melodien.
Wassermusik.

Das Recht ströme wie Wasser. Das ist alles andere als ein romantischer Appell. Dass wir uns diesem Gedanken mit den Mitteln der Musik annähern, ändert nichts daran, dass um Recht und Gerechtigkeit gestritten werden muss. Das grundlegende Recht eines Menschen besteht darin, Rechte zu haben. So hat die große Philosophin Hannah Arendt gesagt. Als Jüdin wurde sie aus Deutschland vertrieben. Sie erlebte, was es heißt, in einem fremden Land neu anzufangen, und sich jedes Recht von neuem erwerben zu müssen. Sie sprach aus Erfahrung, als sie sagte: Grundlegend ist für jeden Menschen das „Recht, Rechte zu haben“. Viele müssen sich dieses Recht nicht erst erwerben, wenn sie in ein fremdes Land kommen – wie bei uns im Lande die Menschen mit Kettenduldungen, die auch dann noch nicht klarer in die Zukunft schauen können, wenn am 1. Januar des nächsten Jahres das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft tritt. In die Heimat können sie nicht zurück, die doch für ihre hier geborenen Kinder noch nie Heimat war. Hier bleiben sie nur auf ungewisse Zeit; die Duldung, die ihnen gewährt ist, kann ihnen auch entzogen werden. Was für sie gilt, gilt auf andere Weise für Menschen in der Dritten Welt, die am Rand stehen, ausgegrenzt sind, ohne Arbeit und ohne Möglichkeit, ihre eigenen Kräfte einzubringen zum Aufbau des eigenen Lebens und des eigenen Landes.

An den einen wie an den anderen kann man sehen, was damit gemeint ist: mit einem Recht, das strömt wie Wasser, mit der Gerechtigkeit, die einem nie versiegenden Bach gleicht. Dieses Recht erfahren sie erst, wenn sie sich einbringen können; Gerechtigkeit ist für sie vor allem das Recht zur Beteiligung. Wenn wir für alle Menschen in dieser einen Welt ein selbstbestimmtes Leben erhoffen, dann erfordert dies zweierlei zugleich: eine wirtschaftliche Entwicklung, von der sie alle profitieren können, und deshalb zugleich die Bändigung der wirtschaftlichen Kräfte im Geist der Gerechtigkeit.  Gegenwärtig erleben wir, wie das Gefüge einer sozial gebändigten Marktwirtschaft dadurch erschüttert wird, dass die globale Marktwirtschaft sozial überhaupt nicht gebunden und politisch überhaupt nicht geordnet ist. Für die Beteiligungschancen der Menschen ist das eine große Gefahr. Die Frage, wie das Modell einer sozialen Marktwirtschaft auf die globale Ebene übertragen werden kann, ist deshalb eine Schlüsselfrage unserer Zeit. Denn ethisch erträglich wird die Globalisierung nur dann, wenn sie politisch mit den Maßstäben von Gerechtigkeit und Solidarität verträglich gemacht wird. Davon sind wir derzeit weit entfernt. Wir brauchen eine Globalisierung der Solidarität.

Das Recht -
oft gebrochen, missachtet, verbogen, gebeugt,
unterentwickelt, zurückgehalten, ignoriert,
benutzt, missbraucht, verunstaltet,
überwältigt durch Ignoranz, Machtsucht,
Interessen, Gier nach Reichtum,
aus Verzweiflung und Demütigung,

hilflos zusehend,
wo Gerechtigkeit mit Füßen getreten wird,
wo Machtstreben den Schwachen das Leben nimmt,
wo Willkür sich ausbreitet
wie Wasser aus einer lecken Leitung,
wo Anarchie und Chaos vorherrschen
und Gemetzel und Krieg lauern.

Es ströme Recht wie Wasser!
alles benetzend wie ein Landregen,
durchtränkend alles Lebendige,
gereinigt vom Missbrauch,
getauft mit dem Geist der Gerechtigkeit;
das Recht als Rhythmus des Lebens,
als ordnende Harmonie,
als Grundton der Menschlichkeit,
als Zusammenspiel der Verschiedenen,
als Ausgleich zwischen Ungleichen,
als Melodie des Friedens.

Und darum: Musik für das Recht.
Es ströme wie Wasser.